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»Sie haben einen 15-Minuten-Slot«, ließ die junge Frau sie wissen, die sie beim Pförtner abholte.
Wie bei der Wilmer AG wurden ihre Dienstausweise kopiert, und im Gegenzug händigte man ihnen hausinterne knallgelbe Ausweise aus, die sie sich an den Gürtel oder die Hosentasche klemmen sollten.
Das Ministerium für Soziales und Gesundheit teilte sich das mächtige, aber unscheinbare Gebäude mit anderen Ressorts, nämlich Wirtschaft und Arbeit.
»Slot?«, fragte Elling.
»Zeitnische«, übersetzte Lona ihm: »Er hat eine Lücke von 15 Minuten für uns.«
Die junge Frau, deren Haare ihren halben Rücken hinabreichten und die ein enges türkisfarbenes Kostüm trug, nickte und schenkte Elling ein nachsichtiges Lächeln: »Dr. Rathe hat dafür einen Termin mit dem Ministerpräsidenten in letzter Minute nach hinten geschoben.«
Sie öffnete eine massive Tür aus Eichenholz. Ein Teppich in dezentem Braunton, der nahezu jedes Schrittgeräusch verschluckte. Eine breite Fensterfront, die den unbeschränkten Blick über die Stadt Schwerin bis hin zu den Schweriner Seen ermöglichte.
Rathe selbst thronte hinter einem massiven Schreibtisch, der aus einem Stück gefertigt zu sein schien. Hinter ihm fristeten Dutzende von Akten ihr Dasein in einem Regal aus dunklem Holz.
Die junge Frau in Türkis stellte sie kurz einander vor: »Staatssekretär Dr. Rathe. Frau Mendt und Herr Elling von der Rostocker Kriminalpolizei.«
Rathe erhob sich, er war klein und hatte einen weit vorstehenden Bauch. Er trug ein Jackett und ein offenes Hemd. Man schüttelte einander die Hände, bevor Lona und Elling auf die Aufforderung des Staatssekretärs Platz auf den beiden gut gepolsterten Stühlen vor seinem Tisch nahmen.
Er selbst nahm auch wieder Platz und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Es sah aus, als versuche er, sich selbst zu umarmen. Er schenkte ihnen ein zuvorkommendes Lächeln.
»Danke, Frau Käver, ich melde mich, wenn wir was brauchen.«
»Gerne.«
Die Frau in Türkis verließ das Zimmer.
»Danke, dass Sie uns so kurzfristig in Ihrem Terminkalender unterbringen konnten, Dr. Rathe«, eröffnete Elling das Gespräch.
Rathe nickte. Er hielt sich weiterhin umklammert. Wie eine kleine Trutzburg.
»Ich habe auf die Schnelle leider nur eine Viertelstunde«, antwortete er. Bedauern und der Wunsch, zügig zur Sache zu kommen, hielten sich dabei die Waage. »Meine Assistentin hat mir nur kurz zugerufen, dass Sie in einer Mordserie ermitteln und Informationen benötigen? Bitte.«
»Gut«, sagte Elling, »kennen Sie einen Herrn Krohn? Stefan Krohn?«
»Aber ja. Was ist mit ihm?«
Da war Sorge in seinem Blick. Um wen, ließ sich nicht ablesen.
»Ja«, antwortete Elling, »er ist gestern verletzt worden und liegt in einem künstlichen Koma.«
Rathe schien alarmiert, er beugte sich vor, als wolle er ausschließen, sich verhört zu haben: »Was ist passiert?«
»Nach bisherigen Erkenntnissen ist es zu einem Unfall beim Reinigen einer Waffe gekommen«, sagte Lona, »die Ermittlungen dazu laufen noch.«
Christian Rathe stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und entließ sich so aus seiner eigenen Umklammerung. Er wirkte ehrlich bestürzt. »Wie geht es ihm?«
»Er ist auf dem Weg der Besserung. Sein Zustand ist stabil. «
Rathe atmete seine Anspannung aus und lehnte sich wieder zurück in seinen ledernen Bürostuhl. »Sie sehen mich einigermaßen erleichtert. Ich … das kommt nicht allzu oft vor, ich … kann man ihn besuchen?«
»Wie gesagt: Er befindet sich im künstlichen Koma.«
»Das klingt nicht gut.«
»Die Ärzte sagen, sie holen ihn in ein paar Tagen zurück. Er wird es überleben, das ist der aktuelle Stand.«
Rathe nickte und blickte zur Seite. Überschlug offenbar ein paar Dinge in seinem Kopf, um sich ihnen dann wieder zuzuwenden: »Wo ist er jetzt?«
»In Marnow.«
»Marnow? Bei Wismar?«
»Mecklenburgische Seenplatte.«
»Ah ja, klar. Da ist eine Klinik?«
»Ja.«
Christian Rathe sammelte sich kurz. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie uns etwas über Sie beide erzählen«, sagte Lona, »möglicherweise hat sich unser Kollege vom LKA nicht selbst verletzt. Vielleicht gab es jemanden, der ein Interesse daran hatte, die Ermittlungen von Herrn Krohn zu unterbinden.«
»Ich verstehe.«
»Wir klappern gerade alle Nummern aus seiner Einzelverbindungsübersicht ab. Eine davon ist Ihre Mobilfunknummer. Sie beide hatten in letzter Zeit häufiger telefonischen Kontakt. Woher kennen Sie beide sich eigentlich, wenn ich fragen darf?«
»Von der Jagd und vom Fußball. Unsere Väter waren beide Jäger, sie hatten ein benachbartes Revier. Staatlich angestellt, wie das so war. Ich habe das verachtet, das Töten. Jetzt fällt mir ein, dass ich Stefan dazu nie gefragt habe. Na ja, ist auch nicht von Belang gerade. Jedenfalls haben wir beide als Amateure Fußball gespielt. Er im Sturm, ich im Mittelfeld. Da haben wir uns angefreundet damals. Und obwohl wir unterschiedliche Laufbahnen eingeschlagen haben … «
»Was war seine?«, unterbrach Lona ihn.
»Volkspolizei. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt, man hat sich gegenseitig eingeladen. Ich habe das Segeln angefangen, am Wochenende manchmal mit Freunden Touren unternommen, und Stefan war oft mit dabei.«
Rathe legte eine Pause ein, sein Blick ging in die Ferne, als schwirrten dort für ihn sichtbar die Erinnerungen an früher vorbei.
»Für uns war das damals eine relativ unbeschwerte Zeit. Trotz allem, Sie wissen schon.«
Elling nickte verständnisvoll, im Gegensatz zu Lona Mendt traf die Einlassung des Staatssekretärs auch auf sein eigenes Leben zu. Und Suses.
»Und nach der Wende hatten Sie auch noch Kontakt.«
»Ja, das ist eine der wenigen Verbindungen von damals, die bestehen geblieben ist, so was ist ja eher selten. Zumindest in meiner Biografie.«
»Sie haben«, sagte Lona, »am Montag, den 11. August, sowie Dienstag, den 12. August, jeweils am späten Nachmittag telefoniert. Und danach auch noch einige Male. Worum ging es da, bitte?«
Rathe antwortete, ohne zu zögern: »Die betrafen allesamt meine Sisyphos-Arbeit hier. Es geht darum, dass sich Pharmakonzerne illegal über Preisbildungen abstimmen und ich das zu unterbinden habe, und auch will. Das fällt unter anderem in meinen Aufgabenbereich.
Die Apothekerschaft ist da systembedingt nur in sehr überschaubarem Maße kooperationswillig, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Und ich habe mich wegen möglicher Schritte und auch konkreter Maßnahmen bei Herrn Krohn erkundigt und Rücksprache gehalten.«
»Auch am 11. August?«
»Das Datum kann ich Ihnen bestätigen, weil wir uns in letzter Zeit ausschließlich über diese Angelegenheit ausgetauscht haben.«
Damit schloss er die Tür für weitergehende Fragen in diese Richtung .
»Hat er Ihnen gegenüber mal einen Herrn Alexander Beck erwähnt?«, fragte Elling.
»Beck mit ›e‹«?
»Ja.«
Rathe überlegte kurz und schüttelte den Kopf: »Nein. Ist ja ein sehr häufiger Name, aber … nein, ich glaube, das kann ich ausschließen.«
»Und einen Herrn Herbert Leyendecker?«
»Nein, auch nicht. Bedaure.«
Elling und Lona hatten nichts anderes erwartet. Sie sahen sich kurz an, um sicherzugehen, dass sie die identischen Rückschlüsse gezogen hatten.
Hatten sie.
»Tja, dann, Herr Dr. Rathe«, schloss Elling, »damit sind unsere wichtigsten Fragen beantwortet. Herzlichen Dank noch mal für den kurzfristigen Termin.«
»Aber gerne. Meine Tür steht Ihnen diesbezüglich weit offen. Meine Mobilnummer haben Sie ja jetzt, zögern Sie also nicht.«
»Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.«
»Ich bin, wie Sie sicher verstehen können, sehr an dem Erfolg Ihrer Ermittlungen interessiert.«
Elling jagte den Volvo zurück über die A20, als seien sie zu einem Notfall gerufen worden. »Ich muss noch vor sechs was in der Stadt abholen«, erklärte er, führte das aber nicht näher aus.
Christian Rathe hatte gelogen, darin waren sie sich einig. »Er weiß, dass Krohn in Becks Wohnung war«, sagte Lona, während sie sich zurücklehnte, »Krohn findet Beck tot vor. Wir wissen nicht, ob er die Leiche vor oder nach dem Anruf so zugerichtet hat, aber auf jeden Fall ruft er davor oder danach Rathe an. Warum?«
»Entweder er gibt ihm einen Bericht oder er benötigt Instruktionen. Oder beides. Er wird wohl kaum neben Becks Leiche stehen und in aller Seelenruhe bei Rathe anrufen, um über illegale Preisabsprachen zu reden.«
»Nein, er hat ihm gesagt, dass Beck tot ist«, legte Lona sich fest. »Fragt sich bloß, warum? Was interessiert es einen Staatssekretär im Ministerium für Soziales und Gesundheit, was mit einem Sozialhilfeempfänger passiert ist?«
»Vielleicht waren die alle bei der Stasi.«
»Möglich.«
»Oder Rathe hat den Mörder zu Beck geschickt. Und Krohn hat Vollzug gemeldet.«
»Dann hätte Beck was gegen ihn in der Hand haben müssen. Ansonsten geht einer wie Rathe doch so ein Risiko nicht ein.«
»Möglicherweise hat Beck die beiden mit ihrer Stasi-Vergangenheit erpresst. Den beiden ist es im Gegensatz zu ihm doch großartig gelungen, in der Bundesrepublik Karriere zu machen. Und da hat Beck beschlossen, dass er was abhaben möchte von dem Kuchen.«
»Kann sein«, räumte Elling ein, »ich kann regelrecht riechen, dass wir näher dran sind. Aber da fehlt noch mindestens ein Puzzleteil.«
»Das Motiv.«
Er nickte.
»Gut – aber da er uns nicht die Wahrheit sagt, wissen wir, dass er lügt. Wir sind auf der richtigen Fährte. Er und Krohn hängen zusammen. Krohn und Marnow hängen zusammen, sonst hätte er die Hinweise nicht von der Pinnwand in Becks Wohnung entfernt.«
Die Autos vor ihnen bremsten stark ab, dann leuchteten die ersten Warnblinklichter auf.
»Mist.«
Auch Elling schlug mit der Handfläche auf den Schalter mit dem roten Dreieck. Die Autos vor und neben ihnen wurden noch langsamer – und stoppten dann ganz.
»Das darf nicht wahr sein.«
Lona sah ihn von der Seite an und musste lächeln. Der Bauchansatz, die notdürftig zusammengeflickte Brille, die Geheimratsecken. Ein Spießer vor dem Herrn, aus dem aussichtlos scheinende Situationen das Beste zutage förderten .
Heute wäre sie wirklich mit ihm nach Sonstwo gefahren. Nur immer weiter. Nie wieder raus aus diesem Kokon, in dem sie gerade saßen.
Aber diese Sache in Rostock war ihm offenbar wichtig. Also ließ Lona das Seitenfenster herunter, nahm das Blaulicht aus dem Behälter im Fußraum und setzte es aufs Dach. Dann schaltete sie es ein.
»Was machst du?«
»Du willst doch rechtzeitig zurück sein.«
»Schon, aber … das können wir nur im Notfall benutzen, das kann richtig Ärger geben.«
Er sah aus wie ein kleiner Junge, der sich fürchtete, man könne ihn mit den Fingern im Marmeladenglas erwischen.
»Wenn man uns für die letzten Tage den Prozess macht, wird das Blaulicht nur eine Fußnote sein, Elling.«
Er musste schmunzeln: »Auch wieder wahr.« Dann steuerte er den Volvo zwischen die beiden Spuren, und da zwei Fahrzeuge vor ihnen nicht nach links und rechts auswichen, bemühte er noch die Sirene.
Prompt kam Bewegung in die Sache. Es bildete sich nach und nach eine Rettungsgasse, durch die sie ihre Fahrt fortsetzen konnten.
Elling lächelte: »Ich liebe diesen Anblick. So muss es Moses mit dem Roten Meer gegangen sein.«