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Montag, der 18. August 2003, versprach keinerlei Abkühlung, ganz im Gegenteil.
»Stefan Krohn ist nicht in den Stasi-Unterlagen gelistet«, informierte Niemann sie per Freisprechanlage.
»Weil er zu klug war«, kommentierte Lona umgehend, die neben Elling im Volvo saß, mit dem sie nach Schwerin unterwegs waren. »Der hat seine Akten rechtzeitig geschreddert und war schlauer als Beck. Krohn hat einfach bei der bundesrepublikanischen Polizei weitergemacht.«
»Davon findet sich nichts in der BS tU«, sagte Niemann.
»Natürlich nicht. Dafür hat er ja gesorgt, der Herr Krohn.«
Nach Ellings Rückkehr aus Hannover hatten sie sich im Kommissariat getroffen, weil ihr Vorgesetzter Mertens sie zum Gespräch geladen hatte. Der sah sie an wie Kinder, die eine Dummheit begangen hatten.
»Junge, Junge«, sagte Mertens. Sie hatten vor seinem Schreibtisch Platz genommen. Weißer Kunststoff, ein Lineal und einen Kugelschreiber hatte er exakt auf 90 Grad zur Tastatur seines Computers ausgerichtet.
»Pröscher vom LKA liegt mir seit gestern in den Ohren – und dann hat heute Morgen auch noch so ein junger Hartnäckiger von der Staatsanwaltschaft bei mir vorbeigeschaut. Ein Herr Rost. Wollte eine persönliche Einschätzung von mir über euch. Junge, Junge, was ist da passiert? Mit dem Krohmann?«
»Krohn.«
Er sah in seinen Unterlagen nach und nickte dann: »Ja. Krohn. Ist er auf dem Weg zum GUP ? «
Die Sorgen um sie beide, die anderen Mitarbeiter, den Zustand der Welt an sich, wo das alles nur enden sollte, aber primär natürlich die Sorge um seine Rente hatten auf Mertens’ Gesicht eine senkrecht verlaufende Falte von der Stirn bis hinab zur Nasenwurzel hinterlassen. Aber das war noch nicht das Ende der Fahnenstange, was die Sorgen betraf. Bei Mertens gesellte sich noch die dauernde Sorge um eine verflixte Unbekannte in seiner Lebensgleichung hinzu, die er den großen ungewissen Punkt nannte. Den GUP .
Der GUP machte im Zweifelsfall alle Planungen und alle Sicherheiten zunichte, keiner wusste, wann er seinen persönlichen GUP erreichte – wann er also starb. Wenn Mertens 110 würde, dann wäre das ein großartiger GUP , denn dann hätte er eine Menge Rentenzahlungen genießen können – wobei »genießen« nicht »ausgeben« meinte, sondern auf die hohe Kante legen, sich für harte Zeiten wappnen, schließlich konnte man nie wissen. Wenn er aber nur zwei, drei Jahre nach Renteneintritt von dieser Welt ginge, dann wäre das eine miese Rechnung. Das bereitete ihm Sorgen.
»Nein«, sagte Elling, der die Umschreibung seines Chefs kannte, »seine Chancen stehen sehr gut. Ich hab heute Morgen da angerufen, sie wollen ihn in ein paar Tagen aus dem künstlichen Koma holen.«
Mertens nickte erleichtert. Und dann wollte er wissen, was für eine hanebüchene Geschichte sie dem LKA und diesem Rost aufgetischt hatten: »Der Mann soll sich zweimal beim Waffenreinigen angeschossen haben – mit der Dienstwaffe von Frau Mendt?«
Sie erklärten ihm die Unerklärlichkeit dieses Vorgangs. Auch für sie sei das ein Rätsel. Aber eines, das sicherlich bald durch Krohn selbst gelüftet werden würde. Sie tischten Mertens auf, was Elling schon gegenüber Rost zur Sprache gebracht hatte: Sie hatten kein Motiv. Und wenn, hätten sie Krohn beseitigt, statt ihn in die Klinik zu bringen und sein Leben zu retten.
»Ja, stimmt schon«, gab Mertens schließlich zu, »es ist nur … dass sich ein Schuss löst – ja. Aber zwei? Wie soll er das gemacht haben?«
»Vielleicht ist er hingefallen nach der ersten Verletzung.«
Der Grad an Absurdität ließ den Chef das Gesicht verziehen.
»Wir wissen es einfach nicht, wir haben ihn verletzt vorgefunden.«
»Abgedrückt hat er jedenfalls«, stellte Mertens fest und sah zu Lona, »auch nachweislich mit Ihrer Waffe. Die haben entsprechende Schmauchspuren bei ihm gefunden.«
Lona und Elling waren bemüht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Der Schuss in den Holzscheit hatte diese Spuren wie von Lona beabsichtigt auf Krohns rechter Hand hinterlassen.
Es klopfte.
»Ja?«
Niemann schneite herein und wünschte einen guten Morgen. Sein Blick fand während seiner folgenden Ausführungen immer wieder zu Lona. Und wenn es ihm bewusst wurde, lächelte er schüchtern. »Ich habe interessante Neuigkeiten. Sehr interessante. Sie wissen schon, die Nummer, die Krohn angerufen hat. An die bin ich nur rangekommen, weil ich jemanden bei der Telekom kenne.«
»Das klingt sehr vielversprechend, Herr Niemann«, gab Lona ihm eine Streicheleinheit.
»Ja, und zwar hat der Besitzer der Mobilnummer, die Herr Krohn so oft angerufen hat, auch vom Tatort …«
»Vom Tatort?«, fragte Mertens.
»Stefan Krohn war am Tag des Mordes in der Wohnung von Alexander Beck«, erklärte Elling kurz angebunden, »wir erzählen es dir nachher.«
»Seit wann wisst ihr das?«
»Seit vorgestern«, antwortete Lona.
Niemann bestätigte das mit einem Nicken: »Da brauche ich noch die richterliche Genehmigung, Herr Elling.«
»Ist in Arbeit. Ich hab sie schon beantragt«, log Elling.
»Und der Säugling?«, wollte Niemann wissen .
»Was für ein Säugling?«, hakte Mertens nach, der zunehmend irritiert von einem zum anderen blickte.
»Das ist eine andere Sache«, winkte Elling ab. »Wir wissen, dass Stefan Krohn sich nach Becks Tod in dessen Wohnung aufgehalten hat. Er hat von dort eine Mobilnummer angerufen und danach Kinderpornos auf Becks Computer gespielt, um unsere Ermittlungen in die Irre zu führen.«
»Was?«, Mertens war hellwach, sein Kopf war vorgeschossen: »Ich ruf sofort diese Pröscher vom LKA an und falte die zusammen.«
Seine Hand zuckte zum Hörer.
»Bitte nicht«, intervenierte Lona.
Zumindest verharrte Mertens’ Hand in der Luft. Er hob den Blick und sah sie an: »Die Frau hat mir die Hölle heiß gemacht. Damit ich rauskriege, was da abgelaufen ist. Meine Beamten hätten Mist gebaut und so … ihr wisst schon. Die glauben euch nämlich nicht, die bohren von allen Seiten nach. Die sind sich sicher, dass Krohn gegen euch aussagt, wenn er wieder aufgewacht ist.«
»LKA eben«, sagte Elling, der die Gunst des Augenblicks nutzte, Mertens war ihnen gerade gewogen, »suchen die Fehler immer woanders. Immer.«
Lona nahm ihren Gedanken wieder auf: »Was wir wissen ist: Krohn hat am Tatort eine Fehlspur gelegt und taucht dann plötzlich in Marnow auf, um uns über unsere Ermittlungen im Fall auszuhorchen. Wir wissen jetzt, dass er damit nur unseren aktuellen Ermittlungsstand abfragen wollte.«
»Wie nah wir ihm schon sind – oder eben nicht«, ergänzte Elling.
»Ich fasse es nicht«, bekannte Mertens, »das ist doch ein handfester Skandal!«
»Ja. Wir wollen aber wissen, mit wem Krohn zusammenarbeitet. Ob er auf eigene Faust in Becks Wohnung war, um den Tatort zu manipulieren und die Leiche, oder ob er eben …«
Sie ließ es unausgesprochen .
»Ja?«
Sie sahen ihn vielsagend an.
»Ich bin nicht gut in Lückentext«, bekannte Mertens ungeduldig, seine Halsschlagader begann zu pochen, »was wollt ihr mir sagen?«
»Ob das eine offizielle LKA -Mission war.«
Jetzt fielen die Groschen beim Chef. Endlich zuckte seine Hand von dem Telefonhörer wieder zurück.
»Weck einfach keine schlafenden Hunde, bevor wir mehr wissen.«
»Sie wissen gleich mehr«, schaltete Niemann sich wieder ein, »und zwar diese Mobilnummer, die Herr Krohn vom Tatort aus angerufen hat – sie war schwer zu kriegen. Ich musste also …«
»Kommen Sie zum Punkt, Herr Niemann«, wies Mertens den KTU -Mann an und sprach Lona und Elling damit aus der Seele.
Der Computerexperte wirkte kurz perplex, dann straffte er sich, Stimme und Gesichtsausdruck waren mit einem Mal von dienstlicher Sachlichkeit geprägt, er wirkte eine Spur beleidigt: »Die Mobilnummer, die Herr Krohn angerufen hat, gehört Dr. Christian Rathe aus Schwerin.«
Mertens blies die Wangen auf.
»Der Christian Rathe?«, erkundigte sich Elling.
»Ja«, bestätigte Niemann schmallippig wegen der Zurechtweisung, die er soeben vom Chef erhalten hatte.
»Muss ich den kennen?«, fragte Lona.
»Nein, Sie kommen ja aus Hannover«, sagte Mertens nachdenklich. »Der Herr Rathe ist ein altes ostdeutsches Gewächs. Jetzt ist er Staatssekretär im Ministerium für Soziales und Gesundheit in Schwerin.«
Lona Mendt sagte das nicht viel, sie wandte sich direkt an Elling: »Was heißt das?«
Der deutete ein Achselzucken an: »Ich weiß nicht, Lona, das heißt … es heißt, dass Stefan Krohn vom Tatort Beck ein hohes politisches Tier angerufen hat: Dr. Rathe.«
»Junge, Junge. «
Rainer Mertens hielt es nicht länger auf seinem Stuhl, er musste auf und ab gehen und fuhr sich dabei immer wieder mit der offenen Hand über den Nacken. Er stellte sich ans Fenster, aber er blickte nicht hinaus. Er versuchte nur etwas Ordnung in die Menge an neuen Informationen zu bringen und einen Überblick zu gewinnen. Um sich schließlich an Niemann zu wenden: »Gibt es noch was, was Sie herausgefunden haben?«
Niemann schüttelte den Kopf: »Im Augenblick nicht, nein.«
»Ich melde mich später bei Ihnen. Können Sie uns jetzt kurz alleine lassen?«
»Natürlich.«
Ein Blick noch zu Lona, dann verschwand der blasse KTU -Mann. Mertens lehnte sich mit seinem Hintern an die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust. Er musterte das Team, das da vor ihm saß. »Was steht jetzt als Nächstes an?«
Und dann stimmten die beiden sich mit einem jener Blicke ab, ein Sekundenbruchteil nur, ein Vorgang, der nicht nur ihrem Chef ein Rätsel war. Sondern auch den anderen Kollegen, die das zwischen den beiden beobachtet hatten.
»Wie macht ihr das?«, hatte er Elling in der Kantine gefragt.
»Was?«
»Ihr seht euch an – und dann seid ihr euch irgendwie einig.«
Elling hatte genickt, er wusste, was Mertens meinte: »Ich weiß es nicht. Es passiert einfach. Ich weiß nicht, wie ich’s dir erklären soll. Ist merkwürdig.«
Danach angelte er in seiner Suppe nach einem Stück Würstchen.
Er konnte es sich selbst nicht erklären. Weil diese wortlose Verständigung jeglicher Grundlage entbehrte.
Elling hatte sie bei Profifußballern gesehen, die jahrelang zusammen trainiert hatten. Oder bei seinen eigenen Eltern, die sage und schreibe über 45 Jahre verheiratet gewesen waren. Sie hatten sich stumm verstanden. Sie hatten sogar manchmal dasselbe gedacht. Und das im gleichen Augenblick .
Aber diesen beiden Beispielen war ein langjähriges Agieren als Team gemein. Das war bei Lona und Elling nicht gegeben. Die Vertrautheit war einfach so über sie gekommen.
Mertens hatte sich den Rest des Eintopfs wie immer einpacken lassen: »Hab ich ja für bezahlt.«
»Klar.«
»Manche Leute glauben, das mach ich aus Geiz.«
»Die kennen dich nich’, Rainer.«
»Ja. Das regt mich auf. Ich bin nicht geizig.«
Mertens stieß sich von der Fensterbank ab, wo die Sonne ihm langsam den Rücken versengte, und wiederholte seine Frage: »Was jetzt?«
»Wir machen einen Termin mit Dr. Rathe in Schwerin, würde ich vorschlagen«, sagte Lona.
Elling nickte.
Und dann, nach einem kurzen Innehalten, nickte auch Mertens und nahm wieder Platz hinter seinem Schreibtisch. »LKA , Ministerium, Staatssekretär. Passt auf bei den Nachforschungen, dass das nicht zu hoch kocht. Das kann uns um die Ohren fliegen«, ermahnte er sie.
»Vor dem Gesetz sind alle gleich.«
»Lass den Scheiß, Elling.«