Letztlich hatte die Neugier gesiegt. Oder die Ungewissheit zu sehr genagt. Irgendwo dazwischen. Wer weiß so etwas später schon noch genau?
Die Dinge fügten sich auf wirklich ironische Weise, und das lag am Ort der Zusammenkunft, dem Neptun.
Ein knapp über 60 Meter hoher weißer Betonklotz, mit dessen Errichtung 1971 ein Wohnungsbaukombinat die Küste in Rostock-Warnemünde verschandelt hatte. Zu DDR
-Zeiten wurden hier gerne Gäste aus dem Westen untergebracht, die Liste reichte von Willy Brandt bis Udo Lindenberg.
Der Direktor, heute noch im Dienst, hatte wie andere Hotelangestellte des Neptuns als IM
der Stasi zugearbeitet. Und auch dass hier damals alles abgehört wurde, war allgemein bekannt. Deswegen trug es auch den Beinamen Hotel der Spione.
An diesem lauen Sommerabend jedenfalls ließ Susanne Elling sich vor dem Hotel von einem Taxi absetzen und betrat das Foyer. Sie trug ein zeitloses Kostüm, schlicht und elegant. Elling nannte es das Audrey-Hepburn-Kostüm.
»Hepburn – du spinnst ja, Elling«, sagte Susanne dann, aber an ihrem Lächeln las er ihre Freude über sein Kompliment ab. Und es sah wirklich gut aus. Es verbarg und betonte die richtigen Stellen. So, wie es sich um den Hintern seiner Frau schmiegte, nicht anstößig, sondern von einer frivolen Eleganz, wäre Elling ihr am liebsten gefolgt. Wobei die Frivolität sich ausschließlich in seinem Kopf abspielte.
Er folgte ihr nicht. Elling setzte sich – auch das passte zum Neptun – mit einer Tageszeitung auf eine Bank neben dem Eingang und faltete sie auseinander. Der Beobachter und die Zeitung
waren so ein globales Klischee, dass es mittlerweile schon wieder unauffällig war, sich damit zu tarnen.
Jedenfalls ermöglichte ihm das Rostocker Tageblatt einen freien Blick ins große Foyer. Und auf eine der Reporterinnen des Blattes, die kurz mit der Dame von der Rezeption sprach und eine Auskunft erhielt.
Susanne ging zu den Fahrstühlen, von denen gerade einer das Erdgeschoss erreichte. Ein Mann stieg aus und Susanne ein.
Die Tür schloss sich. Ellings Blick klebte an der Anzeige der Stockwerke über dem Eingang zum Lift. In der sechsten Etage hielt er.
»Darf’s für Sie was sein?«
Elling zuckte zusammen. Eine Kellnerin stand vor ihm.
»Man kann hier was trinken?«
»Ja«, sagte sie freundlich und lächelte entwaffnend.
»Ich nehm ein Pils, bitte.«
Die junge Frau nickte und verschwand im Hotel.
Ein weiteres Taxi hielt. Dann stieg ein Mann im Anzug aus, der es eilig hatte. Er trug eine Sonnenbrille. Es war Philipp Benedikt. Er hatte stets gut durchblutete Wangen und wirkte durch seine Pausbacken wie ein großer Schuljunge. Elling verfolgte durch das Fenster seinen Weg durchs Foyer. Er ging gar nicht erst zur Rezeption, er nahm gleich den Fahrstuhl.
Die Leuchtanzeige verriet Elling, dass der OB
-Kandidat ebenfalls in der sechsten Etage ausstieg.
Es hatte nur eine kurze Begrüßung zwischen Benedikt und Susanne gegeben, dann war es zu Küssen gekommen, ein Reißverschluss wurde geöffnet. Das Bett knarzte unter dem Gewicht zweier Erwachsener, die sich offenbar gerade darauf fallen ließen.
Das Golo 05-08 war ein kleines Funkmikro, das sich unter den Ermittlern im Jahr 2003 großer Beliebtheit erfreute. Klein, Akkukapazität bis zu vier Stunden, Funkverbindung. Und nicht größer als ein halbes Handy.
Bei einem Einsatz im letzten Winter hatte Elling eines
eingesteckt und bei Niemann in der KTU
als verloren gemeldet. Man konnte ja nie wissen – deshalb bunkerte Elling das Golo 05-08 im Keller. Selbstredend war das Susanne ein Dorn im Auge – so ein unnützer Krempel.
Der sich nun in ihrer Handtasche befand.
»Oh Philipp … Philipp …. ja, da …«
Elling nahm ein paar Schlucke von dem Pils. Klar, er hatte es geahnt, man hätte ja taub und blind sein müssen, um das nicht zu tun. Aber nun zu hören, wie ein fremder Mann in seine Frau eindrang und sie es auch noch genoss, traf ihn so tief – und darin bestand die eigentliche Tragik –, dass es nicht mehr wiedergutzumachen war. Frank Elling wusste – was immer auch geschah –, das Grillen im Ringelrankenweg würde nie mehr dasselbe sein.
In dem Augenblick, in dem die Geräusche, das Knarzen des Bettes, das Seufzen und Stöhnen sich in seinem Kopf zu einem Film fügten, war es irreparabel. Und es hätte nicht viel gefehlt, ja, wirklich, es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in den sechsten Stock gefahren, um sie alle drei umzubringen.
»Noch’n Pils?«
Er sah überrascht auf. Die Kellnerin sammelte gerade sein leeres Glas ein.
»Äh, ja … und einen … haben Sie Bommerlunder?«
»Ja. Eiskalt.«
»Einen doppelten, bitte.«
Sie verschwand wieder im Foyer. Die Hoteltür klackte exakt in dem Augenblick zu, in dem Philipp Benedikt in seiner Frau kam – und Elling beschloss, ihn nicht zu wählen. Und schmerzlich über diesen Gedanken schmunzeln musste.
Heftiges Atmen, das Rascheln der Bettdecke, das Ratschen eines Feuerzeugs. Dann die Flamme, das Einatmen. Man hörte fast, wie er inhalierte. Auf jeden Fall hörte Elling das Ausatmen des Rauchs.
Er stellte sich vor, dass Benedikt mit dem Babyspeck am Kopfende saß und mit dem Rücken an der Wand lehnte. Und sie in seinen Armen. Wenn er mit rechts die Zigarette hielt, würde seine Linke vielleicht auf ihrer Brust ruhen. Bestimmt sogar
.
»Du bist einer der ganz wenigen Männer, die ich kenne, die auf sich achten.«
»Danke.«
»Schon im April … in der Hohen Düne.«
Das war das andere Luxushotel, das auf der gegenüberliegenden Seite der Warnow lag, die hier ins Meer floss.
Seit April also. Mindestens. Seit gut vier Monaten.
Die Kellnerin brachte ihm das neue Pils und den doppelten Bommerlunder, den Elling komplett herunterkippte, sobald die junge Frau sich wieder umgewandt hatte. Er hatte das Gefühl, der Schnaps brenne ihm den Rachen weg – und das tat gut.
»Suse?«
»Hm?«
Benedikt benutzte auch noch den gleichen Kosenamen. Es gab Elling einen weiteren Stich.
»Mich würd mal interessieren … warum bist du eigentlich bei deinem Mann hängen geblieben?«
Eine kurze Pause. Elling schluckte. Keine Träne. Keine Träne würde er vergießen.
»Ich war verliebt«, antwortete Susanne, »Elling war … er war einfach nett. Er hat mich respektiert. Dann war Mareike unterwegs … wie das eben so ist. Ich war glücklich, es stimmte alles. Unsere Tochter, das Haus, Elling und ich. Es war rund.«
Elling nickte: So war das. Und er war der festen Annahme gewesen, es sei immer noch so.
Für ihn war es das.
»Es war rund bis zum 2. Oktober letzten Jahres.«
Elling überlegte kurz, aber ihm sagte das Datum nichts.
»Da gab es den Banküberfall in der Altstadt …«
»Ich erinner mich«, hörte er Benedikts Stimme, »in der Ostsee-Sparkasse.«
»Ja. Es hieß, es gab einen oder mehrere Verletzte. Und einen Toten. Ich hab sofort bei Elling angerufen, aber er ist nicht dran. Und im Kommissariat wusste man auch nicht mehr, nur, dass ein Polizist ums Leben gekommen war. Und dann, ich …
«
Elling hörte ihr Stocken bis hier.
»Ja?«
Das war Benedikt, der sich einfühlsam anhörte. Aber Elling hatte das Gefühl, als langweile sich der OB
-Kandidat.
»Ich hab mich gefragt, was zu tun ist, wenn … ja … wenn er tot ist. Und während ich so drüber nachgedacht hab, wo wir ihn wohl beerdigen, wo wir essen gehen und … ja, auch, wen wir einladen würden zur Trauerfeier, da hab ich gemerkt, dass … das ist schlimm, was ich dir da gerad erzähl …«
»Aber gar nicht. Das ist doch nur ehrlich.«
»Ja … stimmt auch wieder … jedenfalls: Ich hab gemerkt, dass ich bestürzt gewesen wäre, aber … aber dass er nicht wirklich gefehlt hätte in meinem Leben. Und vier Tage später haben du und ich uns das erste Mal getroffen.«
Elling nahm das Mikro aus der Ohrmuschel, stand auf und ging. Und wusste gar nicht wohin.