31
Wegen des hohen Blutverlusts hatten sie sofort eine Notoperation eingeleitet.
Lona und Elling standen auf dem Flur der Klinik in Marnow und vertrieben sich die Zeit. Sie blickte hinaus auf das Blau des Sees, er beschäftigte sich mit einem Modell unter einer Plexiglashülle, die dem interessierten Publikum jene Baumaßnahmen zeigten, die die neuen Gebäude mit den alten der Klinik zu einem neuen Ganzen verschmelzen ließen, das seine Herkunft gleichwohl nicht verleugnete.
Sie hatten noch vom Campingplatz aus die 112 gewählt und den Tatort für die Untersuchungen, die jetzt unausweichlich anstanden, präpariert. Sie ließen den Blutfleck unter Krohns Körper unverändert. Die Hülsen der beiden Kugeln, die Lona auf ihn abgefeuert hatte, trugen sie näher an diesen Fleck heran. Sie sammelten die restlichen Daunen ein, die Elling übersehen hatte. Und ließen auch das zerschossene Kissen und den gelben Gummihandschuh verschwinden. Ebenso den Holzscheit samt Projektil und dessen Hülle.
Stefan Krohn verlor kurz vor dem Eintreffen des Rettungsdienstes erneut das Bewusstsein – und so wie man ihnen nach ihrem Eintreffen in der Klinik erzählte, war er bis zur OP auch nicht wieder aufgewacht.
Auf der Fahrt in Ellings Volvo um den Marnower See hätten sie die Gelegenheit gehabt, um über das zu sprechen, was vorgefallen war. Aber kein Wort war ihnen über die Lippen gekommen.
Bis sie an der Klinik angekommen waren.
Dort sah er sie von der Seite an. Unsicher. Und rang sich dann durch: »Du solltest dich untersuchen und behandeln lassen, wenn wir …«
»Nein«, unterbrach sie ihn, die Augen starr nach vorne gerichtet.
Elling schluckte.
Nach anderthalb Stunden trat eine brünette Frau Ende dreißig in Begleitung eines Chirurgen auf sie beide zu. Sie hatte eine transparente Tüte dabei, in der sich die Habseligkeiten von Krohn befanden: Portemonnaie, Handy, Autoschlüssel und dergleichen; Kleinigkeiten.
Lonas Augen hefteten sich sofort auf diesen Beutel.
Die Frau bemerkte das. »Keine Sorge, er befindet sich nicht mehr in Lebensgefahr«, eröffnete sie daher das Gespräch und reichte Lona zuerst die Hand, »mein Name ist Dr. Hildebrandt. Ich leite diese Klinik. Dr. Böhm hier hat Herrn Krohn operiert.«
Lona Mendt war erleichtert über diese Nachricht und gleichzeitig verblüfft über ihre Erleichterung: »Mendt.«
Elling trat vor und reichte der Klinikleiterin und dem Arzt ebenfalls die Hand: »Elling. Wir sind von der Kriminalpolizei aus Rostock.«
»Und Herr Krohn ist Ihr Kollege, nehme ich an.«
»So ist es. Kann ich Ihnen die Tüte abnehmen?«
»Gerne«, antwortete sie und reichte sie ihm.
Böhm wandte sich an Lona und Elling: »Herr Krohn hat viel Blut verloren. Jetzt ist sein Zustand stabil, aber dafür mussten wir ihn in ein künstliches Koma versetzen. Bei einem guten Verlauf, und davon gehen wir aus, können wir die Aufwachphase in vier oder vielleicht fünf Tagen einleiten.«
»Das ist sehr erfreulich«, sagte Lona, »wir informieren die Angehörigen.«
Frau Hildebrandt nickte, offenbar war ihr das recht. Aber ihrem Gesicht nach zu urteilen, gab es noch etwas, was sie auf dem Herzen hatte: »Sie wissen, dass ich Schusswunden melden muss?«
»Natürlich«, sagte Elling geistesgegenwärtig, »das ist hiermit geschehen. Dankeschön. «
Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, wollten sie sich etwas die Beine vertreten und gingen ein paar Meter. Über dem See, den man von hier aus überblicken konnte, türmte sich eine schwere Gewitterfront auf. Aber im Augenblick ging noch kein Windhauch.
»Er hat uns in der Hand.«
Lona nickte, als sei es müßig, darüber zu sprechen: »Und was wollte er von dir? Was hat er gesagt?«
»Geld. Einen Teil davon – das heißt, eigentlich alles: 100000.«
»Und weiter?«
»Na, ich wollte es ihm geben.«
Sie blieb stehen, also stoppte er auch ab und zündete sich eine an. Als er den ersten Zug nahm und aufblickte, blieb er an ihren Augen hängen, die ihn musterten, als sei da ein Aspekt in seinem Gesicht, eine Facette, die sie bisher übersehen hatte.
»Hab ich was im Gesicht?«
»Ich versteh dich nich’.«
»Wieso, was? Was verstehst du nicht? Er wollte das Geld, ich wollte es ihm geben.«
»Eben. Du hast eine Menge riskiert, um es zu kriegen und zu behalten.«
»Ich hatte Krohn gegenüber ja keine Wahl.«
»Aber jetzt hast du doch eine.«
»Jetzt versteh ich dich nicht«, antwortete Elling.
»Ich habe einen LKA -Beamten angeschossen. Und du deckst das. Deckst mich. Müsstest du gar nicht.« Sie sah ihm dabei direkt in die Augen. »Ich könnte mich absetzen. Du lässt mir einen Vorsprung, danach zeigst du mich an.«
Elling deutete lediglich ein Kopfschütteln an.
»Noch kannst du abspringen, Supermann.«
»Supermänner springen nicht ab.«
Die Geborgenheit, die Lona in diesem Augenblick empfand, hatte sie schon lange nicht mehr gespürt. Und sie war froh, jetzt für ein paar Augenblicke nicht mehr rennen zu müssen. Dass sie bei ihm anhalten und durchatmen durfte.
Eine Seitentür der Klinik wurde von einem Mitarbeiter geöffnet. Heraus kam Meike Bender, die von ihrem viel größeren Mann Michael gestützt wurde. Ihre Schritte waren unsicher und schwach. Und er gab ihr Halt. Geduldig passte er sich ihrer Geschwindigkeit an.
»Das ist Frau Bender«, sagte Lona überrascht.
»Ja. Ich glaube, sie ist hier, weil sie eine Chemo bekommt.«
»Ich wusste nicht, dass sie so krank ist.«
»Ich auch nicht«, pflichtete er ihr bei, »ich hab sie heute Morgen zufällig im Haus gesehen, da hat er ihr eine Perücke abgesetzt. Ganz zärtlich.«
»Ja«, bestätigte Lona gedankenverloren, während sie den Benders bei deren Gang zum Parkplatz zusah, »ich hab selten so eine Innigkeit gesehen.«
In ihren Worten schwang noch mehr mit als die bloße Bedeutung. Sehnsucht.
»Hoffst du, dass er überlebt?«
Seine Frage kam aus dem Nichts.
»Ja.«
Elling trat die Zigarette aus und nickte ihr zu. Es brauchte kein Wort, sie gingen einfach weiter.
Ein Blitz jagte am Firmament herab. Kurz nur zog er eine gleißend helle Narbe durch die Wolken. Ein Sekundenbruchteil genügte ihm, um alle zu blenden, die ihn sehen konnten, und seine Gestalt als kurze Gravur auf ihrer Netzhaut zu hinterlassen. Als würde ein ganzes Menschenleben in eine Zehntelsekunde gebannt werden, dachte Lona. Sie mochte Blitze.
»Wir müssen«, wandte sie sich an Elling, »seine Dienststelle informieren, das LKA
Elling schüttelte den Kopf und hob die Tüte mit Krohns Habseligkeiten: »Wir sehen uns erst seine Sachen an.«
»Die gleichen später die Zeiten ab. Wann wir Krohn hatten und wann wir das LKA informiert haben.«
»Also, ich steh immer noch ziemlich unter Schock – und du? Könntest du schon telefonieren?«
Lona verstand .
Sie erreichten eine einsame Holzbank, die sich neben der Friedhofsmauer befand. Dahinter erstreckten sich die Gräber samt Kirche. »Hier gut für dich?«, fragte Elling.
Lona nickte und sie setzten sich.
Elling zückte sein Handy und rief in der KTU an.
»Niemann?«
»Elling hier. Herr Niemann, ich brauche schnellstmöglich einen Einzelverbindungsnachweis und eine neue PIN für das Handy mit der Rufnummer 0170/7817111.«
»Autsch-autsch.«
»Was?«
»Ich wollte nur sagen, dass … das ist ein sensibler Bereich. Ich bin hier nämlich in der Kripo auch der Datenschutzbeauftragte …«
Unglaublich, was die Computer alles so mit sich brachten. Vielleicht würden sie in zehn Jahren schon alle Gespräche ihrer Besitzer heimlich mithören können. Wenn er so einen Gedanken zu Hause äußerte, schüttelte Susanne den Kopf: Du bist paranoid, Elling.
»Umso besser, dann machen Sie uns bitte noch ein Bewegungsprofil von dem Mobiltelefon. Ich will wissen, wo der Mann im letzten Monat gesteckt hat.«
»Das darf ich nicht.«
»Weil?«
»Dazu braucht es eine richterliche Anordnung.«
»Bring ich Ihnen. Machen Sie bitte. Es ist wirklich dringend.«
»Die richterliche Anordnung kann nur bei, ich zitiere, Gefahr in Verzug nachgereicht werden.«
»Wir haben hier Gefahr in Verzug.«
»Ich brauche das schriftlich.«
»Bekommen Sie – besorgen Sie mir jetzt bitte eine Übersichtskarte mit allen Funkzellen, in denen das Handy sich eingewählt hat.«
»Einen Monat, ja?«
»Zuerst mal die letzte Woche, vielleicht reicht das. «
»Gut, erledige ich. Denken Sie an die schriftliche Bestätigung, Herr Elling?«
»Sie … bekommen … die «, antwortete Elling und betonte dabei jedes Wort, »was wollen Sie noch, Mann? Soll ich’s morsen?«
»Nein. Es ist nur, dass sich alles in einem rechtssicheren Rahmen …«
»Tut es. Hören Sie, vermutlich rennen wir hier gegen die Zeit an, es geht um einen Säugling, von dem wir … Scheiße-noch-mal nicht wissen, wo der ist! Machen Sie jetzt!«
»Jawohl.«
Niemann hatte die Verbindung von sich aus unterbrochen.
»Um einen Säugling?«
Trotz der ganzen Umstände brachte Lona ein Schmunzeln zustande.
Elling schmunzelte nicht: »Krohn wusste, dass das Geld von der Übergabe markiert gewesen ist – woher? Was ist da gelaufen? Ich will jetzt wissen, was für eine Rolle der gespielt hat. Der Säugling war für Niemann.«
Ellings Worte sorgten dafür, dass Lona sich straffte.
Währenddessen nahm die Zahl der Blitze zu. Ihr Donnern erreichte sie in immer kürzeren Abständen. Und auch der Tanz der elektrischen Entladungen in ihren unfassbar schnellen Verästelungen kam näher.
Lona hatte die Brieftasche von Krohn aus der Tüte gezogen und durchsuchte sie. Zuerst zog sie eine zusammengefaltete Postkarte hervor, die sie Elling reichte. Und der klappte sie auseinander: Marnow. Es war eine Ansichtskarte des Ortes. Der See, die Kirche. Elling wendete die Karte in seiner Hand. Niemand hatte einen Empfänger eingetragen oder gar eine Nachricht hinterlassen.
»Kein Text«, stellte Lona fest.
»Nein.«
»Wie ein Souvenir.«
Elling nickte.
»Die Karte ist nicht neu, die Ränder sind vergilbt«, stellte Lona fest, »also ist es ein Souvenir. Er war hier. Früher schon, Krohn ist früher schon hier gewesen. In Marnow. Er wollte die Postkarte nicht verschicken.«
»Nein«, bestätigte Elling.
Die Blätter des Baumes, der über die Friedhofsmauer ragte, begannen zu rascheln.
Lona zog nun zwei Fotos aus der Brieftasche des LKA -Mannes und klappte sie auseinander. Das eine zeigte einen jungen Kerl mit einem anderen Mann, vielleicht um die vierzig. Beide blickten unbeschwert und leicht lächelnd in die Kamera.
»Das ist doch der junge Alexander Beck«, sagte Elling.
»Ja. Und der daneben?«
Elling deutete ein Achselzucken an. Ihm war dieses andere Gesicht nie begegnet. Lona erging es offensichtlich nicht anders.
»Aber es ist hier aufgenommen worden«, sagte sie und deutete auf eine Zinne im Hintergrund des Fotos. Jetzt identifizierte Elling die Kirchturmspitze auch als solche. Um ganz sicherzugehen, schaute er über die Schulter und stand dann sogar auf, um die Kirchturmspitze auf dem Foto mit derjenigen zu vergleichen, vor der sie sich befanden.
Es war eine sehr alte, verwitterte Kirche, an der schon lange keine Ausbesserungs- oder Renovierungsarbeiten mehr stattgefunden hatten. Verlassen und aus der Zeit gefallen. Lona stellte sich neben ihn und versuchte, die Distanz aus Kirchturm und dem Standort, an dem das Foto geschossen worden war, in etwa zu bestimmen. Sie deutete zurück zur Klinik. »Es ist irgendwo da hinten aufgenommen worden«, stellte sie fest, »irgendwo hinter der Klinik.« Elling folgte ihrem Blick und nickte dann.
In diesem Moment folgte der Donner dem Blitz binnen eines Sekundenbruchteils. Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen direkt über ihnen, dann setzte Platzregen ein. Sie liefen über den Sandweg des Friedhofs zur Eingangstür der Kirche. Sie war verschlossen.
Ein älterer Mann, der vor einem Grab gehockt hatte, zog sich seine Jacke über den Kopf und lief los, so schnell er konnte .
Den Grabstein durchzog ein Riss, wie Lona feststellte.
»Da!«, rief Elling und deutete auf einen kleinen offenen Pavillon.
Sie liefen durch den Regen unter das überdachte Rondell, das sich nach hinten an drei große Bäume schmiegte, die den Regen auf dieser Seite abhielten.
Elling und Lona setzten sich hin. Die Abkühlung, die mit dem Wolkenbruch kam, tat gut. »Wird bestimmt nicht lange dauern«, brummte Elling.
Lona nahm ihm das Foto aus der Hand und betrachtete es. Es hatte zwei Eselsohren.
»Das dürfte aus den Siebzigern, Achtzigern sein. Fotopapier, Vergilbungsgrad …«, sagte Elling.
»Mich interessiert das Verhältnis der beiden zueinander«, sagte Lona, »der Mann neben Beck sieht klug aus und selbstbewusst. Aber nicht auf diese unangenehme Art.«
»Zurückgenommen.«
»Das meine ich, ja. Er ist gebildet. Und es war auch in Marnow.«
»Alle Wege führen nach Marnow«, sagte Elling halb im Scherz. Der Regen nahm zu und trommelte auf das Dach des Pavillons, ein sich ständig änderndes Stakkato.
»Warum«, fragte Lona gegen den Platzregen an, »hat Krohn ein Foto von Beck bei sich?«
»Vielleicht kannten die sich.«
»Wir kennen uns auch – trägst du Fotos von mir mit dir rum?«
Elling schüttelte den Kopf.
»Doch höchstens von Susanne oder Mareike«, fuhr Lona fort, »von Personen, die einem nahestehen.«
Ihre Ratlosigkeit ließ sie schweigen. Sie schauten zu, wie der Regen den Staub und Vogelmist von den Grabsteinen wusch und die Sandwege dazwischen in Matsch verwandelte. Kleine Pfützen und Rinnsale bildeten sich.
»Und das andere Foto?«, fragte Elling schließlich .
Sie reichte es ihm. Zusammen blickten sie auf ein SchwarzWeiß-Foto, das ein Dutzend junger Männer in Trainingsanzügen zeigte. Die meisten lächelten in die Kamera, und die, die es nicht taten, wirkten zumindest aufgeräumt und zugewandt. Lona deutete auf den zweiten Mann von links: »Das ist er wieder: Beck.«
Elling erkannte ihn auch.
»Sieht aus wie eine Mannschaft«, sagte Lona.
Elling wiegte den Kopf hin und her, als wolle er das weder bejahen noch verneinen: »Das sind alles Angehörige der Stasi.«
Lona merkte auf.
»Das ist nach irgendeiner sportlichen Ertüchtigung entstanden … die Kopfhaare sind am Ansatz nass, da sind Schweißflecken auf den Oberteilen. Ich kenn die Trainingsanzüge. Das ist definitiv die Staatssicherheit. Niemann hat ja schon bestätigt, dass Beck beim MfS war.«
Mitten im Regen sah sie ihn von der Seite an, und Elling erwiderte diesen Blick. Er kannte ihn gut. Bestimmt zwei Dutzend Mal war er von ihm von unterschiedlichen Menschen heimgesucht worden.
»Nein«, nahm er ihre Frage daher vorweg, »ich war nicht bei der Truppe – war denen zu teuer.«
Er grinste über seinen Witz, und deshalb wusste Lona, dass er die Wahrheit sagte.
»Vielleicht kommen Krohn und er einfach aus demselben Stall und kannten sich daher.«
Sie deutete mit dem Finger auf die jungen Männer.
»Aber da ist er, glaube ich, nicht dabei, Krohn, meine ich. Und vom MfS zum LKA  … nicht einfach, oder?«
Sie sah ihn an wie einen kleinen Jungen, dem man die schmerzliche Mitteilung machen musste, dass es Winnetou nicht wirklich gibt: »Die haben zu Hunderten ihre Akten geschreddert, ihre Lebensläufe manipuliert, die sind in der Polizei und in der Bundeswehr abgetaucht, die sind überall untergekommen, Elling. Bleibt die Frage, warum Krohn die Fotos mit sich herumgetragen hat. «
Frank Elling studierte gerade dasjenige, das Beck mit dem Unbekannten zeigte. Und die Postkarte. Einige Partien waren heller, andere dunkler. »Die haben zum Teil übereinandergelegen«, sagte er leise und beugte sich vor. Er legte die Postkarte und die beiden Fotos vor sich auf den Boden des Pavillons und ordnete sie so an, dass die verblichenen Bildfragmente verschwanden. Er tat das in einer Geschwindigkeit, die Lona verblüffte. Sie hätte eine Weile gebraucht, um das exakte Muster zu finden, in dem die drei Elemente anzuordnen waren.
»Das war schnell«, konstatierte sie.
»Ich war im Vorteil«, räumte er ein, »ich kannte das Muster – und du nicht.«
»Woher?«
»Das sind die Umrisse auf der Pinnwand von Alexander Beck. In der Küche. Jemand hatte sie abgenommen. Ich dachte, vielleicht er selbst, aber …«
Er sprach es nicht aus. Stattdessen zückte er sein Handy, mit dem er die Pinnwand abfotografiert hatte, und gab es ihr. Lona blickte abwechselnd auf das digitale Foto – und die drei Bilder am Boden, um beide Umrisse aneinander abzugleichen. Elling hatte recht. Es passte haargenau.
»Dann war Krohn in Becks Wohnung.«
»Vermutlich. Oder jemand, der die Postkarte und die zwei Fotos abgenommen und ihm später gegeben hat«, antwortete Elling.
Eine Böe fegte etwas Regen in den Pavillon und ließ sie enger zusammenrücken, sodass ihre Beine sich berührten.
»Er war in Becks Wohnung. Vor uns. Das ist kein Zufall«, legte Lona sich fest, »kein Zufall. Und er nimmt zwei Dinge mit, den Hinweis auf Becks Vergangenheit bei der Stasi und … den auf Marnow.« Sie zückte ihr eigenes Handy und wählte die Nummer der KTU .
»Frau Mendt?«
»Ja.«
»Ich brauche dringend das Bewegungsprofil für diese Nummer vom … «
»Das Profil ist in Arbeit, es ist noch nicht komplett.«
»Muss es momentan auch nicht. Haben Sie die Funkzellen für den Dienstag?«
»Sie, ähm, Augenblick … Moment.«
Lona Mendt hörte das Rascheln von Papier. Dann das Klackern der Tastatur. Sie schaltete die Lautsprecherfunktion ein, sodass Elling mithören konnte.
»Sie meinen den 12. August«, versicherte er sich.
»Den meine ich.«
»Hab ich. Bei Ihnen regnet’s, hm?«
»Ziemlich, ja. Uns interessiert Rostock-Toitenwinkel, der Fundort der Leiche von Herrn Beck: Ist die Albert-Schweitzer-Straße 4 in einer der Zellen, in die das Handy sich eingewählt hat?«
Es dauerte nur ein paar Sekunden.
»Ja.«
»Wann?«
»Am 12. August abends, von … hier: von 18:44 Uhr bis 22:07 Uhr.«
»Das sind über drei Stunden«, überschlug Elling.
»Ja«, bestätigte der KTU -Mann aus Rostock und räusperte sich: »Herr Elling?«
»Hm?«
»Was ist mit dem Säugling?«
»Lebt. Wir haben ihn gefunden, er lebt.«
»Zum Glück«, sagte Niemann mit einem tief empfundenen Seufzen. Nie war er Lona näher gewesen. Und nie würde er das erfahren.
»Denken Sie noch an die richterliche Genehmigung, Herr Elling?«
»Bekommen Sie. Haben Sie eine PIN vom Mobilfunkanbieter für das Handy?«
»Gerade reingekommen, ja. Eigentlich hab ich sie schon vor zehn Minuten bekommen, es war bloß … viel los.«
»Und?«
»1-2-0-8. «
Elling tippte die Ziffernfolge in Krohns Handy ein, das die Eingabe mit der Abbildung einer neuen Eingabemaske quittierte, die die SIM einforderte.
»Ich brauche die SIM «, ließ er Niemann wissen.
»Die haben mir eine neue SIM zum Entsperren gegeben, die hab ich hier … da ist sie: 1-7-1-2.«
Elling gab die vier Ziffern ein – und schaltete das Handy damit tatsächlich frei. »Hat geklappt, danke.«
»Noch was, Herr Niemann«, sagte Lona, »wo war das Handy die drei Stunden davor eingewählt? Anders gesagt: Hat es sich da auch schon mal in dieser Funkzelle befunden, vorher?«
Wieder das Tippen auf der Tastatur. Er tippte mit zwei, maximal drei Fingern, schätzte Elling, denn er schlug hart und laut an, was beim Zehnfingersystem unnötig war.
»Nein«, bestätigte Niemann dann Lonas Vermutung, »nein, er war vorher gar nicht in Rostock.«
»Danke – bleiben Sie noch einen Augenblick dran, bitte?«
»Aber gerne.«
Elling tat das, was sie auch getan hätte – er durchsuchte die Liste der Anrufe für den fraglichen Zeitraum, in dem Krohn in Toitenwinkel gewesen war.
Dabei stieß er auf eine Nummer, die Krohn um 20:37 Uhr am 12. August aus der Wohnung des Opfers angerufen hatte: 0155 / 22 22 7 22.
»Herr Niemann?«
»Ja?«
»Wir brauchen den Namen hinter folgender Nummer«, sagte er und gab dem KTU -Mann die Mobilnummer durch.
»Wird erledigt.«
Sie bedankten sich bei Niemann, bevor sie die Verbindung unterbrachen.
»Krohn hat diese Nummer ziemlich oft angerufen in letzter Zeit.«
»Er ist Täter Nummer zwei«, stellte Lona fest. »Während der ersten Tatphase war Krohn nicht in Rostock. Da hat Täter Nummer eins den Mord an Alexander Beck begangen.«
»Und sich die Antworten auf seine Fragen geholt«, ergänzte Elling.
Lona nickte: »Und ungefähr drei Stunden später kommt Stefan Krohn dazu. Er entdeckt die Leiche.«
»Und führt dann ein Telefonat mit 0155 / 22 22 7 22.«
»Um diese Person darüber zu informieren, dass Beck tot ist, nehme ich mal an«, brachte Lona den Gedanken zu Ende.
Das Prasseln des Regens auf dem Dach des Pavillons ließ etwas nach. Sie sahen sich an und entdeckten im Gesicht des anderen mitten im Sommergewitter das Aufkeimen von Hoffnung. Endlich ein Hebel, ein Ansatz.
»Wir sind dran, Elling«, stellte Lona erleichtert fest.
»Ja«, bestätigte er und sorgte sich gleichzeitig, wohin das alles führen sollte.
Sie las einfach in seinem Gesicht: »Was bereitet dir Kopfzerbrechen?«
»Ob das nicht eine Nummer zu groß ist für uns.«
»Gibt es so eine Kategorie für Supermänner?«
»Im Ernst. Krohn ist vom LKA . Und er legt eine Fehlspur. Er will uns ablenken – ist dir mal aufgefallen, wann Krohn zu uns gestoßen ist?«
»Nach der Geldübergabe.«
»Auch. Aber ich meine, nach unserer Ankunft hier in Marnow.«
»Dass wir hier sind, hat ihn aufgescheucht?«
»Ja, und natürlich gibt es keinen alten Fall. Der wollte einfach auf den aktuellen Stand unserer Ermittlungen gebracht werden. Und bleiben.«
»Ja«, stimmte Lona zu, »er wollte wissen, wann wir ihm zu nahe kommen. Deshalb hat er bei uns nachgehorcht, wie nahe wir schon sind.«
»Und deshalb hat ihm deine Theorie mit den zwei Tätern auch nicht gefallen«, schloss Elling.
Krohn .
Menschenfleisch.
Ihr war, als könne sie ihn riechen, als fahre sein Atem über ihren Nacken.
Lona schüttelte sich kurz. Wo auch immer sie hingehen würde, Krohn würde von nun an immer dabei sein. Sie wusste, dass mit Krohns Tod für sie letztlich nichts beendet wäre.
»LKA «, sagte Elling nachdenklich und holte Lona aus ihren Gedanken zurück, »und dann ist er auch nicht alleine unterwegs. Zumindest gibt es noch jemanden, mit dem er in Kontakt steht. Derjenige, den er angerufen hat. Was ist, wenn das noch nicht alles ist? Wenn da noch mehr hinterstecken? Was war diese Vertuschung? Eine offizielle LKA -Aktion?«
»Das … glaube ich nicht.«
»In was schlittern wir hier rein?«
Lona deutete ein Achselzucken an. Nicht gleichgültig, sondern ratlos, was sie darauf antworten sollte.
»Vielleicht sollten wir abhauen«, meinte Elling, »noch ist Zeit.«
Lona wollte nicht, aber sie konnte nicht anders, sie musste lächeln: »Wie denn, du und ich, Elling? Im Wohnmobil um die Welt? Fische fangen und Schmuck aus Muscheln basteln und an Touristen verkaufen, so was? Du bist hier gebunden, Elling. Du kannst nicht gehen.«
»Aber du – du bist frei«, sagte er. Seine Stimme klang rau.
Lona runzelte die Stirn: »Wie kommst du darauf?«
Jetzt zuckte er mit den Achseln. »Du bist es eben. Du bist der freieste Mensch, den ich kenn.«
»Ja, und jeden zweiten Tag brauch ich Frischwasser und Strom. Nicht weit her mit meiner Freiheit.«
»Du weißt, was ich mein’.«
Er musste sie gar nicht erst anschauen, um zu wissen, dass sie genau begriffen hatte, wovon er sprach.
Das Gewitter war weitergezogen und hatte die Hitze mit sich gerissen. Die Tropfen fielen noch von den Blättern der Bäume, sie verursachten den Dampf, der auf dem Friedhof und den Wiesen ringsum aufstieg .
Lona Mendt überlegte ein paar Augenblicke, bevor sie Elling antwortete. »Ich bin nicht frei, nur weil ich überall hingehen kann. Ich darf nicht stehen bleiben, das ist alles«, sagte sie dann.
Elling musterte seine Kollegin, die ihn offen ansah. »Bei mir kannst du stehen bleiben.«
Lona nickte: »Weil du nicht fragst.«
Lona informierte Krohns Dienststelle noch vom Friedhof aus.
»Wie es aussieht, ist das beim Waffenreinigen passiert, ja.«
»Haben die das geschluckt?«, wollte Elling wissen, nachdem Lona das Telefonat beendet hatte.
»Für den Anfang ja.«
Bevor sie den Friedhof verließen, ging Lona zu dem Grabstein mit dem Riss. Der, an dem der alte Mann gestanden hatte. Die Inschrift lautete: Kerstin Hildebrandt, 01. 02. 1981 – 02. 10. 1988.