34
Lona hatte noch leichte Blutungen. Sie duschte sich gründlich ab, so wie schon gestern Nacht. Wieder und wieder schrubbte sie sich mit der Wurzelbürste. Überall dort, wo er gewesen war. Seine Haut. Sein Mund. Seine Finger. Sein Schweiß. Sie schrubbte, bis ihre Haut hellrot glänzte und weidwund war.
Aber es gab eine Stelle, an die kam sie mit der Bürste nicht heran, nämlich in jenen Bereich in ihrem Hinterkopf, in dem sie – gegen ihren Willen – die Minuten der Vergewaltigung abgespeichert hatte. Dort würde Krohn bleiben, wie ein widerlicher Parasit. Bis auf ihr Sterbebett. Das machte ihr Angst.
Auf der Anrufliste ihres Handys fand sich kein neuer Eintrag. Deshalb rief Lona in der Klinik an und erkundigte sich nach seinem Zustand. Man erklärte ihr freundlich, aber ohne Umschweife, dass die Staatsanwaltschaft Rostock eine Nachrichtensperre erlassen hatte und sie daher nicht befugt seien, etwas über den Gesundheitszustand von Herrn Krohn an Dritte weiterzugeben. Man hoffe auf ihr Verständnis.
»Natürlich.«
Lona ging mit dem Kaffeebecher hinaus zur Uferlinie. Blickte über die Schulter. Bungalow Nummer zwei lag verlassen da. Nur die Absperrbänder flatterten im Wind, wenn sich eine Böe hierher verirrte.
»Schön«, sagte eine einigermaßen junge, aber holprige Stimme. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht, die ein Windstoß zum Tanzen gebracht hatte, und entdeckte den behinderten jungen Mann mit seinem Vater. Die beiden erreichten gerade das Ufer. Der junge Mann hielt seine Angel. Er lächelte breit vor Glückseligkeit, und ganz kurz fragte Lona sich, wer von ihnen beiden glücklicher war, Vater oder Sohn. Sie schwangen auf beruhigende Art im unsichtbaren Gleichtakt.
»Schön«, wiederholte der junge Mann.
»Ja«, antwortete Lona, »es ist ein schöner Tag. Es wird warm heute.«
Der Vater arretierte die Bremsen des Rollstuhls und sah ihn dann an. Sein Blick war von jener Güte, über die man nur durch den Schmerz gelangte. »Er meint Sie«, sagte er zu Lona.
»Oh, danke.«
Der Sohn strahlte.
»Sie machen hier Urlaub?«, fragte Lona.
Der Mann schüttelte den Kopf: »Nein, wir wohnen auf der anderen Seite. Wir hatten früher ein Fischrestaurant, das ist jetzt der Marnower Hof.«
»Ach, da war ich essen. Sehr nett, da.«
Der Mann schenkte ihr ein erfreutes Nicken und blinzelte gegen die Sonne: »Danke. Wir gehen hier nur Angeln – kommt man gut mit dem Rollstuhl hin.«
Sie folgte dem Ufer. Der Platz erwachte. Die Gäste spazierten zu den Waschräumen, sie streckten und reckten sich vor den Türen ihrer fahrbaren Unterkünfte und gähnten herzhaft. Der Duft von Kaffee zog vorbei. Das Lachen von Kindern, das Lied aus einem Transistorradio.
Lona entdeckte Meike Bender, die auf den Planken des Bootsanlegers saß und die nackten Füße ins Wasser hängen ließ. »Guten Morgen, Frau Bender. Stör ich Sie?«
»Nein, nein, kommen Sie.«
Lona nahm neben ihr Platz. Das Holz der Planken war bereits warm. Sie tauchte die Füße ebenfalls in den See. So saßen sie nebeneinander wie alte Freundinnen, die über all die unwesentlichen Dinge hinaus waren, die man in Worte fassen konnte.
»Wie geht es Ihrem Kollegen?«
»Er ist über den Berg. «
»Das freut mich. Er … er hat sich verletzt?«
»Beim Reinigen einer Waffe, ja.«
Frau Bender nickte, sie schickte ein Lächeln über den See. Lona und Meike Bender schwiegen einige schöne Augenblicke lang. Dann begannen auch die Grillen ihr Tagwerk. Benders Blick streifte ihren Arm: »Sie haben sich einen ganz schönen Sonnenbrand geholt.«
»Ja, ich muss besser aufpassen, nächstes Mal … der Herr Beck …«
»Ja?«
»War dieses Mal etwas anders als sonst?«
Sie nickte: »Sonst ist er immer später im Jahr gekommen. Und viel länger geblieben.«
»Ich meinte eher, ob er … sich anders verhalten hat. Ob er vielleicht gestresst gewirkt hat oder … ich glaube, Sie verstehen.«
»Ja. Aber … nein, auf mich hat er wie immer gewirkt. Aber letztlich«, sie sah Lona unvermittelt tief in die Augen, »kann man nicht in die tiefsten Tiefen blicken, ich weiß nicht, kann sein, er hat was mit sich herumgeschleppt. Aber nach außen, da war er aufgeräumt. Er wollte auch wie immer wiederkommen später im Jahr.«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Lona, ging zum Wohnmobil und kehrte mit einem der Fotos zurück, das sie bei Krohn gefunden hatten.
Sie nahm wieder neben der kranken Frau Platz und gab ihr das Foto: »Das links ist Herr Beck. Das war vermutlich noch zu DDR -Zeiten.«
Meike Bender nickte und deutete auf den Kirchturm: »Das ist gar nicht weit von hier aufgenommen worden.«
»Kennen Sie den Mann rechts?«
»Das ist Dr. Hildebrandt«, antwortete sie, ohne zu zögern.
Der Name löste bei Lona zwei Assoziationen aus – die Leiterin der Klinik und der Grabstein auf dem Friedhof, vor dem der alte Mann gestanden hatte.
»Wie fröhlich er da noch aussieht.«
»Noch? «
»Seine Tochter ist früh gestorben«, sagte Meike Bender und reichte ihr das Foto zurück, »Kerstin. Sie war erst sieben.«
»Ein Unfall?«
»Nein, sie war krank. Dr. Hildebrandt hatte hier früher eine Praxis, er war so was wie der Dorfarzt. Dann hat er die Klink geleitet. Bis zum Tod seiner Tochter. Ich … ich hab noch nie einen Menschen so schnell altern sehen. Danach hat er sich zurückgezogen.«
»Er lebt noch?«
»Ja?«
»In Marnow?«
Meike Bender deutete über den See und an der alten Kirche vorbei: »Dahinten, hinter der Klinik. Da wohnen die Reichen.«
Lona folgte ihrem Fingerzeig. Und tatsächlich, in dem Waldstück hinter der Klinik lugten hier und da ein paar Villendächer hervor.
»Herr Beck und Herr Hildebrandt kannten sich offensichtlich.«
Meike Bender nickte: »Ja, wusste ich nicht. Aber sieht ganz danach aus, das stimmt. Sie … es sieht vertraut aus, wie die beiden da stehen.«
»Hildebrandt – so heißt auch die jetzige Leiterin der Klinik.«
»Ja, das ist seine ältere Tochter. Wir sind stolz darauf, dass sie das Klinikum übernommen hat und komplett modernisieren lässt. Und Arbeitsplätze bringt es Marnow auch.«
Beim Lokschuppen hieß eine Sackgasse in der Rostocker Steintor-Vorstadt, die auf beiden Seiten überwiegend von Einfamilienhäusern gesäumt war. Nicht wie die im Ringelrankenweg – hier wohnte, wer es sich leisten konnte.
Die Benedikts konnten das.
An der Hausnummer, die Elling suchte, stand ein schmuckes Haus. Überschaubar und gut in seine Umgebung eingewachsen. Er musste sein Vorurteil revidieren – es hätte auch ganz gut in den Ringelrankenweg gepasst.
Eine hüfthohe Hecke, dahinter ein Beet mit Stauden und Rosen, gefolgt von einem frisch gemähten Rasen. An den Rosen schnitt eine Frau in seinem Alter die verwelkten Blüten ab und sammelte sie in einem Plastikeimer. Sie trug trotz der Hitze Handschuhe, um sich vor den Dornen zu schützen. Die Frau hob den Blick, als er direkt vor ihr am Gartenzaun stehen blieb. Ihre Miene war freundlich. Als wolle sie jemandem helfen, der sie gleich nach dem Weg fragte.
Diese Freundlichkeit ließ ihn zögern, das zu tun, weswegen er hierhergekommen war. Aber auch sie hatte ein Recht auf die Wahrheit, dachte er. Was sie damit anstellte oder auch nicht, blieb ihr überlassen.
»Guten Tag. Hübscher Garten.«
»Danke«, erwiderte die Frau unverbindlich.
Elling nickte. Überlegte noch.
Brit Benedikt blinzelte gegen die Sonne und stellte sich deshalb etwas zur Seite: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, ich …«, begann Elling und stockte dann.
Brit Benedikt nahm ihn nun genauer in Augenschein. »Sie sind nicht zufällig hier.«
»Nein«, antwortete Elling, bemaß noch einmal kurz den Schaden, den er nun anrichten würde, und rang sich trotzdem durch: »Ihr Mann betrügt Sie mit meiner Frau.«
Brit Benedikt warf eine abgeschnittene Rosenblüte in den Eimer. In dem Blick, den sie auf Elling richtete, lag keine Überraschung, keine Wut, nicht mal Fassungslosigkeit. Sondern Mitgefühl. Sie nickte: »Ja, schlimm. Ich hab das vor gut sechs Monaten auch rausgefunden. Sie müssen Frank Elling sein.«
Elling kam sich vor wie der letzte Idiot.
»Wollen Sie nicht reinkommen?«, fügte sie hinzu. »Mein Mann ist bei einem Wahlkampftermin.«
Zehn Minuten später hatte Brit Benedikt ihm erzählt, wie sie dahintergekommen war (klassisch: ein dunkelblondes Haar in seiner Unterwäsche), was sie absurderweise zuerst empfunden hatte (Selbstzweifel) und wohin sie ihren Mann wünschte (nach Nordkorea) .
Währenddessen ging Elling ihr etwas zur Hand, hielt einen Rosenstängel fest, damit sie ihn fixieren konnte, oder reichte ihr eine der Stauden, die auf dem Rasen bereitgelegt waren und die Brit Benedikt einpflanzen wollte (weil sie nämlich das Haus behalten würde).
»Sonst würde ich hier ja keinen Finger mehr rühren. Und ja … natürlich wünsch ich ihm die Pest an den Hals, aber so oder so ist mein Lebensentwurf zerstört. Er wird mich verlassen und … Ihre Frau Sie auch, Herr Elling. Können Sie mir mal die Schaufel reichen, bitte?«
Er tat es, und sie begann, ein Loch für die erste Staude zu buddeln.
»Warum haben Sie nicht Kontakt mit mir aufgenommen?«
»Ich hab drüber nachgedacht, Herr Elling. Ich hab wirklich darüber gegrübelt, aber dann … ich wollte Ihre Illusion von Glück nicht zerstören.«
»So, wie ich heute Ihre zerstört hätte.«
»Ich wäre dankbar gewesen – aber ich weiß nicht, ob Sie das auch so empfunden hätten.«
»Ich weiß es nicht mal selbst«, gestand er. Er stützte die Hände in die Hüften, seufzte und warf einen Blick in den Garten. Versteckt hinter ein paar Sträuchern entdeckte er einen Swimmingpool.
»Sechs auf vier Meter?«
Brit Benedikt blickte irritiert von ihrer Staude auf, die sie gerade gründlich wässerte.
»Der Pool«, fügte Elling hinzu. Es war heiß, er entledigte sich seines Jacketts und warf es sich über die Schulter.
»Sieben mal vier«, antwortete sie und hob das nächste Loch aus.
Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte kräftig. »Wollen Sie Ihren Mann zurückgewinnen?«
»Nein«, kam es ohne Verzögerung. »Und Sie Ihre Frau?«
»Ja.«
»Ich verstehe, deshalb sind Sie ja hier, aber … ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Elling. Mein Mann und ich haben eine Abmachung getroffen – sofern ich nicht vor dem Wahltermin mit schmutzigen Details an die Presse geh. Eine Abmachung, die mich finanziell für den Rest meines Lebens absichert«, sie deutete hinüber, »das Haus, eine monatliche Abfindung und noch ein paar andere Kleinigkeiten, die unsere Anwälte ausbaldowert haben.«
»Also hat er immerhin ein ziemlich schlechtes Gewissen, Ihr Mann.«
Sie musste lächeln und empfand den Impuls, ihn schützen zu wollen: »Nein, hat er nicht. Er hat nur eine jüngere Frau entdeckt, mit der er lieber Sex hat. Alles andere würde ihn adeln. Intellektuelle Verwandtschaft etwa. Die Oper. Architektur. So was. Oder zumindest Wandern. Oder Skifahren, Batikshirts herstellen – nein, nichts von dem. Die ficken einfach gerne.«
Elling musste husten.
»Entschuldigen Sie meine Wortwahl.«
Elling verschluckte sich wieder, er hustete erneut.
Brit Benedikt eilte an einen hübschen alten Holztisch und versorgte Elling mit einem Glas Mineralwasser.
»Danke«, krächzte er. Er schluckte einige Male, dann ging es.
Er atmete tief durch.
»Das ist es, oder?«
»Was meinen Sie?«
»Die Intimität. Der eine Blick. Dass der Partner eine andere anschaut, ja, aber diesen einen, den verliebten Blick, den möchte man für sich. Ein Monopol. Ich möchte diesen besonderen Blick nicht teilen. Und jetzt gilt er Ihrer Frau.«
Ellings Augen verfingen sich wieder an dem Pool. Auch, um dem Schmerz etwas entgegenzusetzen, aber dieser Schmerz war von der harten Sorte, er ließ sich nicht betäuben. »Hat der eine Gegenstromanlage?«
»Was?«
»Der Pool. Hat der eine Gegenstromanlage?«
»Nein, ich … nein, hat er nicht. Ist das wichtig für Sie?«
Elling musste kurz lächeln, dann sah er Brit Benedikt ins Gesicht. Sie war hübsch. Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte, aber sie lächelte wenig.
»Und jetzt?«, fragte er. »Sie halten einfach still?«
Brit Benedikt lächelte nachsichtig. Sie stand von ihren Stauden auf und musterte ihn. Mitleid schlich sich in ihren Blick. »Je eher Sie sich damit abfinden, dass Sie und Ihre Frau keine gemeinsame Zukunft haben, desto eher können Sie Ihre eigene gestalten.«
Elling nickte automatisch. Er deutete mit dem Kopf zum Haus, dessen Terrassentür offen stand.
»Dürfte ich wohl noch kurz Ihre Toilette benutzen?«
Brit Benedikt nickte: »Zweite Tür rechts.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Herr Elling?«
»Ja?«
Sie machte den Eindruck, als sei ihr gerade eine Idee gekommen. Kurz fuhren ihre Blicke an ihm entlang. Die Augen, der Mund, die Schultern, die Finger. »Ich kann mit reinkommen«, bot sie dann an.
»Hm?«
»Mit Ihnen rein. Ins Haus. Wir könnten den Nachmittag miteinander verbringen. Philipp kommt erst am Abend zurück.«
Brit Benedikt wischte sich mit dem Rücken des Handschuhs über ihre feuchte Stirn. Sie sah gut aus. Sie hatte etwas Vornehmes, Gebildetes. Und jetzt, als sie ihn anlächelte, war da noch dieses Glitzern in ihren Augen. Etwas Freches. Etwas, das ihn aufforderte, in den nächsten Stunden jede Menge Konventionen in hohem Bogen über Bord zu werfen und eine großartige Zeit miteinander zu haben.
Elling erwiderte ihr Lächeln, aber seines bat um Verzeihung: »Es ist nicht Ihretwegen, es ist nur … ich bin noch nicht so weit.«
Er hatte sie keinesfalls zurückweisen wollen, und an ihrer Reaktion erfasste er, dass es ihm zum Glück gelungen war.
»Natürlich«, sagte sie.
Auf dem Weg zur Toilette fand er, worauf er inständig gehofft hatte: einen Computer im Arbeitszimmer von Philipp Benedikt, der eingeschaltet war und dessen Passwort ihm nur zwei Versuche abnötigte. Denn das bestand ebenfalls nur aus einer Lüge: Es lautete Brit.
Das Haus war ausladend und alt. Roter Klinker, dunkelgrüne Fensterläden. Aber von der Straße war lediglich ein Ausschnitt zu sehen. Das Gelände war lückenlos von einem Zaun umsäumt, neben der großen Pforte fand sich ein Briefkasten samt Klingel, auf die Lona drückte.
Es dauerte eine ganze Weile, dann knarzte eine ältere Stimme: »Ja?«
»Lona Mendt, Kriminalpolizei Rostock. Spreche ich mit Herrn Hildebrandt?«
»Das tun Sie.«
Der Weg führte Lona ein Stück hinauf, er schlängelte sich durch Nadelbäume, die das Haus vor neugierigen Blicken schützten und Schatten spendeten. Als sie die letzten Stufen erklomm, die hoch zum Haus führten, nahm ein Reh samt Kitz Reißaus.
Das Haus war in ein ungewöhnlich großes Grundstück eingebettet. Verschiedene Pfade durchzogen den parkähnlichen Garten.
Auf der Terrasse aus hellem Sandstein erwartete sie der Herr des Hauses, Jürgen Hildebrandt. Er war ein großer knochiger Mann mit kräftigen grauen Haaren. Sie schätzte ihn auf Anfang sechzig, womit sie einige Jahre unter seinem tatsächlichen Alter lag. Der Mann war eine gepflegte Erscheinung, die Lona an den Schauspieler Max von Sydow erinnerte. Alles in allem hätte er gut nach Schweden gepasst.
Er nickte ihr zu und reichte ihr die Hand: »Hildebrandt.«
»Mendt. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.«
»Muss man das nicht, wenn eine Kriminalbeamtin klingelt?«
»Nein. Ich müsste Sie vorladen.«
Er schüttelte den Kopf und deutete mit der Hand auf einen der Holzstühle, die um einen Tisch herum drapiert waren: »Nein, das wäre ja umständlich, nehmen Sie Platz, bitte. Wasser? «
»Gerne.«
Sie setzten sich gegenüber hin, und Hildebrandt goss ihr aus einer Karaffe Wasser in ein Glas, das er frisch dorthin gestellt haben musste, nachdem sie bei ihm geklingelt hatte. In der Karaffe schwammen die hellgrünen Scheiben einer Limette.
Wenn Lona sich etwas drehte, blickte sie durch die Nadelbäume hindurch hinab zum Marnower See.
Hildebrandt hatte lange, schmale Finger. Ähnlich wie die von Pramann, dem Pathologen.
»Was verschlägt eine Kriminalbeamtin nach Marnow – oder genauer: zu mir?«
»Das hier«, antwortete sie und legte ihm die Fotografie hin, die ihn und Beck zeigte.
Hildebrandt wirkte nicht überrascht, aber auch nicht angetan. Er betrachtete es nur kurz, anscheinend kannte er es. »Das sind Alexander Beck und ich. In Marnow. Ungefähr vor zwanzig Jahren. Müsste so … müsste um 1984 gewesen sein. Hat er Ihnen das Foto gegeben?«
»Nein, wir haben es von einem anderen Mann. Stefan Krohn. Kennen Sie den auch?«
Hildebrandt deutete ein Kopfschütteln an: »Noch nicht gehört, den Namen, glaube ich. Aber garantieren kann ich Ihnen das andererseits auch nicht. Ich habe früher als Arzt praktiziert, da hat man über die Jahre mit vielen Namen zu tun. Vielleicht war er ein Patient, den ich vergessen habe.« Er musterte sie kurz, sein Blick war wach und klar: »Die Kriminalpolizei besucht mich hier draußen. Was ist mit Herrn Beck?«
»Er ist tot. Er wurde ermordet.«
Jetzt war er überrascht, ja erschüttert. »Wie … das? Warum?«
»Vor ein paar Tagen in Rostock. Sie kannten ihn, und wir von der Kripo wissen nur, dass Herr Beck mindestens einmal pro Jahr auf dem Campingplatz in Marnow war«, wich sie einer konkreten Antwort über die Tatumstände aus: »Erzählen Sie mir was über Herrn Beck, bitte. Und das Foto.«
Kurz schien Hildebrandt versucht, doch noch genauer nachzuhaken, unterließ es dann aber. Er sammmelte sich kurz, bevor er antwortete: »Beck fällt in meine beste Zeit … damals war die Welt hier in Ordnung, wissen Sie …. ich habe hier als Arzt gearbeitet, meine Frau hatte mich noch nicht verlassen und meinen Töchtern ging es gut. Es hätte ewig so weitergehen dürfen … ja.« Ein kurzes wehmütiges Lächeln, das wieder verschwand, als er sich dessen bewusst wurde. »Beck hab ich operiert, damals. War eine heikle Sache … sehr heikel. Ein fast ein Pfund schweres Krebsgeschwür. Ehrlich gesagt waren seine Chancen minimal. Und das wusste er auch, aber … ich mach’s kurz: Er hat es geschafft, und er war dankbar. Seitdem war er meist jedes Jahr im Sommer in Marnow. Das hier«, er tippte auf das Foto, »ist im Jahr nach der OP entstanden. Hier in Marnow …«
»Hat er den Kontakt zu Ihnen gesucht?«
»Ja.«
»Weil Sie ihm das Leben gerettet haben?«
Ein angedeutetes Achselzucken gepaart mit einer vagen Kopfbewegung: »Tja, das hat er nie gesagt. Wissen Sie, es gibt, glaube ich, nichts so Unergründliches wie Motive. Für eine Meinung, eine Äußerung, für Verhalten insgesamt. Und Motive sind auch nicht gradlinig, sie sind wie ein Schwarm, der prompt die Richtung ändern kann – nur wegen einer Stimmung oder eines Bauchgefühls. Und woher das kommt … also: Er hat es mir nie gesagt. Meine Vermutung ist: Er wollte was zurückgeben, und daraus wurde so eine … eine Art lose Freundschaft. Auch, weil er es am Anfang verstanden hat, sich nicht aufzudrängen. Abstand zu halten.
Irgendwann hat Alexander Beck diesen Abstand nicht mehr gesehen. Oder sehen wollen. Er hatte keine Frau, keine Kinder, keine Familie. Und ich wollte nicht, dass er in unserer heimisch wird. Also … habe ich das alles langsam auslaufen lassen.«
Er seufzte und blickte ihr in die Augen: »Wie ist es passiert?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. Das ist Täterwissen.«
»Ich verstehe«, anwortete Hildebrandt verständnisvoll. »wir hatten hier trotzdem eine gute Zeit zusammen, das darf man nicht vergessen … es tut mir leid für ihn. «
Lona nahm einen Schluck von dem Wasser. Das mit der Limette war eine gute Idee.
»Er war letzte Woche hier in Marnow«, sagte sie. »War er auch hier? Haben Sie sich getroffen?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Vermutung, was er hier wollte?«
»Vielleicht Ferien. Ihm hat es hier gefallen an der Seenplatte.«
»Er war nur für eine Nacht hier.«
Jürgen Hildebrandt schüttelte den Kopf: »Vielleicht war er in der Klinik. Er kennt meine Tochter, sie leitet inzwischen das Haus.«
Lona schüttelte den Kopf.
Sie nahm genau den Weg, den sie gekommen war, und unten, als sie die Nadelbäume hinter sich gelassen hatte, spürte sie seinen Blick im Nacken. Sie stoppte und blickte hinauf – Hildebrandt stand immer noch oben auf der Terrasse. An der gleichen Position, an der er sie empfangen hatte. Er hob zum Abschied die Hand, und Lona erwiderte die Geste.
Seine Erschütterung über Becks Tod war ihr echt erschienen. Aber es war eine Erschütterung, die über das Ableben des Mannes hinausging. Es war noch etwas anderes, was den pensionierten Arzt erschreckt hatte – aber sie wusste nicht, was.