In der Seniorenresidenz Königsblick waren die Zimmer und die Gänge wie ausgestorben. Bis auf einen Pfleger traf Elling niemanden an.
»Wo sind die alle?«
Der junge Mann tippte auf seine Armbanduhr: »Jetzt läuft das Traumschiff.«
Elling schaute kurz in den Fernsehraum – aber Erika war nicht da. Die Alten saßen dort und starrten auf den großen Fernseher an der Stirnseite, auf dem das Kreuzfahrtschiff wieder in einen idyllischen Hafen einlief und irgendeine dramatische Familiengeschichte ihren Lauf nahm.
In dem Zimmer, das seine Mutter sich mit Frau Riehl teilte, einer älteren Dame, die früher für das Feuilleton des Rostocker Tageblatts gearbeitet hatte und die im Verlieren ihres Verstandes knapp vor seiner Mutter lag, traf er sie auch nicht an. Aber Frau Riehl.
Die Luft war stickig. Elling stellte ein Fenster auf Kippe. Der Raum sah aus, als hätte jemand in der Mitte einen Spiegel platziert. Eine Seite entsprach exakt der anderen: Bett, Nachttisch, Kommode, Schrank, ein Stuhl für Besucher. Nur das Bad, das gab es nur einmal.
Diese Kategorie firmierte unter DZ
Standard.
Im DZ
Standard wurden zwei Wildfremde zusammengepfercht, deren Rente zu niedrig war und die nicht genug vorgesorgt hatten oder deren Verwandtschaft nicht mehr als zwölfhundert Euro im Monat für die Unterbringung ihrer Angehörigen aufbringen konnte.
Seine Mutter saß draußen auf der Terrasse über ein Kreuzworträtsel gebeugt
.
Elling entdeckte ihr gelbes Lieblingskissen auf dem Bett und zog den Reißverschluss auf, um dann den Blick zu bemerken, den Frau Riehl auf ihn warf.
»Ich schüttel das Kissen aus«, erwiderte Elling und deutete in ihren Rücken: »Da sind ja Elefanten.«
Frau Riehl drehte sich interessiert um. Elling nahm das Geld aus dem Verbandskasten und stopfte es möglichst gleichmäßig in das Lieblingskissen seiner Mutter.
»Wo denn?«, fragte Frau Riehl, sie starrte angestrengt in den Park.
»Na, hinter den Bäumen, Frau Riehl, Sie müssen schon genau gucken. Sie können nicht erwarten, dass die sich hier in Reih und Glied aufstellen.«
Die alte Dame beugte sich wieder vor, ihre Augen wurden zu angestrengten Schlitzen. »Ich seh nichts«, sagte sie.
Elling war fertig, er schloss den Reißverschluss wieder und legte das Kissen zurück aufs Bett. »Verpasst«, sagte er, »jetzt sind sie weiter.«
Bei dem Gedanken daran, dass es erste Heime gab, die privatisiert wurden, wurde Elling übel. Glaubte wirklich irgendjemand, der noch alle beisammen hatte, das würde sich positiv auf die Bewohner auswirken? Auf die Ausstattung? Die Zimmer? Die Bezahlung der Pflegekräfte?
Wie immer wurden die Schwächsten ausgesaugt, die Wehrlosen.
Wenn es nach Elling ging, würde jede Pflegekraft 10000 Euro im Monat bekommen. Netto. Und Kriminalkommissare nicht unter 6000.
Aber zufällig war er nicht König von Deutschland (lang lebe Rio Reiser) und trat hinaus zu seiner Mutter. Er setzte sich zu ihr an den Tisch. Kurz blickte sie auf.
»Junge, wo warst du denn?«
»Nur kurz zur Toilette.«
»Ach so.
«
Sie wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu, und Elling zündete sich eine an. Da erstarrte er noch im Ablegen des Feuerzeugs wegen eines Mannes, der aussah, als sei er vom SEK
. Elling legte die Finger auf den Knauf seiner Dienstwaffe und sah nach oben – seilte sich schon jemand ab? Nein. Er lauschte: Kamen sie mit dem großen Besteck, mit einem Hubschrauber? Ebenfalls negativ.
Der Mann stülpte sich einen Helm über den Kopf, stieg auf seine Vespa und fuhr davon.
Elling entspannte sich.
Er war nicht geschaffen für ein Leben auf der Flucht, er war jetzt schon mit den Nerven zu Fuß. Elling atmete tief durch: »Na, welches Wort fehlt denn?«
»Große schwarze Raubkatze … mit«, Erika zählte, »fünf, sechs, sieben Buchstaben.«
»P-a-n-t-h-e-r«, sagte Elling gedehnt.
Erika öffnete vor Überraschung den Mund. Nicht vor Überraschung über die Antwort, sondern über das, was sich daraus ergab, über die Worte, die sie plötzlich irgendwo in einem Hinterstübchen ihres Kopfes fand – und wiedergab: »Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / Sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, / Geht durch der Glieder angespannte Stille – / Und hört im Herzen auf zu sein.«
Er sah seine Mutter an wie einen Geist. Als sei sie von den Toten auferstanden: »Das war ganz wunderschön.«
Elling wollte noch etwas hinzufügen, spürte aber, wie seine Stimme brüchig wurde, und schwieg deshalb.
»Guten Abend, Herr Doktor.«
»Was?«, fragte er verdutzt.
»Guten Abend, Frau Elling«, sagte jemand hinter ihm. Elling wandte sich um – Dr. Westermann, ihr Hausarzt.
Sie schlenderten durch die kleine Anlage. Westermann kramte in seinem viel zu weiten Leinenjackett herum. Elling hatte die Sorge, er könne eines Tages spurlos darin verschwinden
.
Dann hatte der Arzt gefunden, wonach er suchte, und hielt Elling eine kleine weiße Pille hin, die der entgegennahm.
»Was ist das?«
»Das ist IZ
2306. Es ist eine Art reversive Memantin-Variante.«
»Was heißt das?«
»Es ist einigen Forschern gelungen, den Zerfallsprozess einzufrieren … IZ
2306 kann … ganz vielleicht … sehr, sehr möglicherweise … den Prozess umkehren, es kann Nervenzellen reparieren. Es wurde erfolgreich bei Ratten und Affen getestet. Was ich im Koffer habe, ist die Betaphase. Ich gebe es deiner Mutter seit ziemlich genau vier Wochen.«
Elling war überrascht und fühlte sich übergangen. Seit einiger Zeit war er der Alleinverantwortliche für seine Mutter. Man hätte ihr drei Kilo Arsen in die Erdbeertorte mixen können, sie hätte es mit Begeisterung gegessen.
»Das, ähm, … hättest du das nicht besprechen sollen mit mir?«
Westermann nickte. Seufzte, blieb stehen und schüttelte den Kopf: »Ja, nein, wie man’s macht, ist es verkehrt. Also: IZ
2306 hat keine nennenswerten Nebenwirkungen. Ich wollte dir keine Hoffnungen machen, bevor es anschlägt, Frank. Eine Hoffnung zu schüren und sie dann wieder zu nehmen ist viel belastender, als hätte man sie nie geweckt. Deshalb habe ich es deiner Mutter gegeben, ohne es mit dir abzusprechen. Verzeih, bitte. Ich wollte wissen, ob es wirkt.«
Elling blickte für einen Moment zu Boden. Und ihm dann in die Augen: »Es war nicht in Ordnung.«
»Ich musste abwägen, Elling.«
»Es war nicht in Ordnung.«
Der Arzt seufzte leise: »Ja … vermutlich war es das nicht.«
Elling nickte und brummte etwas, von dem er selbst nicht genau wusste, was es heißen sollte. Außer Zustimmung zu signalisieren.
»Daher das Rilke-Gedicht?«
»Ich nehme es an, ja.«
»Also wirkt es?«
Westermann stand sehr nah vor ihm, er roch dezent nach einem herben Aftershave
.
»Es sieht ganz danach aus, ja.«
Elling starrte ihn verblüfft an, weil Westermann so ruhig blieb: »Weißt du, was das heißt?«
»Ja. Noch nichts, Elling. Es heißt noch nichts. Es ist in der Erprobung.
«
»Aber es wirkt.«
»Es sieht so aus, ja. Erika macht Fortschritte.«
Frank Elling drehte sich weg. Das mischte die Karten neu. Komplett neu. Und warf ein paar Dutzend Fragen auf, die jetzt auf ihn einstürmten. »Gewinnt sie alles zurück? Alle Erinnerungen?«
Westermann seufzte: »Das menschliche Gehirn ist größtenteils immer noch Terra incognita, Elling. IZ
2306 ist mitten in der Erprobung. Ausgang ungewiss. Vielleicht lässt es Erinnerungen nur ganz kurz wieder aufleben. Vielleicht für länger. Ich … ich kann dir nichts versprechen. Im Augenblick hilft’s. Ich persönlich wär’ schon zufrieden, wenn es das Vergessen stoppen würde.«
Westermann hatte noch nie was beschönigt, unter anderem dafür schätzte Elling ihn.
»Und … bekommt man das auf Rezept?«
Westermann schüttelte den Kopf: »Nein. Wie gesagt: IZ
2306 befindet sich in der Betaphase und muss für eine Freigabe noch Testreihen durchlaufen. Ich hab’s vom Hersteller.«
»Roche? Bayer?«
»Wilmer … Was deine Mutter betrifft, brechen wir hier ab, wenn es dir lieber ist …«
»Es war nicht so gemeint«, antwortete Elling, wiegte dann aber den Kopf zu beiden Seiten, »na ja, eigentlich schon … aber auch nicht … Ich … ich bin ja dankbar.«
»Ich versteh dich.«
Elling kaute selbstvergessen auf seiner Unterlippe, als er sich zur Terrasse umwandte. Zu seiner Mutter, die immer noch über dem Rätsel hing. Und vielleicht gerade Schatzkammern voller Wörter in ihrem Kopf wiederentdeckte. »Nein«, entschied er dann, »nein, du hast das Richtige getan. Es tut sich was. Ich merk’s ja. Es schlägt an, dieses IZ
und so weiter.
«
»IZ
2306 … Elling«, Westermanns Stimme wurde sanft, er legte ihm die Hand auf den Unterarm, »Anschlagen heißt: leichte Verbesserung.
Keine Wunderheilung. Das muss dir bitte klar sein, Elling … keine falsche Hoffnung. Es kann jederzeit wieder in die andere Richtung gehen.«
Seine Mutter hob den Blick, als er alleine wieder an den Tisch trat. Sie erkannte ihn. Denn nach dem warmherzigen Lächeln kam umgehend ein Tadel: »Hast du wieder deinen Schal vergessen?«
»Mama, wir haben Sommer.«
Erika sah sich um, sie wirkte verblüfft. Als sei sie in einer anderen Jahreszeit eingeschlafen und nun mitten im Sommer wieder aufgewacht. »Das stimmt. Ich hab manchmal komische Gedanken, Junge.«
Man hörte ihre Sorge um sich selbst heraus. Als wisse sie nicht, ob sie als einzige Normale in einem Haus voller Irrer steckte oder selbst langsam den Grund unter den Füßen verlor.
»Der weiche Gang …«, sagte Elling leise.
Und schon veränderte sich Erikas Gesichtsausdruck, sie packte eine Erinnerung, ganz fest, und das gab ihr Sicherheit: »Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, / Der sich im allerkleinsten Kreise dreht, / ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht.«