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Der See.
Still und schwarz. Lona hatte sich im Schutz der Nacht im Wohnmobil ihrer Kleider entledigt und war ins Wasser geglitten. Sie schwamm in gleichmäßigen Zügen hinaus. Auf dem Platz brannten hier und da noch Lichter, Stimmen drangen hinüber zu ihr.
Lona tauchte hinab zur Boje und löste den wasserdichten Beutel mit den 100000 Euro, den sie dort angebracht hatte.
Auf halbem Weg zurück stellte sie die Schwimmbewegungen ein, schaute sich kurz um und tauchte dann hinab.
Zuerst verstummten die Geräusche. Dann wurde es dunkler und dunkler. Und kalt. Der Druck auf die Ohren nahm zu. Aber nicht unangenehm stark. Dann endlich setzte ihr Fuß auf matschigem Grund auf.
So verharrte sie. Vielleicht war der Tod so. Taub und blind und kalt.
Aber es war friedlich. Mit einem schweren Stein am Fußgelenk wäre alles in ein paar Minuten vorbei. Alles, was sie gewesen war, alles, was sie je sein würde, wäre ausgelöscht.
Hatte sie einen Unterschied gemacht für die Welt? Hatte ihre Existenz auf diesem Planeten etwas geändert? Eine Kleinigkeit zum Guten gewandt? Vermutlich nicht. Und selbst wenn, was interessierte es das Universum?
Jedes Menschen Tod ist mein Verlust.
John Donne.
Sie stieß sich kräftig am Grund des Sees ab und durchbrach nach einigen Metern die Wasseroberfläche und sog die Nachtluft gierig ein. Zurück war sie in der Welt, sie sah die Lichter und hörte das dutzendfache Konzert der Grillen .
Mit ruhigen Zügen erreichte sie das Ufer und vergewisserte sich, dass sie niemand beobachtete, als sie nackt aus dem Wasser kam und mit dem Geldbeutel im Wohnmobil verschwand. Und doch war da … ein Blick. Irgendwo. Aus der Dunkelheit. Wie man eben einen Blick im Nacken spürte.
Lona trocknete sich mit dem riesigen weißen Frotteehandtuch ab, das sie liebte. Das sie alle geliebt hatten. Dann schlüpfte sie schnell wieder in ihre Kleider und deponierte das Geld in einem Staufach im Boden, in dem sich außerdem nur ein alter Schuhkarton befand. Manchmal brauchte es nicht mehr, um ein Leben unterzubringen.
Sie schaltete die Anlage ein, startete Private Investigations und stellte es auf Endlosschleife. Es würde sie durch die Nacht tragen. Gerade hatte sie die Bettdecke aufgeworfen und ihre Tabletten aus der Hülle geknipst, als sie Ellings Volvo hörte, wie er vor Bungalow Nummer zwei stoppte.
Elling packte gerade das Nötigste aus, Zigaretten und die Kulturtasche. Da erschien sie schon hinter ihm in der Tür. Ihre Haare waren noch nass. Sie hatte gerade geduscht oder war noch im See gewesen.
»Was ist los?«
»Nichts.«
Er wich Lonas Blick aus.
»Muss nur mal für mich sein.«
Sie brauchte bloß drei Sekunden, um die Fährte aufzunehmen. »Hat Susanne sich getrennt?«
»Nein. Ehrlich, ich bin so was von müde.«
Lona betrachtete ihn für einen Moment: »Die Vagabundenseite wäre bei mir noch frei.«
Elling brachte ein dankbares Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. Er war immer noch wie betäubt. Und das war gut. Er hatte nur Angst vor dem Ende der Betäubung.
»Bin gleich zurück«, sagte Lona und verschwand aus seinem Blickfeld .
Elling hatte Mareike und Susanne einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen: Wichtige Ermittlungen. Über Nacht unterwegs. Kuss.
Beim Kuss war ihm das »K« etwas missglückt, so fest hatte er den Stift umklammert.
Er schaltete das Licht aus wegen der Mücken.
In diesem Augenblick kam Lona zurück. Sie hatte ein Glas und eine Flasche in der Hand und reichte ihm beides. Elling nahm die Flasche entgegen und warf einen Blick auf das Etikett. Es war ein Malt of Scotland, ein Oban. Vierzehn Jahre alt.
»Ich glaub, der ist zu gut für mich, danke«, sagte er und reichte ihn zurück. Aber sie machte keine Anstalten, die Flasche zurückzunehmen.
Stattdessen stellte Lona das mitgebrachte Glas auf den Fenstersims neben dem Eingang.
»Mit dem dauert die Betäubung länger«, sagte sie leise, es war nur ein zerbrechliches Wispern.
Und dann ging sie einfach. Lona Mendt verschwand im Dunkel wie eine Erscheinung. Nach einigen Augenblicken war es schwer festzustellen, ob sie überhaupt da gewesen war. Aber der Oban, den er entkorkte, sagte, sie war.
Elling setzte sich auf die Veranda mit den Holzdielen und legte die Füße hoch auf den hüfthohen Sichtschutz. Die wenigen Lichter, die noch brannten, spiegelten sich im See. Er nahm einen Schluck, der Oban war mild in der Mundhöhle und dann angenehm rauchig. Er zündete sich eine an.
Es war nett hier. Ruhig. Aber kam selbstredend nicht an den Ringelrankenweg heran.