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Philipp Benedikt wartete in einem Lokal weit draußen auf sie. Eine kleine Gaststätte in Silvershagen, westlich vor den Toren Rostocks.
Der Haftrichter hatte ihn gegen eine Kaution auf freien Fuß gesetzt. Den Rostocker Bezirk samt Umland durfte er aber bis auf Weiteres nicht verlassen. Über die Höhe der Kaution hatte er sich am Telefon ausgeschwiegen. Er hatte leise gesprochen.
Er wollte sie sehen. Hatte darum gebeten.
Philipp Benedikt hatte auch früher schon darum gebeten, aber anders. Er hatte ihr gesagt, wie sehr er sie begehre, dass er kaum abwarten könne, sie zu sehen. Solche Sachen.
Heute klang das anders. Ja, es war eine Bitte. Aber es war auch die unmissverständliche Forderung eines Mannes, der meinte, er habe ein Anrecht auf diese Zusammenkunft.
Er hatte noch andere Bitten gehabt, oder besser gesagt Wünsche. Auch, und das stieß Susanne im Nachhinein bitter auf, sich mal Zöpfe zu flechten. Wie ein Schulmädchen. Das waren seine Worte gewesen: »Wie ein Schulmädchen.«
»Willst du mit Mädchen schlafen?«
»Ich bin doch nicht krank, Suse. War doch nur eine Idee … wie ein Rollenspiel.«
Wirklich?
Susanne Elling war hin und her gerissen. Er hatte sie in der Redaktion erwischt. Also fuhr sie schnell nach Hause, um … ja, was? Sie stand unschlüssig im eigenen Wohnzimmer. Sie wusste ganz genau, weshalb sie nicht direkt nach Silvershagen rausgefahren war – sie wollte sich für ihn hübsch machen. Wie früher – was weiter entfernt klang als die Wahrheit: wie bis vorgestern .
Die Fragen, denen sie sich längst hätte stellen müssen, die sie verdrängt hatte und denen sie ausgewichen war, die brachen jetzt aus allen Himmelsrichtungen über sie herein. Als sei plötzlich ein Ventil geplatzt, das sie bis jetzt vor ihnen geschützt hatte.
Was war denn eigentlich der Kern ihrer Beziehung zu Philipp Benedikt?
Aufregend war es. Der Sex neu. Seine vielen Bekanntschaften, seine Macht, seine Begierde, seine intellektuelle Bandbreite. Alle wollten nett zu ihm sein. Und er sah trotz der Pausbäckchen gut aus. Leicht überdurchschnittlich jedenfalls. Ein Leben an seiner Seite versprach vielseitig und aufregend zu werden. Es würde sie aus diesem bedeutungslosen Ringelrankenweg reißen. Aus diesem nachbarschaftlichen Netzwerk aus langweiligen, profanen Lebensplänen und Sorgen: Ligusterhecke oder doch lieber einen Sichtschutz aus Holz?
Ja, das hörte sich von außen betrachtet nicht schön an, aber sie hatte nur dieses eine Leben. Und hier, hier war sie lebendig begraben. Sie bekam ja manchmal kaum noch Luft.
Sie ging ins Bad und machte sich hübsch.
Er saß an einem Tisch in der Ecke und hatte sich hinter einem Baseballcap und einer Sonnenbrille versteckt. Er tat so, als studiere er die Speisekarte, nutzte sie aber als Sichtschutz.
Ein Paar zwei Tische weiter tuschelte, was Philipp Benedikt nicht bemerkte, wie Susanne sah, als sie das Bistro betrat. Es gab vier, fünf besetzte Tische, eine Kellnerin flitzte zwischen ihnen hin und her. Susanne ging wortlos zu seinem und nahm ihm gegenüber Platz.
Immerhin setzte er seine Sonnenbrille ab. Seine Augen waren matt, das Gesicht blass. Er sah aus, als hätte er seit sieben Tagen nicht geschlafen. Sie musterten sich ruhig und vorsichtig, sie tasteten sich ab mit der Frage, ob sie noch dieselben waren.
Philipp griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Schön, dass du gekommen bist.«
Seine Stimme war flach. Susanne erwiderte den Druck. Aber schwächer. Sie konnte sich einfach nicht zu mehr überwinden. »Wie geht’s dir?«
»Nicht gut. Die Wahl ist … verloren.«
Susanne nickte. Das war unzweifelhaft.
»Was ist passiert, Philipp?«
»Was passiert ist? Man hat mir«, antwortete er und senkte seine Stimme noch weiter an den Rand der Hörbarkeit, »man hat mir Kinderpornos untergeschoben.«
»Wer?«
Seine Augen wurden groß wie die einer Comicfigur, er breitete die Unterarme auseinander.
»Wer? Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«
»Brit?«
»Die wär dazu zu doof. Die hat von Computern keine Ahnung.«
Er brachte sogar ein Lächeln zustande. Susanne schluckte – würde er auch mal so über sie reden? Dass sie zu etwas zu doof gewesen war? Susanne hatte natürlich eine Menge an Brit auszusetzen, alleine schon, um Philipp in seiner Affäre mit ihr moralisch zu unterstützen, aber Brit Benedikt war keineswegs auf den Kopf gefallen.
Philipp Benedikt bemerkte ihr Unbehagen, er wechselte – ein wenig zumindest – das Thema. »Was sagen sie in der Redaktion?«
Susanne senkte den Blick. Kurz, bevor er dadurch aus ihrem Sichtfeld verschwand, nahm sie noch seine Bestürzung wahr.
»Die, ähm, die … die denken, das ist wahr? Ja? Die ganze Redaktion denkt das?«
»Ja«, sagte Susanne tonlos. Und hob nun doch den Blick, den war sie ihm schuldig. In seinen Augen las sie blanke Erschütterung. Die sich zu Trotz aufstaute und dann zu Wut. Er beugte sich vor: »Das war ein polit-taktisches Manöver, Susanne. Wenn man nicht den Ball treten kann, tritt man den Spieler. Geschehen. Hat ja auch funktioniert. Aber ich horte keine Kinderpornos. Ich steh nicht auf Kinder. Kinderpornografie ist überdies verboten, und ich wäre ziemlich dumm, die auch noch auf meinem Computer zu speichern, hm? «
Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande: »Ja, ich denke, das ist absurd.«
»Ja. Absurd.«
»Ja.«
Stille.
Er betrachtete sie ausgiebig.
»Was denkst du denn eigentlich?«
»Ich?«
»Wer sonst? Mit wem sprech ich denn? Du glaubst mir auch nicht.«
Susanne Elling schluckte.
»Doch«, erwiderte sie intuitiv, »doch, ich … ich verstehe nur nicht …«
»Ja?«
»Ich …«
»Sprich es aus.«
Ein älteres Pärchen vom Nachbartisch schaute unverhohlen herüber und hörte offenbar interessiert zu. Benedikt atmete laut aus und wandte sich an die beiden: »Ihr Schnitzel wird kalt.«
Das Pärchen senkte schuldbewusst den Blick und wandte sich wieder seinem Essen zu.
Benedikt richtete seine Augen auf Susanne. Seine Miene wurde kalt und hart. »Dass ich mich an Kindern vergehe, das hältst du für möglich? Das denkst du?«
»Nein«, antwortete Susanne kraftlos, »nein.« Und während sie es aussprach, während sie ihn mit diesem einen Wort belog, wusste sie, dass es vorbei war.
»Doch, das hältst du für möglich«, stellte er fest und verbarg seine Enttäuschung darüber keineswegs: »Aber darum geht es gar nicht nur, hm? Du weißt sehr gut, dass ich den Wahlkampf nicht mehr gewinne, du weißt, dass ich politisch tot bin. Ich bin jetzt ein Niemand, nein, ich bin noch unbedeutender als dein Mann, weil jetzt Dreck an mir klebt … weil jetzt alles vorbei ist. Die Sektempfänge, die First Lady von Rostock, Blitzlichtgewitter, all das … wird es nicht geben. «
»Mir ist es nicht darum gegangen«, log sie, denn natürlich waren der gesellschaftliche Aufstieg, die öffentliche Wahrnehmung und all das, was damit einherging, Bestandteil ihres Traumes von einem besseren Leben. Von einem Leben, das sie verdient hatte, das ihr zustand. Aber es war nicht alles gewesen. Es war also eine halbe Lüge.
Benedikts Blick wurde kühl, er kniff die Augen etwas zusammen. »Geh, Suse.« Einmal noch straffte er sich und nahm Haltung an: »Geh. Geh zurück zu deinem Polizisten.«
Susanne musste unwillkürlich schlucken. Nicht wegen der Worte – derentwegen auch –, sondern wegen der Verachtung, die in ihnen mitschwang und ihr galt. Seine moralische Erhebung über sie.
»Ich könnte dir vielleicht helfen. Eine Erklärung finden, wie das … Material auf deinen Computer gekommen ist«, entgegnete sie.
»Eine Erklärung finden«, fragte er mit schneidender Stimme, »was denn für eine Erklärung? Man hat es mir untergejubelt, das ist so offensichtlich, dass es fast schon wehtut. Kinderpornos unterschieben, Wahl zu Ende. Das ist der Mechanismus. Das ist kein Florett, das ist die Streitaxt, die da jemand im Wahlkampf gegen mich ausgepackt hat. Und dann auch noch mit vollem Erfolg. Es ist … unfassbar. Du weißt, ich hätte gewonnen. Alle wissen das. Und jetzt bin ich aus dem Rennen. Ich muss mich hier wegstehlen wie ein Dieb. Das Haus gehört Brit, ich muss wegziehen, neu anfangen … Und du willst eine Erklärung finden?« Er beugte sich vor und fixierte sie: »Eine Erklärung für wen? Für mich? Für dich? Für mich nicht. Meine Erklärung ist ganz einfach, was passiert ist, ist ganz einfach. Und du? Bei dir ist es auch einfach, Susanne: Du glaubst mir nicht und du willst ….«
»Nein, ich … nein, das stimmt nicht. Ich … ich möchte …«
»Ja?«
»Dass alles wieder gut wird.«
»Das wird es nicht. Nichts wird wieder gut. Es ist alles vorbei. Selbst wenn man denjenigen findet, der das getan hat, ist die Wahl vorbei. Und die Erklärung für dich ist: Du hast mit mir gevögelt für ein besseres Leben. Du hast dich prosti …«
Sie ohrfeigte ihn so hart, dass ihr die Finger noch Minuten später schmerzten. Tränen schossen ihr ins Gesicht und mit gesenktem Kopf verließ sie das Lokal.
Ja, es war vorbei. Unwiderruflich.
Als sie die Tür erreichte und hinausschlüpfte, hörte sie noch, wie Philipp ein Bier bestellte.
Und wie die Kellnerin ihm antwortete: »Wir bedienen keine Kinderschänder.«