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Elling war in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und hatte das Haus im Ringelrankenweg verlassen, während Mareike und Susanne noch schliefen. Jetzt stand er in einer Tiefgarage eines Mehrfamilienhauses in einem Vorort von Hannover und vertrieb sich die Zeit, indem er Hans-Georg in Hamburg anrief und ihn um einen Gefallen bat.
Danach rauchte er zwei Zigaretten und freute sich wie ein Schneekönig auf den Abend.
Der schwarze Mann erschien um kurz nach acht. Er sah blass aus, vielleicht hatte er schlecht geschlafen. Jedenfalls ging er auf seinen Wagen zu, den silbernen Honda Civic. Fast hatte er ihn erreicht, da bemerkte er Ellings Blick von der Seite, dann, als er aufsah, Elling selbst.
Die Überraschung, die der Hüne empfand, schob dieser mit einer Schnelligkeit beiseite, die Elling enttäuschte. Er ging auf den schwarz gekleideten Mann zu und stoppte vor ihm ab.
»Ich kenne Sie«, sagte der Mann, und er hatte exakt jene tiefe Stimme mit dem riesigen Resonanzkörper, den Elling sich vorgestellt hatte: »Sie sind der Kollege von Frau Mendt.«
»Ganz recht, Herr Klein.«
Der Mann quittierte Ellings Kenntnis seines Namens nicht mal mit einem Wimpernschlag, seine ganze Miene blieb unbeeindruckt. »Wie haben Sie mich gefunden? Das Nummernschild?«
Elling nickte.
»Dürfen Sie das, ohne Anlass?«
Da war keine Erregung in der Stimme, keine Empörung, nur pures Interesse .
»Nein«, antwortete Elling und warf einen kurzen Blick auf die Hände von Jens Klein. Sie sahen aus, als könne jeweils ein ganzes Brot darin verschwinden.
»Und welcher Anlass ist das bei mir?«
»Weiß nich’ … überleg ich mir noch.«
Auch das quittierte der große Mann nur mit einem angedeuteten Nicken.
Etwas an Herrn Klein war besonders, etwas stach heraus, es lag Elling auf der Zunge, aber ihm fiel es nicht ein, das richtige Wort.
»Und was wollen Sie jetzt?«
»Ich möchte wissen, was das für eine Verbindung ist zwischen Frau Mendt und Ihnen. Zwischen einem alleinstehenden Buchhändler mit 1760 netto und zwei Punkten in Flensburg und meiner Kollegin. Haben Sie ein Verhältnis?«
Jens Klein ließ auch das an sich abperlen.
»Würde Sie das stören? Einen verheirateten Familienvater mit 4200 brutto und einem diesbezüglich übergroßen Pool?«
Die Replik brachte ihn kurz aus dem Konzept. Also hatten sie über ihn geredet, Lona und der Hüne. Vermutlich.
»Sie sind nicht der Einzige, der sich über andere schlaumachen kann, Herr Elling«, setzte Klein nach, und seine Pupillen wanderten über Ellings Gesicht, um schließlich in dessen Augen zu verharren. »Schlägt Ihr Herz für Lona, Herr Elling, ja?«
»Es schlägt für meine Frau. Aber auch für meine Kollegin, ja. Nur anders.«
»Anders?«
Elling musste konstatieren, dass dieser Mann binnen zwei Minuten die Gesprächsführung übernommen hatte. »Ja. Aber was haben Sie mit ihr zu schaffen?«
Jens Klein atmete einmal tief durch. Wog ab. Und rang sich dann durch: »Ich bin nicht nur Buchhändler, Herr Elling. Ich bin auch ehrenamtlicher Seelsorger.«
Von vielen, vielen Möglichkeiten, die ihm denkbar erschienen waren, war dies eine, auf die Elling im Leben nie gekommen wäre. Um seine Verblüffung wenigstens ein klein wenig zu überspielen, leistete er sich eine ironische Replik, die er im Nachhinein als pubertär empfand: »Sie kümmern sich also um ihre Seele.«
Klein lächelte nicht, sondern nickte: »Ich will, dass sie nicht zerbricht.«
Damit drehte er sich unvermittelt um, stieg in seinen Wagen und fuhr an Elling vorbei, hinaus auf die Straße.
Furcht. Jetzt dämmerte es Elling. Warum fielen einem solche Sachen nicht dann ein, wenn man sie benötigte? Wie auch immer: Furcht. Das war das Besondere an dem Mann, das Elling aufgefallen war. Es hatte sich tief eingegraben in diesem groben, markanten Gesicht: Der Mann war völlig frei von Furcht.
Und das konnte nur sein, wer alles gesehen hatte.