Das LKA
rückte mit einem Dutzend Beamten an. Sie brachten ihre eigene Spurensicherung mit, deren Mitarbeiter in ihren Astronautenanzügen damit begannen, jeden Quadratzentimeter in Bungalow Nummer zwei umzudrehen und zu durchleuchten.
Eine ganz Korrekte mit Kurzhaarschnitt stellte sich Elling und Lona mit energischem Händedruck vor: »Svenja Pröscher. Ich leite das LKA
Meck-Pomm.«
Eine Axt hätte den Scheitel nicht gradliniger anlegen können.
»Es tut uns sehr leid wegen der Verletzung des Kollegen«, meinte Lona.
»Danke.«
»Haben Sie uns Herrn Krohn zugeteilt?«
»Nein. Er hat alleine operiert.«
Lona kniff die Augen zusammen: »Wie läuft das konkret, wenn ich fragen darf?«
»Dürfen Sie. Er meldet sich ab, ich genehmige das.«
»Muss er da was vorlegen?«
»Nein. Er taucht einfach ab. Das Vorgehen ist ja auch seine Lebensversicherung. Ich will, dass jeder VE
von meinem Radar verschwindet. Ich will, dass sie unsichtbar sind. Warum fragen Sie?«
Das erwischte Lona auf dem linken Fuß. Langsam kamen die ersten Schaulustigen näher. Elling war das gewohnt. Er wusste, warum sie kamen. Natürlich wegen der Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren Anzügen. Auch. Aber was sie quasi magisch anzog, waren die rot-weißen Absperrbänder.
»Weil er uns von einem drei Jahre alten Fall erzählt hat, der uns interessiert«, sprang Elling ein
.
Pröscher überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf: »Komme ich im Augenblick nicht drauf.«
Wenn Stefan Krohn als verdeckter Ermittler unterwegs gewesen war, hatte er im Detail stets alleinverantwortlich gehandelt. Das LKA
setzte die VE
s vielfältig ein. Oftmals, um ins kriminelle Milieu einzutauchen und es dauerhaft zu infiltrieren. Informationen abzuschöpfen, damit die Kollegen offiziell was in der Hand hatten.
Oder auch, was seltener vorkam, gegen Leute aus den eigenen Reihen. Vielleicht war dies so ein seltener Fall.
Ein kleiner Škoda fuhr vor und hielt nur wenige Meter entfernt innerhalb der Absperrbänder. Auf der Fahrerseite stieg ein Dreikäsehoch mit einem Anzug von C&A aus. Ein Allerweltsgesicht mit schmalen Augen – ein Blau wie ein Gebirgsbach.
Auf der anderen Seite verließ eine junge Frau den Wagen. Sie trug in dieser mörderischen Hitze, die trotz des Gewitters herrschte, eine schwere Tasche mit sich. Hornbrille, Haare zu einem züchtigen Zopf gebunden. Ihre Augen waren braun. Kein Gebirgsbach. Aber ebenso sachlich wie die ihres Chefs, der bereits Pröscher, Elling und Lona erreicht hatte.
Er schüttelte Svenja Pröscher die Hand: »Guten Tag, Frau Pröscher, was macht der Kollege?«
»Ihm geht’s so weit gut, hör ich. Ich hab kurz mit der Klinikleitung telefoniert.«
»Sein Zustand ist stabil«, sprang Elling ein, »er liegt jetzt im künstlichen Koma.«
Der junge Mann nickte: »Simon Rost, Staatsanwaltschaft Rostock, meine Kollegin Frau Ritter.«
»Guten Tag«, sagte die junge Frau mit der schweren Tasche. Händeschütteln. Das alles wie ein ungelenker Staatsbesuch.
»Sie sind Frau Lona Mendt?«, fragte Rost. Er trug eine tiefe Narbe unter dem linken Auge. Kein einfacher Schmiss, die Verletzung war massiv gewesen. Bis runter zum Wangenknochen. Sie nahm ihm ein wenig das Jungenhafte.
»Ja«, bestätigte Lona.
»Sie haben ihn gefunden?
«
»Wir beide«, sagte Elling.
Rost musterte ihn kurz: »Herr Frank Elling?«
»Genau.«
Sie reichten sich ebenfalls die Hände.
Das Jungenhafte an Simon Rost täuschte Elling nicht, er war in Habachtstellung. Denn vor ihm stand ein reinrassiger Terrier. Einer, der nicht mehr losließ, wenn er erst mal zugebissen hatte.
»Die Waffe, die zu den Verletzungen geführt hat, ist Ihre, Frau Mendt? Bin ich da richtig informiert?«
»Ja, das sind Sie. Herr Krohn hatte sie wohl an sich ge …«
»Dazu befrage ich Sie gleich«, unterbrach der Staatsanwalt sie mit leiser, sanfter Stimme, »darf ich Sie bitten, Ihre Dienstwaffe hier in den Beutel zu legen? Wir händigen Ihnen nachher eine neue aus.«
Seine Begleiterin, Frau Ritter, zog aus ihrer großen Umhängetasche eine Tüte heraus und öffnete sie.
Lona nahm die Pistole, ließ das Magazin aus dem Knauf und zog den Schlitten zurück, damit die Kugel im Lauf ausgeworfen wurde. All das ließ sie in die Tüte fallen, die Frau Ritter wieder verschloss und mit einem Aufkleber versah, der die Tüte versiegelte, bevor sie alles wieder verstaute.
»Es war für Sie beide ein sehr belastender Tag, deshalb möchte ich Sie nicht über Gebühr beanspruchen«, sagte Rost ruhig, während seine Pupillen unablässig zwischen ihren Gesichtern hin und her wanderten, »aber Sie wissen ja, dass bei einer … zweifachen Schusswunde bei einem LKA
-Kollegen eine Befragung routinemäßig ansteht. Frau Mendt, mit Ihnen würde ich gerne beginnen. Vorher untersucht die KTU
Ihrer beide Hände auf Schmauchspuren. Das dient der Bestandsaufnahme, das Procedere kennen Sie ebenfalls.«
Sie machten beide gute Miene zum bösen Spiel. Die unabhängige, zeitversetzte Befragung wandten Lona und Elling selbst bei Verhören an.
Vorteile: Falls die Geschichte fragwürdig war, offenbarte sich das bereits in den Aussagen der Beteiligten, die voneinander
abwichen, da man ihnen die Chance nahm, sich auf eine identische Lüge festzulegen. Falls ein Beteiligter den anderen aus Angst deckte und zum Beispiel alle Schuld auf sich nahm, konnte der vor ihnen auspacken und die Wahrheit erzählen, denn er konnte auf diese Weise seinen Kollegen verraten, ohne ihm dabei in die Augen schauen zu müssen.
Nachteile: keine.
Und was die Schmauchspuren betraf – die klebten an dem gelben Gummihandschuh, den Lona bei den Schüssen auf Krohn getragen hatte. Die KTU
würde nichts an ihren Händen finden.
Die Befragung erfolgte in einem Nebenraum von Bungalow zwei – dem Esszimmer. Ein Tisch, vier Stühle, die Tür zur Veranda, mehr fand sich hier nicht.
Lona Mendt saß mit dem Rücken zur Wand. Die Fingerspitzen von Frau Ritter schwebten über der Tastatur eines Laptops.
Wie kleine Raubvögel, dachte Lona, die in der Abendluft flatterten, die Position hielten und dann blitzschnell hinabstießen.
Rost nickte seiner Assistentin zu, und die aktivierte die Aufnahme am Diktiergerät.
»Befragung von KHK
Mendt, Lona, Kriminalpolizei Rostock, durch Rost, Simon, Staatsanwaltschaft Rostock wegen der zweifachen Schussverletzung zum Nachteil von Krohn, Stefan, EKHK
des Landeskriminalamts Schwerin, Aktenzeichen 1208 Js. Ort: Marnow. Datum: Samstag, 16. August 2003.«
Anschließend wandte er sich an Lona. Ruhig, zuvorkommend, konzentriert. »Sie haben die Schüsse gehört?«
»Genau.«
»Um wie viel Uhr war das?«
Lona deutete ein Achselzucken an: »Wir waren etwa gegen halb zehn in der Klinik, ich hab vorher nicht auf die Uhr geguckt … vielleicht weiß es Herr Elling genauer.«
»Schätzen Sie einfach«, forderte Rost sie auf und blätterte in seinen Unterlagen, »so in etwa, Frau Mendt.«
»Na, wie gesagt, wir waren so gegen halb zehn in der Klinik,
glaube ich. Vorher der RTW
, der hatte ja auch Anfahrt, Verbringung von Herrn Krohn in das Fahrzeug, die Fahrt um den See ins Krankenhaus … ich schätze, so um neun Uhr rum.«
»Viertel vor neun, zehn vor neun«, schätzte Elling.
Eva Ritter tippte seine Aussage in ihr Notebook.
Simon Rost hob den Blick von seinen Unterlagen: »Die Notrufzentrale hat Ihren Anruf um 9:04 Uhr entgegengenommen.«
»Ah ja.«
»Wo waren Sie, als Sie die Schüsse gehört haben, Herr Elling?«
»Im Wohnmobil von Frau Mendt.«
Simon Rost blinzelte kurz, auch Eva Ritter sah auf.
»Die Kollegin macht hier … Ferien?«
»Nein. Sie wohnt da drin, in dem … Wohnmobil.«
Andere brauchten eine gute Minute, um es zu verinnerlichen, wenn sie es das erste Mal hörten. Nicht so Rost. Der beließ es bei einem trockenen Nicken.
»Und wissen Sie, wo sich Frau Mendt in diesem Moment befunden hat?«
»Auch im Wohnmobil.«
»Wir waren beide in meinem Wohnmobil«, sagte Lona.
»Was haben Sie da gemacht?«
»Wir haben nach meiner Dienstwaffe gesucht.«
»Wann haben Sie das Verschwinden bemerkt?«
»Als ich aus den Waschräumen zurückgekommen bin. Ich habe die eigentlich immer oben auf dem Kühlschrank liegen, aber da war sie nicht mehr.«
»Frau Mendt ist aufgeregt zu mir gekommen und hat mir von dem Verschwinden ihrer Dienstwaffe erzählt«, erläuterte Elling dem Staatsanwalt.
»Sie waren also auch dienstlich vor Ort?«
»Der Bungalow, in dem wir sitzen, ist von einem Mordopfer bewohnt worden. Deshalb waren wir hier.
«
Rost blätterte hin und her. Ergebnislos. Eva Ritter deutete auf eine Zeile in ihrer Akte, die sie ihm so hinschob, dass er einen Blick darauf werfen konnte. »Zum Nachteil von Herrn Alexander Beck?«
Elling nickte.
»Das Band hört Ihr Nicken nicht, Herr Elling.«
Kein Vorwurf, keine Ermahnung, nur eine Feststellung. Elling hätte gerne gewusst, ob es etwas gab, was Herrn Rost aus der Ruhe bringen konnte.
»Ja«, sagte er dann, »und wenn eine Dienstwaffe verschwindet, dann ist das natürlich als Polizist eine mittlere Katastrophe. Deswegen haben wir dann gesucht. Manchmal verlegt man ja nur was. Morgens, nach dem Aufwachen, man ist noch nicht ganz da. Also haben wir da mal zuerst nachgesehen.«
»Aber die Dienstwaffe nicht gefunden«, schloss Rost.
Lona nickte.
»Das Band hört Ihr Nicken nicht.«
»Ja, wir haben sie nicht gefunden.«
»Als Kriminalhauptkommissarin sind Sie mit den Dienstvorschriften über das Tragen und Verwahren von Dienstwaffen vertraut«, stellte er fest.
»Ja.«
»Verschließen Sie Ihre Dienstwaffe nicht?«
»Nein.«
»Warum?«
»Es ist mir zu umständlich. Ich ging davon aus, dass sie im Wohnmobil für einen kurzen Zeitraum von 20 Minuten auf einem belebten Campingplatz sicher ist. Ich hatte bloß die Tür nicht abgeschlossen.«
Simon Rost räusperte sich kurz und wandte sich an seine Assistentin: »Machen Sie mir da einen internen Vermerk rein, ins Protokoll, bitte, Frau Ritter.«
Ihre Finger jagten über die Tastatur, und Rost wandte sich an Lona: »Da kommen Sie um eine Dienstaufsichtsbeschwerde nicht
herum, Frau Mendt. Ich bin dazu verpflichtet – nur, damit Sie das richtig einordnen. Gut. Sie haben dann also die Schüsse gehört.«
»Genau«, bestätigte Elling ihm, »Frau Mendt hatte ihr Wohnmobil nicht abgeschlossen.«
»Das wissen wir bereits, danke. Und dann?«
Elling war hochkonzentriert. Wenn Lonas und seine Antworten sich nicht haargenau deckten, würde dieser junge Mann sie schreddern.
»Dann sind wir in den Bungalow gelaufen. Und da lag Herr Krohn … hinter der Couch, ich …«
Simon Rost hob den Unterarm in einer ruhigen, überlegten Geste: »Augenblick, bitte, Herr Elling. Sie beide hören die Schüsse, und dann laufen Sie in den Bungalow Nummer zwei. Derjenige, in dem wir jetzt sitzen.«
»Ja.«
Elling sah kurz hinüber zu dem Team der Spurensicherung. Sie zupften mit Pinzetten und Klebebändern an der Couch herum und sicherten Haare, Hautschuppen und jede Menge Kleinkram. Er hoffte, Lona und er hatten keine der Federn aus dem Sofakissen übersehen.
Sicher, eine Daune war nicht verräterisch. Das gab es in vielen Haushalten. Aber in keinem lag eine herum, an der sich Rückstände der Treibladung eines Geschosses befanden.
»Wie lange stand denn das Wohnmobil von Frau Mendt eigentlich unverschlossen da?«
Zeiten, Chronologie der Abläufe. All das nahm Rost als Beifang mit. Aber wenn er sie für schuldig hielt, wenn er den Verdacht hatte, sie hätten Krohn über den Haufen geschossen, dann käme er ihnen damit nicht bei. Er hatte es mit zwei erfahrenen Polizisten zu tun, sie würden in keine Anfängerfalle tappen.
Es sei denn, sie verplapperten sich. Deshalb zog er diese Netze wie ein Fischer einfach mit sich. Wahrscheinlich würden sie sich nicht verheddern, vielleicht aber doch. Die Kriminalgeschichte
wimmelte schließlich von Tätern, denen eine Banalität zum Verhängnis geworden war.
Aber der Fangschuss, den er setzen würde, den Lona in jedem Nebensatz erwartete, der würde anders gestrickt sein. Überlegt. Logisch. Nicht zu komplex, aber raffiniert.
»So etwa 15 bis 20 Minuten.«
Simon Rost nickte leicht, eine unverfängliche Antwort auf eine unverfängliche Frage.
»Und mit Ihrem Kollegen Herrn Elling haben Sie dann die Schüsse gehört.«
»Richtig.«
»Und dann sind Sie … hierhergelaufen. In diesen Bungalow? Zu Herrn Krohn?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich verstehe nicht.«
»Warum sind Sie nach den Schüssen, die Sie beide gehört haben, zielgerichtet in diesen Bungalow gelaufen, Frau Mendt?«
Da war sie, die Frage. Wie das unerwartete Zustoßen einer Natter aus dem feuchten Unterholz.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie, um Zeit zu schinden. Um eine möglichst unangreifbare Antwort zu erfinden.
»Gut, lassen Sie es mich so sagen – irgendwo ist da ein Knall auf dem Gelände. Ein Knall, ein zweiter, ich …«
Rost machte ein Gesicht, als habe er sich gerade verplappert, und redete daher schnell weiter: »Ich frage mich, da sind ja vier Bungalows, korrekt?«
Er schoss die Frage raus, damit sie sich nicht auf seinen Fauxpas konzentrieren konnte, damit sie ihn vielleicht gar nicht bemerkte. Er wollte ihre Gedanken auf Trab halten und fortführen.
»Ja, vier.«
»Und Sie beide laufen exakt in Nummer zwei – warum?«
Lona spielte Zögern. Als habe er sie ertappt. Aber Rost, der Terrier, verzog keine Miene.
»Den ersten Schuss konnten wir nicht zuordnen. Aber draußen,
vor dem Wohnmobil, war es dann klar – dann kam ja erst der zweite Schuss.«
Der junge Staatsanwalt ließ sich immer noch nichts anmerken, aber seine Muskelspannung um die Kiefer herum ließ nach, wie Lona registrierte. Sie hatte seine Fangfrage pariert. Und hoffte, Elling wäre hellhörig genug, um zu hören, wie sie sich auch in seinem Rücken heranschleichen würde.
»Tja, was soll ich da sagen? Das, ähm, Wohnmobil ist ja nicht weit weg vom Bungalow. Das konnte man schon ziemlich genau hören.«
»Wissen Sie, wie sich der Schall ausbreitet, Herr Elling?«
In Wellen natürlich. Konzentrisch. Über viermal schneller unter Wasser als darüber. Im Vakuum gar nicht, zum Beispiel im Weltall, weshalb all diese Filme mit laut explodierenden Raumschiffen im Weltall kompletter Blödsinn waren. Was ihn, Elling, nicht vom Anschauen abhielt.
All das sagte er nicht. Er mochte es, unterschätzt zu werden. Die Leute zeigten eher ihr wahres Gesicht, wenn sie sich überlegen fühlten. Und Elling gab ihnen deswegen dieses Gefühl.
So auch jetzt: »In Wellen?«
»Genau«, bestätigte Rost und beugte sich vor, um ihm tief in die Augen zu blicken: »Aber vor allem breitet er sich in alle Richtungen gleichmäßig aus. Konzentrisch. Als würden Sie einen Stein ins Wasser werfen.«
»Ach so.«
»Ja. Sagen Sie mal, die Schüsse, kamen die direkt hintereinander?«
Elling schluckte. Er goss sich von dem Wasser nach, das auf dem Tisch stand, um Zeit zu gewinnen. Es schüchterte ihn durchaus ein, dass der Mann ihm gegenüber gut und gerne zehn Jahre jünger war und ihn trotzdem so in die Enge treiben konnte. »Heiß heute – auch?« Er hielt dem Mann die Flasche über dessen Glas.
»Danke«, antwortete Rost mit einem Kopfschütteln, »Sie vielleicht, Frau Ritter?
«
»Auch nicht, danke, Herr Elling.«
Mit Sicherheit hatte der junge Staatsanwalt Lona die gleiche Frage gestellt. Andere Worte gewählt – auf jeden Fall hatte er ihr auch ein Bein zu stellen versucht. War es ihm gelungen? Was hatte sie geantwortet?
»Herr Elling?«
»Ich überleg noch«, gab er trocken zurück. Und das gefiel ihm. Grace under pressure,
hatte Hemingway das genannt. Kürzer und vornehmer konnte man es nicht auf den Punkt bringen, wenn man dem schlafenden Löwen hocherhobenen Hauptes kräftig auf den Schwanz trat. In der Todesverachtung lag letztlich die größtmögliche Freiheit des Menschen. Immer schon.
Und so kam es, dass Elling lächeln musste, weil hier und jetzt in Bungalow Nummer zwei auf einem Campingplatz in Marnow all der menschliche Ballast von ihm abfiel. Weil er sich genau hier, während dieser Mann mit der Narbe und den kristallklaren Augen ihn festzunageln versuchte, so frei fühlte wie in seinem ganzen Leben noch nicht.
»Warum fragen Sie das eigentlich? Wollen Sie uns was anhängen? Dass ein Kollege da drüben«, er deutete quer über den See und wurde laut, »gerade mit dem Tod ringt? Denken Sie, uns lässt das kalt?«
»Beruhigen Sie sich, bitte, Herr Elling.«
»Da denk ich ja gar nicht dran – ich bin nicht ruhig, solange ich nicht weiß, ob Herr Krohn das überlebt.«
Ritter und Rost wechselten zwei Blicke, dann musterte Simon Rost ihn. Elling hatte eine verärgerte Miene aufgesetzt.
»Ich möchte nur wissen …«
»Sie wollen wissen, ob wir auf Herrn Krohn geschossen haben.«
»Nein, ich will nur wissen, warum er die Dienstwaffe von Frau Mendt aus deren Wohnmobil entwendet hat. Und warum er sich damit zwei Schussverletzungen zugefügt hat. Ein Suizidversuch wird das wohl kaum gewesen sein.«
Na bitte, jetzt war er aus der Reserve gekommen
.
»Ich muss Sie das trotzdem fragen, Herr Elling – warum sind Sie mit Frau Mendt sofort in diesen Bungalow hier gelaufen? Es gibt ja vier. Ich …«
»Sie wollen uns doch hier was anhängen.«
»Nein, das ist nicht meine Intention. Meine Aufgabe besteht darin, der Staatsanwaltschaft Rostock ein möglichst kohärentes Bild der Abläufe hier vor Ort zu geben. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Mir liegt es völlig fern, Ihnen oder Frau Mendt irgendein Fehlverhalten anzuhängen.«
Elling nickte. Er wusste jetzt, worin Rosts offene Flanke bestand. In seiner Rechtsauffassung, natürlich. Und zwar im Kern in der Anzweiflung seiner juristischen Neutralität.
»Ich möchte es nur nachvollziehen können, Herr Elling, deswegen … ich formuliere es mal anders: Hätte ja auch sein können, dass ein paar Kinder, ich spinn jetzt mal, beim Versteckspielen auf die Waffe gestoßen sind … und damit rumspielen. Am See. Oder dass der Pächter das offene Wohnmobil bemerkt hat und sicherheitshalber die Wertsachen im Fahrzeug in seinem Büro hinterlegt … und auch die Waffe. Es gibt, darauf möchte ich hinaus, eine Menge Möglichkeiten, wer sich in diesen rund 15 Minuten die Waffe angeeignet haben könnte. Ich meine: Wie kommen Sie nach dem Hören von zwei Schüssen zu dem Schluss, dass Herr Krohn die Dienstwaffe von Frau Mendt mitgenommen haben könnte – und sie auch noch abfeuert?«
»Ich sag Ihnen was, Herr Rost: Wenn Frau Mendt und ich vorgehabt hätten, Herrn Krohn umzubringen, dann hätten wir das ganz bestimmt nicht mit einer unserer Dienstwaffen getan. Wir hätten es auch nicht an einem öffentlichen Ort getan, wir hätten ihn an einen verschwiegenen Platz gelockt. Und ganz sicher hätten wir dann nicht den Rettungsdienst alarmiert – und uns damit auch noch dem Mann ausgeliefert. Wenn er aufwacht, würde er uns ja sofort belasten. Diese These macht hinten und vorne keinen Sinn.«
Er legte eine Pause ein, um dann trocken hinzuzufügen: »Wir
sind in den Bungalow zwei gelaufen, weil wir den über die Kripo Rostock bis auf Weiteres angemietet haben. Und Herr Krohn wusste das. Der Bungalow war offen. Es war naheliegend, zuerst in ihm nachzuschauen.«
»Der Herr Krohn, war der vorher schon mal in Ihrem Wohnmobil?«
»Ja«, bestätigte Lona und verkrampfte sich unwillkürlich, weil sie erneut seinen Atem in ihrem Nacken zu spüren glaubte. Den Schmerz. Die Erniedrigung.
Rost betrachtete sie kurz. »Ist der Ihnen gegenüber mal übergriffig gewesen?«
»Nein«, erwiderte sie, und obwohl sie ihm dabei gerade in die Augen blickte, schien er sich nicht ganz sicher zu sein, ob das zutraf oder nicht. Entschied sich dann aber offensichtlich, jetzt nicht nachzuhaken.
»Sie sind dann in diesen Bungalow hier gekommen.«
»Ja. Und Herr Krohn hat da gelegen«, antwortete Lona und deutete hinüber zu dem Blutfleck hinter der Couch.
»War er alleine?«
»Ja. Er hat sich beim Reinigen der Pistole schwer verletzt.«
»War Herr Krohn zu dem Zeitpunkt noch ansprechbar?«
»Das war er, ja.«
»Woher wissen Sie eigentlich, Frau Mendt, dass er die Waffe gereinigt hat? Sah es danach aus? Tücher, Öl?«
»Weil er es gesagt hat. Wir wissen es von ihm.«
Und das war nicht mal eine komplette Lüge. Es war schließlich Krohn selbst gewesen, der auf die absurde Idee gekommen war, zu behaupten, zu seinen Verletzungen sei es beim Waffenreinigen gekommen. Aber wer um Himmels willen sollte das glauben?
»Hat er auch gesagt, wie das passiert ist?«
»Nein, wir waren ja bemüht, einen Druckverband anzulegen und ihn zu stabilisieren, bis der Rettungswagen eingetroffen ist. Da … hat niemand was lange erklärt. Er hat nur gesagt, es hätte
wohl was geklemmt. Er hat das aber nicht erklärt. Ich nehme an, Herr Krohn hat es dann mit Kraft versucht, und dann hat sich der Schuss gelöst. Ist aber reine Spekulation.«
Die Tasten auf Eva Ritters Laptop klapperten in schnellem Rhythmus. Es erinnerte Elling an den Regen auf dem Dach des Pavillons heute Mittag.
Simon Rost nickte, dann goss er seiner Assistentin und sich ein und Elling nach.
»Der Herr Krohn, hat der sich Ihnen gegenüber mal über Frau Mendt geäußert?«
»Nein.«
»Halten Sie es für möglich, dass der … sich mal übergriffig gegenüber Ihrer Kollegin verhalten hat?«
»Nein«, log Elling, weil er sich sicher war, dass Lona ebenfalls gelogen hatte.
Rost nickte, lehnte sich zurück und überlegte einen Moment.
»Haben Sie eine Idee, warum Herr Krohn sich die Dienstwaffe von Frau Mendt aus deren Wohnmobil holt, damit in diesen Bungalow geht und sie hier säubert?«
»Da fragen Sie was … nein, hab ich nicht.«
»Eine Erklärung dafür hab ich nicht, nein«, bekannte Lona, »vielleicht, weil ich am Vortag gesagt hab, ich müsste mal wieder meine Waffe reinigen.«
»In welchem Zusammenhang haben Sie das gegenüber Herrn Krohn geäußert?«
»Ich hab es fallen lassen, als es darum ging, welche Dienstpflichten man manchmal aufschiebt. Kann ich Ihnen auch kurz eine Frage stellen?«
»Sicher.«
»Haben Sie seine Familie schon informiert?«
Rost blinzelte kurz: »Familie?«
Lona nickte: »Herr Krohn hat gesagt, er hat drei Kinder.«
Staatsanwalt Rost musste die Frage gar nicht in Worte fassen, sie lag in seinem Blick zu Eva Ritter
.
»Augenblick, bitte«, sagte die und sah in ihrem Rechner nach, um dann den Kopf zu schütteln: »Herr Krohn ist alleinstehend.«
Er hatte also auf die Schnelle drei Kinder erfunden, damit sie ihn leben ließ. Lona verspürte Erleichterung darüber, dass Kindern so ein Vater erspart geblieben war.
»Wie auch immer, Frau Mendt, ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit. Die Einvernahme ist beendet. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass Sie jederzeit den psychologischen Dienst in Anspruch nehmen können.«
»Danke.«
Eva Ritter legte eine Schachtel auf den Tisch und öffnete sie: »Eine Walther P99, Ausführung Linkshänder, plus Magazin und 30 Schuss Munition«, kommentierte sie und schob Lona ein Schriftstück samt Kugelschreiber hin, »das ist Ihre neue Dienstwaffe, Frau Mendt. Wenn Sie hier unten den Empfang bitte quittieren könnten?«
Elling, dessen Befragung nach der von Lona Mendt endete (und zwar ebenfalls mit dem Verweis auf die Betreuung durch den psychologischen Dienst), fielen beim Hinausgehen zwei Männer auf. Beide über vierzig, einer kahlköpfig, glatt rasiert und mit Schnauzer, der andere drahtig, eine längliche Narbe am Ohrläppchen – er hatte früher wahrscheinlich einen Ohrring getragen.
Vielleicht war es Einbildung, vielleicht nicht. Er nahm den Eindruck der beiden einfach mit.
Lona und er setzten sich direkt vor das Wohnmobil an den Marnower See. Das Gewitter vom Mittag war nicht mehr als eine kühle Illusion gewesen. Die Wärme hatte sich wie eine stickige Decke über ganz Mecklenburg-Vorpommern gelegt.
Mit gesenkten Stimmen tauschten sie sich über die Befragung durch Rost aus – und über ihre Antworten. Wie es schien, hatten sie ihm keine offene Flanke geboten, weil ihre Schilderungen sich nicht widersprachen.
»Besser, du nimmst das Geld mit – wenn die auf die Idee kommen, mein Wohnmobil zu durchsuchen …
«
Gerade als das Team der Spurensicherung seine Sachen zusammenpackte und aus dem Bungalow verschwand, entnahm Lona die 100000 aus einem Staufach im Boden des Wohnmobils und gab es Elling.
»Da hätte ich es nicht gefunden«, konstatierte er und stand einen Augenblick unentschlossen herum.
Lona erfasste den Grund seines Zögerns: »Es gehört dir.«
»Nein, ich … das fühlt sich nicht richtig an.«
»Ich will davon nichts. Es ist unwichtig für mich. Ich bin müde, ich bin … ich mache Schluss für heute.«
Sie musste keine Silbe darüber verlieren, er wusste auch so, sie wäre gerne allein. »Du weißt das besser als ich, schätze ich. Aber ich will’s gesagt haben: Können Dämonen kommen, jetzt.«
»Ich bring sie einfach bei den anderen Dämonen unter«, sagte sie und verzog dabei keine Miene.
Sie trug eine Narbe mit sich herum, das war sonnenklar. Nicht den anderen, aber Elling. Und auch bei ihm hatte es eine Weile gedauert, bis es klick gemacht hatte. Das mit den Dämonen war keine flotte Replik, sondern ihr Ernst. Sie wusste, ihr stand eine harte Nacht bevor. Und sie war bereit.
»Dann sehen wir uns Montag«, sagte Elling etwas hilflos.
»Ja.«
Er wollte losgehen, aber dann, einer Eingebung und einem Bedürfnis folgend, beugte er sich vor und schloss sie in den Arm (die andere hielt die Tüte mit dem Geld). Und als Elling loslassen wollte, erwiderte sie die Umarmung. Fest. Er roch ihr Haar, spürte ihre Finger auf seinem Rücken. Viele Augenblicke lang.
»Ich bin dafür vermutlich nicht wirklich geeignet«, sagte er leise, »aber wenn du reden möchtest über das, was Krohn dir … angetan hat …«
Lona senkte die Arme und blickte ihm in die Augen. »Bis Montag, Elling.«
»Ja.
«
Als er sie passiert hatte und auf seinen Volvo zuging, drehte er sich nicht mehr um. Svenja Pröscher saß draußen auf einem Baumstamm und sprach gerade mit Michael Bender. Sie rauchte eine, was Elling daran erinnerte, dass er sich rekordverdächtige anderthalb Stunden keine angezündet hatte, was er sofort nachholte.
»Guten Tag, Herr Elling.«
»Hallo, Herr Bender.«
»Möchten Sie einen neuen Bungalow?«
»Mal sehen, Montag vielleicht. Auf Wiedersehen, Frau Pröscher.«
Er reichte ihr die Hand, die sie schüttelte: »Ich hoffe, Sie können etwas abschalten.«
»Wird schon.«
Sie deutete mit dem Kopf auf die Plastiktüte: »Grillgut?«
»Da sind 100000 Euro drin.«
Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln: »Wir könnten teilen.«
»Ich mag den Konjunktiv.«
Als Elling hinter Marnow an einer Kreuzung bei Rot halten musste, sah er den Mann wieder. Er saß in dem Auto in der entgegengesetzten Fahrtrichtung. Er wollte nach Marnow. Der schwarze Mann. Der Riese.
H – JK
– 17.
Hannover also. Die alte Wirkungsstätte von Lona. Elling griff zum Funk: »Zentrale kommen.«
Lona hatte ihn wahrscheinlich im Laufe des Tages angerufen.
»Zentrale hört.«
»KHK
Elling, ich hab eine Halteranfrage für ein Kfz.«
»Kennzeichen?«
»H – JK
– 17.«
»Einen Moment.«
Er hörte, dass der Hörer am anderen Ende auf der Tischplatte abgelegt wurde. Das Klappern der Tastatur.
Die Ampel sprang auf Grün um. Der schwarze Mann und Elling fuhren aneinander vorbei. Im Innenspiegel sah er, wie dessen
Wagen, ein silberner Honda Civic, kleiner wurde und das Ortseingangsschild von Marnow passierte.
»Hier haben wir den Halter«, meldete sich die Kollegin am Funk, »das Fahrzeug ist zugelassen auf einen Herrn Jens Klein.«
»Wo in Hannover wohnt der, bitte?«
Sie gab ihm die Adresse durch.
Zu Hause im Ringelrankenweg erwartete Susanne ihn mit einem Strahlen. Sie war so guter Laune wie seit Wochen nicht mehr.
Kaum war er angekommen, goss sie ihnen ein Glas Sekt ein.
Er stand nicht wirklich auf Sekt, aber er wollte die Stimmung nicht kaputtmachen. Vielleicht war die Affäre mit Philipp Benedikt beendet. Vielleicht hatte sie sich besonnen. Warum sonst sollte sie ihn so empfangen?
Vielleicht war dies der Beginn einer ihrer leidenschaftlichsten Nächte. Sie stieß mit ihm an.
»Auf uns«, sagte Elling.
»Auf Afrika«, entgegnete sie.
»Hm?«
»Auf Afrika«, wiederholte Susanne, »Idi Amin ist tot.«
Und darauf leerte sie ihr Glas zur Hälfte. Wieder dieser Hals. Wie ein Schwan.
Ja, er würde sie gehen lassen, am Ende. Aber nicht einfach so. Nicht kampflos.
»Das ist … es ist fantastisch, Suse. Toll. Ist er tot?«
»Mausetot.«