Schon die Morgenstunden kündigten den vorläufig heißesten Tag des Jahres an. Als Lona im Bademantel aus dem Wohnmobil trat, umwehte sie keine frische Brise wie am Morgen zuvor. Die Luft stand. Und wenn das so blieb, würde es schwül werden und drückend. Die Wettervorhersage hatte schwere Gewitter angekündigt.
Ellings Volvo stand unverändert vor dem Bungalow. Die Rollläden waren geschlossen. Vermutlich schlief er seinen Rausch aus.
Lona stapfte hinüber zu den Duschen.
Damit ihm der Kopf nicht plötzlich zersprang, hatte er sich vier Aspirin eingeworfen. Bei geschlossenen Rollläden fand er auf seinem klobigen Notebook, den sie Trumm
nannten, was er suchte. Einen Namen. Fotos.
Sie hieß Brit. Sie war drei Jahre älter als ihr Mann. Ihr Blick war gerade. Sie wirkte wie jemand, der mit sich im Reinen war. Brit Benedikt.
Mit ihrem Mann bei einem Empfang. Bei der Gründung einer Klinik. In ihrem Garten vor ihrem Haus in der Steintor-Vorstadt. Natürlich. Wer was auf sich hielt in Rostock, lebte in Warnemünde an der Küste. Oder dort, wo die Benedikts wohnten.
Elling stand auf und zog die Rollläden hoch. Der Tag brannte sich gleißend in seine Augen, sodass er sie zukniff und den Kopf abwandte. Aber nach einigen Momenten hatte er sich an die Helligkeit gewöhnt. Nach einer Dusche würde er einen kleinen Rundgang machen.
Elling schlurfte ins Bad seines Bungalows und gähnte herzhaft. Selbst das bereitete ihm Kopfschmerzen
.
Als Lona zu ihrem Wohnmobil zurückkehrte, sah sie die hochgezogenen Rollläden von Bungalow zwei. Elling brummte vermutlich der Schädel. Vielleicht würde sie ein paar frische Brötchen vorne bei den Benders holen oder ihm einen Kaffee vorbeibringen. Garantiert hatte er vergessen, welchen mitzunehmen.
Als sie in ihr Wohnmobil trat, spürte und roch sie sofort die Anwesenheit einer anderen Person. Und die saß hinten auf ihrem Bett: Stefan Krohn, der LKA
-Mann.
Unwillkürlich zog sie den Bademantel etwas mehr zu.
»Was machen Sie hier?«
»Die Frage geht andersherum: Was machen Sie
eigentlich hier? Ich meine: Sie beide. Herr Elling und du, hm? Du schwimmst gerne nackt, kann ich mir vorstellen.«
Er grinste und starrte unverhohlen dorthin, wo der Bademantel ihre Brüste verdeckte. Sie hatte sich nicht geirrt. Sie hatte den Blick gespürt. Jetzt wusste Lona, von wem er stammte. Krohn war schon gestern Nacht hier gewesen. Warum?
Krohn drückte mit der Hand prüfend auf die Matratze, auf der er saß, und hob anerkennend die Augenbrauen. »Hier fickst du mit dem Elling, oder?«
Mit zwei Schritten war sie bei ihm, und ihre Hand knallte mit einer Heftigkeit gegen seine Wange, die Krohns Kopf zur Seite riss und Lonas Finger als rote Striemen auf der Haut hinterließ.
»Und jetzt raus hier.«
Krohn war jetzt nicht mehr nach Grinsen zumute, sondern er stand auf und passierte Lona in Richtung Eingangstür. Und noch in dieser Vorwärtsbewegung packte er sie mit der rechten Hand im Nacken und schlug ihren Kopf ohne Vorwarnung gegen die Toilettentür. Die Wucht des Aufpralls nahm ihr kurz die Orientierung. Krohn rammte ihr sein Knie in den Bauch, was sie nach vorne klappen ließ. Sie bekam keine Luft. Er stieß sie bäuchlings aufs Bett und setzte sich auf sie, um zu verhindern, dass Lona sich umdrehen konnte. Sie schlug mit links zu – nach hinten, ziellos und wegen des Winkels ohne Kraft. Es war mehr eine
Wischbewegung als ein Schlag, die Krohn nutzte, um ihre Hand zu greifen und ihr eine Handschelle anzulegen.
»Nein«, keuchte Lona.
Krohn führte die Verbindungskette der Handschelle um das Geländer am Kopfende und griff nach ihrer rechten Hand.
Sie stemmte sich dagegen, sie legte sich auf ihren Arm, sie presste sich in die Matratze.
Es nützte nichts. Er war stärker. Und Lona befand sich in einer nahezu aussichtslosen Position für einen Kampf mit Krohn. Klack. Sie war an ihr eigenes Bett fixiert.
»Elling!«
Er zerrte den unteren Teil des Bademantels unter seinem eigenen Gewicht hervor und presste sich dann gegen sie. Sie spürte durch den Stoff seiner Hose, wie erregt er war. Sein Mund nah an ihrem Ohr.
»Wir kennen uns erst so kurz, aber ich hab mir das schon hundertmal vorgestellt. Du kannst es auch nicht abwarten, hm?«
Er roch unangenehm. Abgestanden.
»Bis jetzt verlier ich kein Wort darüber und werd auch nichts machen. Ich nehm Urlaub und lass mich versetzen. Es bleibt folgenlos … für Sie.«
»Ist das nicht geil, dass du mich siezt? Wie du noch die Würde bewahren willst?«
Sie schluckte.
Seine Befriedigung würde nicht nur rein sexueller Natur sein, sie beinhaltete auch ihre Demütigung. Ihre Erniedrigung war die Krönung seiner Lust.
Er öffnete seine Hose und zog sie etwas herunter, sodass sie seine Haut auf ihrer spürte. Er drückte Lonas Beine zu beiden Seiten, setzte übergangslos an und drang mit gewalttätiger Rücksichtslosigkeit in sie ein. Es war ein tiefer, ziehender Schmerz, der sich wellenartig ausbreitete, durch ihren ganzen Unterleib und Bauch, und der sich nun in dem Rhythmus wiederholte, mit der Stefan Krohn sie missbrauchte.
»Elling!«, brüllte sie
.
Elling stromerte am Ufer entlang. Langsam wurde sein Kopf klarer. Die Luft, das Tageslicht.
Sein kleiner Ausflug endete an einem Strauch, und dieser Strauch – dessen Namen er nicht kannte, Pflanzen waren ihm ein Buch mit sieben Siegeln – bildete den Abschluss der knapp mannshohen Hecke des Gartens der Benders.
Ein Garten übrigens, wie er ihn mochte. Eine Wiese statt Rasen, ein alter Apfelbaum, eine verwitterte Holzbank samt nicht minder altem Tisch. Das hatte was Gewachsenes. Und was von Leben lassen. Nicht alles zurechtschneiden, korrigieren, stutzen.
Da entdeckte er durch den Strauch hindurch ein offenes Fenster. Und dahinter Meike Bender im Profil. Elling wollte sich schon abwenden, weil er zwar seine Frau abhörte, aber nicht fremden Menschen ins Wohnzimmer blickte. Außer es besaß eine berufliche Notwendigkeit.
Aber der Anblick von Meike Bender nahm ihn gefangen, ohne sofort zu wissen, wieso. Er musste
sie ansehen. Denn ihr Blick wiederum galt jemandem, einem großen Schatten, der sich zu ihr vorbeugte. Dem sie sich entgegenhob – ihr Mann. Mit einer intensiven Hingabe, die Elling verstörte, weil sie ihm eigentlich nur als sexuell konnotiert geläufig war und in dieser Hingabe genau diese Konnotation fehlte. Sie war frei von Lust und Verlangen. Und trotzdem von einer intensiveren Nacktheit.
Sie lieferte sich ihrem Mann in einem viel tieferen Kontext aus. Sie ließ sich fallen.
Etwas glitzerte auf den Wangen von Frau Bender. Die Tränen liefen ihr hinab. Mit einer Sanftheit, die man Benders großen Händen nicht zugetraut hätte, wischte er sie beiseite. Und dann hob er die Finger an ihren Haaransatz über der Stirn, um ihre Haare von ihrem Kopf zu lösen – es war eine Perücke.
Dass du mich so sehen musst
– sagte sie nicht. Es lag in ihrem Blick, in den Tränen, die er nun wegküsste.
Du bist wunderschön für mich, immer schon
– sagte auch Michael Bender nicht, sondern nahm seine Frau in die Arme.
Elling presste es den Brustkorb zusammen, seine Augen
wurden feucht. Er hatte lange Zeit nichts Schöneres gesehen. Und wandte sich jetzt ab, weil er in dieser Zweisamkeit nichts verloren hatte. Also stapfte er zurück zum Bungalow. Seine Kopfschmerzen waren fast verflogen.
Lonas Unterleib war ein einziger stechender Schmerz. Sie wollte ihm kein Zeichen der Schwäche schenken, sie biss in das Kopfkissen, aber immer wieder entfuhr ihr ein schmerzvolles Stöhnen, das Krohn nur weiter anstachelte.
Dann endlich, es schienen endlose Stunden, erstarrte er über und in ihr. Ein Keuchen noch. Sein Schweiß auf ihrem Rücken. Ein Zucken seines Beckens, dann zog Krohn sich zurück. Er setzte sich neben sie aufs Bett und schloss erst den Reißverschluss und dann den Gürtel seiner Hose.
Lona verspürte den Drang, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ungeschehen kann man nichts machen. Aber es gibt einen Trick: Man kann sich selbst ungeschehen machen, dann ist alles andere auch nie gewesen.
Krohn suchte ihren Blick, sie spürte ihn im Nacken, wie sie ihn gestern Nacht gespürt hatte. Und sie wollte sich dem nicht verweigern, um Krohn nicht das Gefühl zu vermitteln, er habe sie gebrochen und sie verstecke sich. Also legte Lona den Kopf zur Seite, sodass sie ihm in die Augen blicken konnte. Er hielt ihr ein Stück Papier hin. Es war ein 500-Euro-Schein.
»Wie kommt es, dass du Geld von der Übergabe im Parkhaus in der Riemannshöhe bei dir hast, hm? Fräulein Mendt? Was dachtest du? Hast du überhaupt was gedacht? Natürlich sind die Scheine markiert. Habt ihr daran nicht gedacht?«
Nein, hatten sie nicht. Lona spürte das Blut, das ihr in einem dünnen Rinnsal über den Innenschenkel lief. Sie hatten nicht daran gedacht, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass das LKA
von der Übergabe wusste. Dass sie die einfachsten Maßnahmen treffen würde.
»Dafür fahren du und dein Kollege mit seiner vergesslichen Mutti für viele Jahre ein.
«
»Was wollen Sie, damit das nicht passiert?«
Krohn deutete ein Nicken an: »Nicht viel. Ich behalt das Geld. Und das hier«, er vollführte eine ausschweifende Geste, die das Wohnmobil umfasste, »hier komm ich bei Gelegenheit vorbei. Und dann bist du nett zu mir. Ich komm in ’ner halben Stunde wieder.«
Er schnappte sich den Schlüssel für die Handschellen, stand auf und ging raus.
Elling war froh über die nachlassenden Kopfschmerzen. Die ersten spielenden Kinder flitzten an ihm vorbei und zum See. Von Schwimmflügeln bis zum Schlauchboot war alles dabei. Ein Jauchzen und Lachen.
Er musste lächeln. Die Kindheit war das Paradies auf Erden. Das einzige und echte, und eine Rückkehr dahin für immer ausgeschlossen. Denn jede Erkenntnis hatte ihren Preis. Hätten die Kinder hier am Ufer auch nur eine entfernte Ahnung von dem, was sie später erwartete, würden sie sich wahrscheinlich auf ewig verschanzen. Und wollte man sie warnen, lachten sie und schlugen die Warnungen in den Wind, natürlich, darin bestand ja ihre Stärke – dass sie nichts auf die Folgen gaben.
Er blickte hinüber zu dem Stellplatz mit dem Wohnmobil. Vielleicht könnte er hier irgendwo ein paar Brötchen organisieren und vielleicht einen Kaffee – er hatte natürlich keinen eingepackt – und Lona überraschen. Sich für den Oban revanchieren, der ihn behütet durch die Nacht getragen hatte.
Dazu brauchte er seine Brieftasche. Er ging zurück zum Bungalow und öffnete die Tür. Drinnen saß Stefan Krohn auf der Couch und rauchte. Elling sah über die Schulter – keine SEK
-Einheiten, die heranstürmten.
»Kommen Sie rein«, sagte Krohn freundlich und grinste dann, »klingt merkwürdig, weil Sie
ja hier wohnen und ich
der Gast bin. Ich darf doch Ihr Gast sein?«
»Natürlich.«
Elling schloss zwar die Tür hinter sich, blieb aber dort stehen. Er bemühte sich, gelassen zu wirken. Aber nicht zu
obrigkeitshörig. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Suchen Sie was?«, fragte er deshalb.
Krohns Lächeln blieb in den Mundwinkeln und verebbte in den Augen. Er war nicht mehr amüsiert, nur noch höflich. Er musterte Elling, das alte Jackett, den Schlips, den kein vernünftiger Mensch bei dieser Hitze trug, das mit Pflaster reparierte Brillengestell. Er sah nicht aus, wie jemand, der den Bürgern ein gutes Bild von der Kriminalpolizei vermittelte.
»Haben Sie ein Wasser?«
»Klar.«
Elling ging rüber zum Kühlschrank und goss dem Mann ein Glas ein.
Stefan Krohn federte von der Couch hoch und bog die Arme nach hinten, er streckte sich. »Ist das nicht ein wundervoller Tag?«
»Ja«, bestätigte Elling vorsichtig und reichte ihm das Glas.
»Danke.« Krohn trank die Hälfte in einem Zug und setzte dann ab: »Kennen Sie den? Geht eine hübsche Frau auf dem Fußweg, da hält ein Auto neben ihr. Und der Beifahrer fragt: Wohin gehen diese schönen Beine? – Ins Kino, wenn nichts dazwischenkommt.«
Er grinste breit.
»Der ist komisch«, sagte Elling.
»Oder?«
»Ja.«
»Pass auf, ich mach’s kurz: Ich musste eben bei deiner Kollegin kurz etwas nachhaken, aber dann hat sie’s bestätigt. Du hast im Parkhaus in der Riemannshöhe das Geld abgegriffen. Und mit ihr geteilt. Hier.« Er zog einen 500-Euro-Schein hervor und wedelte damit. »Die sind natürlich markiert. Und jetzt?«
Ellings Mund war trocken: »Und jetzt?«, wiederholte er.
»Und jetzt will ich davon 100000. Oder ihr geht in den Knast. Deine Kollegin hat ihren Anteil schon beglichen.«
Beglichen? Was hieß das? Dass Lona die Aktion in der Riemannshöhe eingeräumt hatte? Und was hieß es, wenn der LKA
-Mann bereit war, sich bestechen zu lassen? Es gab Wege, so eine Übergabe
festzuhalten. Dann hatte man sich gegenseitig in der Hand. Ansonsten konnte Krohn sie bis an ihr Lebensende erpressen. Und Elling zweifelte keinen Moment daran, dass er das auch tun würde.
»Dann müssen Sie zur Staatsanwaltschaft gehen.«
Etwas von Krohns gelassener Zuversicht verflog. »Wie war das?«
»Ich hatte schon ein paar Ausgaben. Ich hab meiner Tochter zum Beispiel ein Auto gekauft.«
»Du hast eine Woche, um den Rest zu beschaffen.«
»Woher wusste das LKA
von der Riemannnshöhe?«
»Ich glaub, das geht dich nichts an.«
»Und Frau Winter. Kennen Sie Jutta Winter?«
»Nee. Aber ich hab mal nachgefragt wegen Frau Mendt. Weißt du eigentlich, mit wem du da Dienst schiebst? Warum sie von Hannover weg ist? Hm?«
Die Tür flog mit einer Vehemenz auf, die sie gegen die Wand krachen ließ. Krohn fuhr herum.
Lonas tränenüberströmtes Gesicht sah schrecklich nackt und entschlossen zugleich aus. Die von einer Handschelle umschlossenen Hände hielten die Walther P99. Die linke Hand steckte in einem neongelben Gummihandschuh. Lona machte noch einen Schritt nach vorn, und bevor ihr linker Fuß wieder aufsetzte, drückte sie ab.
Die Kugel durchschlug Krohn an der Hüfte.
Elling sah die pure Fassungslosigkeit in dem Gesicht des Mannes, der Lona mit einer Verblüffung beobachtete, als verfolge er unbeteiligt einen spannenden Film. Die schnappte sich das Kissen von der Couch, presste es vor die Mündung der Dienstwaffe und war nur noch anderthalb Meter von ihrem Peiniger entfernt, als sie erneut auf ihn schoss.
Das Kissen, das den Knall etwas dämmte, riss auseinander, es gab eine Explosion aus Daunen.
Das zweite Projektil traf Krohn in die Brust, ohne am Rücken wieder auszutreten, und die Wucht riss ihn von den Beinen. Er krachte leblos hinter der Couch zu Boden und rührte sich nicht mehr
.
Stille.
Nur die Daunen, die in Schaukelbewegungen langsam zu Boden schwebten.
Elling versuchte zu erfassen, warum sie es getan hatte. Er sah den Bademantel, in dem sie steckte, die geschlossenen Handschellen, den Gummihandschuh. Dass sie geweint hatte. Er konnte nicht glauben, wollte nicht glauben, auf was das hindeutete.
Kraftlos ließ Lona den Rest des Kissens fallen, sie sah zu Elling. Da war kein Zweifel in ihrem Blick über das, was sie gerade getan hatte. Nur die Notwendigkeit dazu, die las er in ihm.
Lona atmete einmal tief durch, dann setzte sie sich auf die Couch und legte die Waffe auf dem Tisch ab. Als füge sie sich.
Eine Vorstellung, die Elling schmerzte. Jemand wie Lona Mendt fügte sich nicht. Er ging zur Tür und schloss sie. Dann blickte er vorsichtig durch eines der Fenster hinaus. Tatsächlich hatte sich gute dreißig Meter entfernt eine kleine Traube von Menschen gebildet. Die einen deuteten zum Campingplatz, die anderen zum Ufer, die Dritten nach vorne zur Schranke. Offenbar sprach man gerade darüber, woher der Knall gekommen war. Und was ihn verursacht hatte. Aber nun sah Elling das erste Achselzucken, zwei Frauen lösten sich aus der Gruppe und kehrten zurück zu ihren Stellplätzen. In ein paar Minuten würde sich alles wieder verlaufen haben, da war er sich sicher. Einer von ihnen war Michael Bender, und der hagere Kerl wandte sich nun ebenfalls ab, hob grüßend die Hand und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Haus. Und zu seiner schwer kranken Frau.
Elling zog die Vorhänge zu und kehrte zurück zu der Couch, auf der Lona teilnahmslos saß und auf einen weit entfernten Punkt blickte.
»Wo sind die Schlüssel?«, fragte Elling und deutete mit dem Kopf auf ihre Handschellen.
Seine Frage holte sie von dort ab, wo sie im Geist gerade war, und brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Zu den Handschellen, zu dem Toten, zu Elling.
»Er hat sie«, antwortete sie leise
.
Elling ging neben dem Mann in die Hocke und tastete die Hosentaschen ab. Unter Krohns Körper bildete sich eine Blutlache. Hinten, an der Gesäßtasche, spürte er den Schlüssel und zog ihn heraus. Es gab Angenehmeres auf der Welt, als die Kleidung eines Toten zu durchsuchen. Er reichte Lona den Schlüssel. Sie wirkte apathisch.
»Ich hol dir was zum Anziehen.«
Sie nickte.
Die Traube aus Neugierigen hatte sich bis auf einen Mann und eine Frau schon komplett aufgelöst. Elling ging in einem weiten Bogen an ihnen vorbei, um nicht angesprochen zu werden.
Im Wohnmobil klappte er ein paar Staufächer auf. Er fand Unterwäsche, eine Jeans, mit der er Lona schon mal gesehen hatte, eine Bluse. Die Jacke. Außerdem die Boots. Das alles packte er in eine Tüte und nahm erst dann bewusst das Bett wahr. Die Stange am Kopfende, die Lona mit aller Gewalt aus ihrer Verankerung gerissen haben musste. Und dann, auf dem Laken, etwas Blut.
Zurück in Bungalow Nummer zwei hörte er durch die geschlossene Badezimmertür Wasser laufen. Neben ihrer Waffe lag nun der gelbe Gummihandschuh, den sie von der Hand gestreift hatte. Elling packte die Kleidungsstücke aus und sammelte in der Tüte die Daunenfedern auf, was sich als durchaus mühselig herausstellte. Dann endeten die Duschgeräusche im Nebenzimmer. Es dauerte einen Augenblick, bevor sich die Tür einen Spaltbreit öffnete. Sein und Lonas Blick trafen sich. Ohne ein Wort schnappte er sich die Kleider und reichte sie ihr.
»Danke«, sagte sie leise, nahm die Kleider und schloss die Tür wieder hinter sich. Elling klaubte die restlichen Federn zusammen. Er legte sich auch vor die Couch, um diejenigen einzusammeln, die von einem Windhauch unter das Möbelstück getragen worden waren.
Als er sich wieder aufrappelte, trat sie aus dem Bad. Und
erfasste mit einem Blick, was er gerade tat. »Elling, ich möchte, dass du jetzt wegfährst.«
Er sah sie fragend an.
»Das hier ist nicht deine Sache«, fügte sie deshalb hinzu.
»Doch, ist es«, widersprach er, »wir müssen ihn loswerden.«
»Wenn es noch mehr Leute gibt, die wissen, was dieser … Scheißkerl wusste, sind wir sowieso geliefert.«
»Ja«, bestätigte Elling, »aber er muss jetzt trotzdem weg.«
»Aber warum …«
»Wir können später darüber reden. Jetzt sollten wir keine Zeit verlieren.«
Sie hatte sich anscheinend in Elling geirrt. Er mochte sie wegen des Geldes belügen, aber jetzt war er drauf und dran, ihren Mord an einem LKA
-Mann zu decken.
»Er muss weg«, wiederholte Elling, »hörst du?«
»Ja«, bestätigte Lona schleppend, »aber … wo willst du mit ihm hin?«
»Ich weiß nicht. Wir könnten ihn zur Ostsee fahren.«
»Zu weit.«
»Dann einen See hier irgendwo. Gibt ja Unmengen davon. Wir beschweren ihn mit ein paar Steinen und dann …«
Er ließ es unausgesprochen, aber sie wusste, was er meinte.
»Dann darf er nicht am Stück bleiben.«
Und schon kroch wieder der Würgereiz seine Speiseröhre hinauf. Frank Elling stöhnte auf.
Und es irritierte sowohl ihn als auch Lona, dass dieses Stöhnen kein Ende nahm, obwohl er schon wieder den Mund geschlossen hatte. Es war auch nicht wirklich ein Stöhnen, es war ein Röcheln. Als atme jemand mit Wasser in der Luftröhre – ein dezentes Gurgeln.
Sie umrundeten zusammen die Couch. Und tatsächlich – eben hatte Stefan Krohn noch auf dem Bauch gelegen. Nun hatte er sich auf die Seite gedreht. Er hob den rechten Arm ins Leere. Er war blass und sein Hemd blutdurchtränkt.
»Bitte«, brachte er hervor, »ich … ihr bekommt alles, was … ihr
wollt. Aber … um Himmels willen, bringt mich … ins Krankenhaus, schnell.«
Elling wusste nicht, wie er reagieren sollte. Lonas Blick war kalt: »Ärzte müssen Schusswunden melden.«
Das war kein Nein. Trotzdem war es natürlich nicht mehr als ein Strohhalm. »Ich bitte Sie«, flüsterte Krohn schwer atmend und klammerte sich daran, »als Mensch und … Kollege.«
Lonas Gesicht blieb wie in Stein gehauen. Kein Muskel zuckte. Schwer zu sagen, ob sie überhaupt mal geblinzelt hatte in der letzten Minute.
»Wer weiß noch Bescheid?«
»Was?«
Elling platzte der Kragen. Er nahm seine Dienstwaffe, hielt die Mündung vor Krohns linkes Auge und spannte den Abzug. »Wer weiß noch Bescheid?«
»Nur ich. Nur ich.«
»Warum glaube ich dir das nicht?«
»Aber es ist wahr … bitte, ich muss … ich brauch einen Arzt. Wenn ich nicht …«
»Halt die Klappe, oder ich erschieß dich, ich schwör’s! HALT
… DIE
… KLAPPE
!«
Krohn erstarrte. Er lag jetzt da wie vorhin. Leblos. Bis auf die Pupillen, die von Elling zu Lona und wieder zurück wanderten. »Ich verblute«, sagte er leise.
Lona nickte: »Das stimmt. Er verblutet. Wir setzen uns und warten. Und dann muss … muss keiner schießen.«
Elling nickte. Für diese Situation gab es keine Blaupause. Nichts Gelerntes, was man hätte anwenden können. Sie mussten improvisieren. Und es gestaltete sich für sie natürlich leichter, einfach abzuwarten, als Krohn umzubringen. Elling setzte sich auf die Lehne der Couch. Lona blieb stehen. Sie sah dem Mann zur ihren Füßen in die Augen. Ohne Neugier. Aber auch ohne Mitgefühl. Krohn fiel es zunehmend schwer, diesen Blick zu erwidern.
»Ihr müsstet mich auch loswerden«, sagte der Mann schließlich. Es klang, als habe er die Hoffnung aufgegeben
.
Stefan Krohn zog ein paar Papiertaschentücher hervor, die er auf seine Wunde an der Hüfte presste, in der Hoffnung, die Blutung so zu stillen. »Ich hab eine Idee«, sagte er mühsam, »wir haben die Dienstwaffen … vertauscht, beim Putzen hat sich … der Schuss gelöst.«
»Zweimal?«, fragte Elling: »Wie soll das gehen? Das nimmt uns doch keiner ab.«
»Mir fällt noch … was ein. Bitte.
Ich … ich hab drei Kinder!«
In Lonas Haltung änderte sich etwas, ihre steinerne Miene bekam Risse, es schlich sich etwas Verletzliches ein. »Wie alt sind die?«, fragte sie.
»Drei und … sechs und acht.«
Lona suchte keinen Blickkontakt mit Elling, sie hatte es angefangen, sie brachte es auch zu Ende. Sie zog ihre Pistole mit links.
»Nein«, hauchte Krohn.
Mit einem Knopfdruck ließ sie das Patronenmagazin aus dem Knauf gleiten und fing es mit der rechten Hand routiniert auf. Sie ergriff ihre P99 am Lauf und drehte sie mit dem Griff zu Krohn: »Anfassen.«
Krohn legte seine rechte Hand um den Knauf und den Zeigefinger auf den Abzug.
»Mit dem Daumen«, befahl sie ihm. Auch das verstand er und legte seinen Daumen auf den Abzugsbügel.
»Da ist noch eine im Lauf«, warnte Elling sie. Aber Lona Mendt nickte nur: »Gib mir mal den Holzscheit vom Ofen.«
Elling stutzte kurz, aber dann begriff er, was sie vorhatte. Er ging zu dem gusseisernen Ofen, dessen Rohr in der Wand verschwand. Daneben lag Brennholz in einem Korb. Er schnappte sich einen Scheit und reichte ihn Lona.
Die legte ihn neben Krohn ab. »Los«, verlangte sie.
Der zögerte kurz, aber natürlich blieb ihm mit nur einer Kugel im Lauf keine Wahl. Er legte auf das Brennholz an und drückte ab. Die Kilojoule, die auf das Holz trafen, ließen den Scheit bis zur Wand rutschen
.
Lona nahm die Pistole wieder an sich und ließ auch das Magazin einrasten. Dann sammelte sie die noch warme Patronenhülse auf, danach das Stück Holz, in dem die Kugel steckte.
»Bitte …«, hauchte Krohn.
Lona ging neben ihm in die Hocke.
»Drei Kinder«, sagte sie.
»Ja.«
Sie beugte sich noch weiter zu ihm vor, ihm stand die Todesangst ins Gesicht geschrieben.
Lonas Stimme war frostig und klar wie ein Bergsee am Morgen: »Wenn du uns verrätst, finde ich dich. Ich finde dich, und ich töte dich.«