Der sechste Tag war ein Sonntag. An einem Sonntag wurde nicht ermittelt. Man schlief aus und trank seinen Kaffee im Garten oder hielt einen kurzen Plausch am Zaun. Oder beides. Jätete etwas Unkraut, putzte den Grill und aß ausgiebig zu Mittag. Suse hatte einen schweren Kopf wegen der zweiten Flasche Sekt auf den Tod von Idi Amin und sich deswegen ein paar Aspirin eingeworfen. Elling fand, sie sah scharf aus. Es war sehr warm, er spürte sein Verlangen nahezu körperlich, während er quer über den Tisch seine Frau betrachtete.
Aber er musste nur an den OB
-Kandidaten denken, damit das nicht überhandnahm. Um sich weiter auf andere Gedanken zu bringen, wandte er sich an Mareike: »Und du? Schon Pläne für die nächsten Wochen?«
»Ja. Luc hat mich eingeladen. Ich will ihn besuchen.«
»Den bleichen Marquis?«
Sie sah ihn verletzt an.
»Das war ein Scherz.«
Seine Tochter legte all ihre Verachtung in die Blicke, mit denen sie ihn bedachte, während sie aufstand und wortlos im Haus verschwand.
Elling seufzte. Er sah zu Susanne, die den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte.
»Was hab ich jetzt wieder gesagt, hm?«
»Lass sie fahren.«
»Sie ist erst 18.«
»Eben. Mareike ist volljährig, sie hat Abitur, Elling.«
»Ach, was heißt denn das schon? Sie ist doch noch ein Kind, letztlich.
«
»Du hast dem Kind gerade ein Auto geschenkt.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wenn Mareike für das Autofahren alt genug ist und für Sex mit einem jungen Mann zu jung, dann ist sie nicht das Problem.«
»Sondern ich?«
»Genau.«
Elling musste tief durchatmen.
»Das wird ja immer besser – jetzt ist die einzige Person in diesem Haus, die sich darum sorgt, mit wem Mareike sich … eine Nacht verbringt, das Problem. Merkst du was?«
»Nur, dass du übertreibst. Was ist? Sie ist jetzt eine junge Frau. Sie hat mit keinem Wort gesagt, dass sie ins Kloster will. Sie hat ihr eigenes Sexualleben. Bist du die katholische Kirche? Lass los.«
Natürlich würde sie bald aus dem Haus gehen, sein Augapfel. Das war nur natürlich. Nur bitte nicht mit dem falschen Idioten.
»Luc ist ein sanfter junger Mann«, setzte Susanne nach, »ich hab ihn beobachtet. Er wird nett sein. Aber er lebt in Frankreich. Mareike hier. Herzschmerz, Tränen, vorbei. Das
wird passieren. Und deshalb solltest du unserer Tochter deinen Segen geben und nicht so einen Affentanz aufführen.«
Elling schnaufte und senkte den Kopf. »Lucky Luc«, sagte er dann.
Susanne musste erst schmunzeln, dann lachen. Sie schenkte ihm einen warmen, sentimentalen Blick. Als überlege sie gerade, ob sie ihn zur Feier des Tages verführen sollte.
Und bevor Susanne es sich anders überlegte, ergriff er sicherheitshalber die Gelegenheit: »Wir könnten uns oben etwas hinlegen.«
»Hab meine Tage.«
Natürlich.
Da Mareike sauer war und Susanne ihren Kopfschmerzen frönte, indem sie es sich im Bikini und mit Sonnenbrille auf der Liege bequem gemacht hatte, überlegte er, ob er auf einen Sprung im Königsblick vorbeischauen sollte
.
Da meldete sich sein Handy mit einer Nummer, die er nicht kannte.
Wer war das? Hatten sie Frau Winter aus der Unterwarnow gezogen, samt des Films, der ihn zeigte, wie er sich bestechen ließ? Oder war Krohn aufgewacht und hatte erzählt, wie es sich gestern Morgen in Marnow wirklich zugetragen hatte?
Wenn ja, käme er gar nicht mehr dazu, das Gespräch entgegenzunehmen. Er läge schon am Boden, das Gesicht im Gras, das Knie eines SEK
-Mannes im Kreuz.
Nach einem kurzen Zögern ging er also ran. »Elling?«
»Frank?«, kam die erstaunte Frage seiner Mutter.
»Mama, alles klar? Woher hast du ein Telefon?«
»Frau Riehl hat mir ihres geliehen.«
»Ich verstehe. Und? Alles gut bei dir?«
»Ich weiß nicht, was passiert ist.«
»Was meinst du?«
»Ich … ich bin plötzlich alt. Von … jetzt auf gleich.«
Ein weiterer Fortschritt des Medikaments, wie Elling sofort realisierte, aber einer von der schmerzlichen Sorte.
»Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich bin eine alte Frau. Und deine Stimme ist … so … so …«
»So was?«
Manchmal hing sie wie eine alte Schallplatte, da half hin und wieder ein kleiner Schubser.
»So erwachsen.«
Sie erinnerte sich an ihr früheres Selbst, eine attraktive, dominante Frau. Mit einem Sohn, der noch in den Kinderschuhen steckte oder zumindest noch unter zwanzig war.
»Ja, Mama. Ich habe eine Frau und eine Tochter. Du … du hast eine Enkelin.«
Es dauerte ein paar Augenblicke, dann hörte er ein unterdrücktes Schluchzen.
»Mama, ich komm dich besuchen.«
»Musst du nicht«, kam es leise zurück.
»Ich wollte sowieso gerade los. Das passt schon.
«
Eine kurze Pause.
»Gut. Aber vergiss nicht wieder deinen Schal.«
Es roch nach Putzmittel, deftigem Essen und altem Mensch. Elling hatte eine gute Nase zum Preis eines empfindsamen Magens.
Der Direktor des Seniorenheims kam ihm auf dem Gang entgegen. Das überraschte Elling: »Guten Tag, Dr. Vogt. Ich wusste gar nicht, dass Sie auch am Wochenende hier sind.«
Der Mann, irgendwo in jener unbestimmbaren Zone zwischen Ende 50 und Anfang 60 unterwegs, hob überrascht den Blick. Offenbar hatte er Elling gar nicht bemerkt und war durch dessen Ansprache aus seinen Gedanken gerissen worden.
»Frank Elling. Ich bin der Sohn von Erika Elling, Zimmer 88.«
Der Direktor nickte. Elling. Zimmer 88. Die 104 Zimmer, über die das Königsblick verfügte, gaben exakt die Preisstruktur des Hauses wieder. Zimmer eins bis Zimmer sechs bildeten dabei das Luxussegment ab. In Zimmer 7–16 residierte immerhin noch die Oberklasse. Und ab dann ging es immer bergab. Bis dann schließlich ab Zimmer 80 der Übergang in das Proletariat des Altersheims markiert wurde.
»Ja«, antwortete Dr. Vogt matt, »ich erinnere mich. Ihre Frau Mutter teilt sich ein Zimmer mit Frau Riehl.«
»Ja, genau«, bestätigte Elling, »und mich würde interessieren, ob das Königsblick gerade ein Einzelzimmer verfügbar hat?«
Der Mann runzelte die Stirn und sah Elling nun genauer an.
»Wir sind eigentlich komplett belegt, Herr Elling. Gerade eben ist aber … es ist gerade jemand von uns gegangen. Ein Zimmer wird also frei.«
»Das tut mir leid«, sagte Elling. Und empfand es tatsächlich. Natürlich war seine Mutter ihm auch eine Bürde. Und das Leben im Ringelrankenweg konnte angenehm unbeschwert sein, wenn Erika mal nicht anrief oder es ihm gelang, einen Tag lang nicht an sie zu denken.
Seine Mutter allerdings nicht mehr auf dieser Erde zu wissen,
das würde ihn tief treffen. Deshalb war ihm der Schmerz jener, die gerade einen Angehörigen verloren hatten, nicht fremd. Und sein Mitleid daher echt.
Vogt, der über jenen wachen Blick verfügte, der ihm die freie Sicht auf die Person hinter der Fassade erlaubte, erfasste Ellings authentische Erschütterung über den Verlust der anderen. »Ich kann Ihnen das Zimmer gerne anbieten, Herr Elling. Aber es ist Zimmer Nummer vier.« Der Direktor trat ans Fenster und deutete hinüber zu den kleinen Bungalows, die sie in den ehemaligen Stallungen errichtet hatten: »Schlafbereich, behindertengerechtes Badezimmer, Wohnbereich mit eigener Küchenzeile und eine eigene, abgetrennte Terrasse mit Blick in den Park.«
»Wenn es noch keine anderen Interessenten gibt, würde ich das gerne für meine Mutter reservieren.«
Direktor Vogt lächelte mit jener Sorte Mitleid, mit dem man einem Kind einen verständnisvollen Wunsch abschlägt. »Darf ich fragen, was Sie im Augenblick für die Unterbringung Ihrer Mutter privat zuzahlen?«
»800 Euro.«
Vogt nickte, blickte dann unwillkürlich nach oben und überschlug in Gedanken, wie hoch sich die Belastung für das Zimmer Nummer vier belaufen würde.
»Nageln Sie mich bitte nicht auf den Euro fest. Aber da kommen statt der 800 so etwa 2000 pro Monat auf Sie zu.«
»Ich nehme es.«
»Das, ähm, ist … es ist eine immense Belastung.«
»Ich nehm’s trotzdem.«
Vogt musterte ihn von der Seite und Elling hielt dem Blick stand. Der Direktor seufzte: »Herr Elling, ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber das wäre im günstigsten Fall ein Anstieg von zwölfhundert Euro im Monat.«
»Ich weiß. Ich hab geerbt.«
»Ach so.
«
Erika starrte ihn ungläubig an. »Ein Einzelzimmer?«
»Ja, Mama, das da«, antwortete er, nahm sie sanft bei ihrer Hand mit den geschwollenen Fingern und führte sie zum Fenster, wo er auf den Bungalow deutete: »Nummer vier. Das ist das mit der Birke. Das hast du dann ganz für dich alleine.«
Erika sah aus wie jemand, der im Kopf eine simple Addition von zwei und zwei nicht bewerkstelligte. Aber sich wie bei einem schleppenden Gang durch Morast mühte und sich Schritt um Schritt erkämpfte, um dann stehen zu bleiben und nicht mehr zu wissen, warum man überhaupt losgezogen war. Und wohin. Und wieso sich mit nur fünfundzwanzig schon Altersflecken auf dem Handrücken gebildet hatten.
Aus ihrer Ratlosigkeit erwuchs Zorn, ein Zorn auf die Welt, die Schabernack mit ihr trieb und sich hämisch grinsend die Hände rieb. Und zwar je hämischer, desto hilfloser sie war. In Windeseile entwickelte sich ein vielschichtiger gordischer Knoten, den nur ihre Wut zu zerschlagen imstande war: »Zimmer vier – du hast Flausen im Kopf, Frank! Wer soll das denn bezahlen? Du hattest schon immer den Kopf … im Eimer.«
Sie meinte in den Wolken.
»Ich bin befördert worden, Mama, ich bin jetzt in einer neuen Gehaltsklasse. Ich zahl das.«
Sie sah ihn an, als wolle er seine arme alte Mutter auf den Arm nehmen.
»Du kannst schon heute in deinen Bungalow ziehen. Es sei denn, du möchtest hierbleiben, bei Frau Riehl.«
»Bei Frau Riehl? Nein. Sie ist ein … Nervenfuchsschwanz.«
»Gut, dann packen wir jetzt. Du kannst deine Sachen aus dem Schrank zusammenlegen, ich geh ins Bad.«
Erika nickte und im gleichen Augenblick kam ihr ein Gedanke, ihr Kopf ruckte in seine Richtung vor: »Frank?«
»Hm?«
»Und ist da auch eine Küche dann?«
»Ja. Ein Herd. Kühlschrank, Spülmaschine auch, glaube ich. Wieso?
«
»Damit ich dann kochen kann für uns.«
»Das musst du nicht, Mama. In Zimmer vier gibt es Vollpension für dich. Und ich komm dich dann besuchen.«
Erika lächelte. Sie schaute hinüber zu Nummer vier: »Das da?«
»Ja.«
»Schön«, befand sie, »es hat eine … Flunder.«
»Ja. Eine Flunderbirke. Höchst selten.«
»So was gibt es doch gar nicht.«
»Du hast recht.«
Elling hatte eine Reisetasche mitgebracht, in die er zuerst das gelbe Kissen mit den 80000 Euro stopfte. Danach alles, was sich von seiner Mutter im Bad befand.
»Hallo, Frau Elling.«
»Guten Tag, Herr Riehl.«
Sehr schön, sie erkannte ihn – den Sohn ihrer Mitbewohnerin, der offenbar vorbeigekommen war, um seine demente Mutter zu besuchen.
»Sagen Sie, meine Mutter sagt, sie hätte ihr Handy hier liegen gelassen. Auf ihrem Nachttisch …«
»Da liegt’s nicht«, hörte Elling seine Mutter sagen.
»Stimmt. Haben Sie vielleicht gesehen, wo sie es hingelegt hat?«
»Ich glaube, sie hatte es gestern mit draußen.«
»Hmm. Davon hat sie nichts erzählt.«
Es entstand eine Pause, dann hörte Elling, wie seine Mutter sich räusperte: »Ich fürchte, Herr Riehl, Ihre Mutter … sie lässt leider etwas nach im Kopf. Tut mir leid.«