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»In was für einer Zeit leben wir eigentlich? Das ist unfassbar. Un-fass-bar.«
Die Kirchenstraße Nummer sieben war ein typisch hanseatischer Wohnblock aus rotem Klinker, lediglich fünf Minuten zu Fuß vom berühmten Fischmarkt entfernt. Der schon längst kein Fischmarkt mehr war.
Ise Reimer war 77 und rauchte Kette. Ein kleines, schmales Persönchen mit lebendigen Augen. Und wenn die sich umsahen, wirkte die Welt ein wenig zu schnell für Frau Reimer. Aber sie trug ein verschmitztes Lächeln im Mundwinkel, so, als hätte sie im Zweifelsfall noch einen Trumpf im Ärmel.
Ihretwegen gingen sie die Kirchenstraße runter in Richtung Elbe. Auch in Hamburg war es ziemlich heiß, aber immerhin zog eine Brise durch die Straßen.
»Und Sie wissen nicht, wer das war?«
»Nein«, sagte Elling und steckte sich auch eine Zigarette in den Mund, »wir versuchen rauszufinden, wer das war.«
»Geld vielleicht? Die Welt ist kalt und gierig geworden. Sehen Sie die da?«, fragte Ise Reimer und deutete hinter sich auf eine norddeutsche Kirche aus – wer hätte es gedacht – rotem Klinker und einem grünen Dach.
»Ja«, antwortete Elling freundlich.
»Die gab’s früher nicht, das alles hier«, Ise Reimer vollführte eine ausladende Geste, die die Grünanlage gegenüber und die dortigen Neubauten mit einschloss, »das war alles zerbombt. Das war nur noch Schutt und Asche. Da hinten die Kirche – Trümmer. Und in denen haben wir gespielt, als Kinder.«
Sie lächelte verschmitzt: »Die Bomben der Alliierten haben wir nicht richtig mitbekommen, dafür waren wir zu klein, aber unsere Mütter. Reiner Zufall, dass unser Wohnhaus bis auf Splitter nichts abbekommen hat. Wissen Sie, wir haben Hunger gelitten. Haben Sie das mal erlebt, dass Sie nachts nicht schlafen können, weil der Hunger Sie quält?«
»Nein«, bekannte Lona.
»Die Leute würden anders mit Essen umgehen, wenn sie das erlebt hätten«, stellte Frau Reimer fest, und ihre Stimme war dabei frei von Bitternis, »da ist keine Demut mehr, keine Achtung vor Nahrungsmitteln. Gibt ja alles im Überfluss. Na ja, Sie sind ja nich’ hier, um einer alten Frau beim Lamentieren zuzuhören.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Zu dritt setzten sie ihren Weg fort und überquerten die Breite Straße, zu deren Füßen sich der Fischmarkt mit seinen grauen Pflastersteinen ausbreitete.
Ise Reimer hatte bei der Wilmer AG unter der Leitung von Leyendecker in der Forschungsabteilung gearbeitet. Sie war es, die der eifrige Polizist aus Boltenhagen für sie aufgetrieben hatte. Der Mord an ihrem ehemaligen Vorgesetzten erschütterte sie stark. Aber nicht lange. Nicht, weil es ihr an Empathie mangelte, sondern weil das Verbrechen ihr so unwirklich erschien.
»Herr Leyendecker war in den Achtzigerjahren Forschungsleiter bei Wilmer«, gab Elling ihr einen kleinen mentalen Schubs. Er war wegen seiner Mutter diesbezüglich geübt.
Frau Reimer nickte. Sie drückte ihre Zigarette an einem Mülleimer aus und steckte sich gleich eine neue an, bevor sie zu dritt die Stufen zum Fischmarkt herunterstiegen und den Platz überquerten.
»Ja. Er hat Medikamente zur Marktreife geführt, die heutzutage ganz selbstverständlich auf dem Markt sind. Wirkungsvollere Blutverdünner, Betablocker, die es damals noch nicht gab. Sie waren besser, sie hatten weniger Nebenwirkungen, sie schlugen schneller an. Er hat sich ins Zeug gelegt, wir haben nächtelang geforscht, geackert, Fehlerquellen ausgeschlossen. Heute dauert es mindestens acht Jahre, bis ein Medikament mit einem neuen Wirkstoff den Weg auf den Markt geschafft hat. Für ein Pharmaunternehmen fallen da Forschungskosten von gut 1,5 Milliarden Euro an. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen: 1,5 Milliarden. Und wenn dann ein Mitbewerber schneller ist … mein lieber Schwan.«
»Das heißt, Herr Leyendecker war gut darin – schneller zu sein?«
Ise Reimer nickte: »Er hatte ein goldenes Händchen dafür. Er hat Wilmer Milliardengewinne verschafft. Und jeder gewonnene Wettlauf kostete die Konkurrenz wiederum Milliarden. Wilmer lag Anfang der Achtziger am Boden, dann wurden alle verbliebenen Gelder in die Forschungsabteilung geschossen, und nach zwei, drei Jahren war Wilmer aufgestiegen wie der Phönix aus der Asche.«
Sie erreichten das Bier-Carl unten an der Ecke, ein Hamburger Mythos. Natürlich in rotem Klinker, und die länglichen Fenster waren mit rot-grünen Läden versehen. Draußen saßen Touristen unter roten Sonnenschirmen und aßen Fisch und tranken Pils.
»Hier hat die Wirtin früher gesungen. Nach dem Fischmarkt. Da wurde gefrühstückt, es war immer proppenvoll. Aber Touristen gab’s noch nicht. Ich bin mit meiner Cousine Carla da rüber«, Frau Reimer deutete zur Elbe, die keine dreißig Meter mehr entfernt war, »da sind die Fischer morgens reingekommen, und auf dem Fischmarkt musste ich dann die Fische stehlen. Ich war die Kleinste, ich hatte die schmalsten Hände. Da, wo die Männer die Kisten getragen haben, so kleine Bügel, da kam ich mit meiner Hand durch und hab die Fische gegriffen. Und die haben wir dann gegessen, abends. Das war ein Festmahl.«
Ein sentimentales Lächeln stahl sich über ihr Gesicht.
»Sagen Sie, wir stolpern in den Ermittlungen immer wieder über einen Ort: Marnow.«
»Marnow?«
Ihre Nachfrage sorgte bei Lona und Elling nicht für die Zuversicht, die sie sich von ihrem Besuch in Hamburg erhofft hatten.
»Marnow – klingt nach Ossis.«
»Ja, das ist ein kleiner Ort in Mecklenburg-Vorpommern.«
»Ist das nicht ein schrecklich langer Name für ein Bundesland?«
»Das stimmt, Frau Reimer. «
Sie schüttelte den Kopf und zündete sich die nächste Zigarette an.
Sie hatten die letzte Straße passiert und die Elbe erreicht. Gegenüber lag ein gigantisches Frachtschiff. Die Container zu rechteckigen Hochhäusern gestapelt. Aus der Distanz wirkten sie wie Bauklötze. Drei der fahrbaren Hafenkräne be- und entluden den Frachter.
»Das müssen Sie mal bei Nacht sehen«, meinte Frau Reimer, »da leuchten Hunderte an Lichtern. Das ist ein … so schönes Bild.«
Ihr wurden die Augen feucht.
»Wie lange war Herr Leyendecker bei Wilmer?«
Frau Reimer legte den Kopf in den Nacken, schaute in die Luft und rechnete.
»Bestimmt seit den Siebzigern. Da hab ich bei Wilmer angefangen, da war er schon da.«
Elling musterte sie von der Seite. »Aber seine große Zeit war in den Achtzigern?«
Die Frage, die Lona auch hätte stellen wollen.
»Ja.«
»Erinnern Sie sich an eine Jahreszahl?«
Ise Reimer überlegte. Währenddessen kauften sie sich ein paar saure Heringsbrötchen unten an den Landungsbrücken und bissen herzhaft zu. »1982«, sagte sie dann, »das war der erste Durchbruch.«
»Und in den Siebzigern gar nichts?«
»Nein«, bekannte Ise Reimer, »das war eher … Grundlagenforschung. Da hat Wilmer in die Erkenntnisse der nächsten zehn Jahre investiert, wenn man so will.«
»Gab es Feinde, Frau Reimer? Hatte Herr Leyendecker persönliche Feinde?«
»Viele. Auch im eigenen Konzern. Sie kennen ja den Spruch: Erfolg macht einsam. So ist das. Wer ihm den Erfolg nicht gegönnt hat, war neidisch und hat gehofft, er würde in Ungnade fallen oder die falschen Entscheidungen treffen. Hat er nicht. Er hatte den richtigen Riecher .
Und Feinde außerhalb des Konzerns gab es sowieso. Es gab auch Abwerbeversuche, aber die Wilmer AG war klug genug, uns in der Forschungsabteilung sehr gut zu bezahlen.«
Eine Möwe setzte sich aufs Geländer am Fluss und starrte auf ihr Fischbrötchen. Frau Reimer verscheuchte sie mit einer Handbewegung, und meckernd zog der Vogel davon.
Die alte Dame schüttelte erneut den Kopf: »Un-fass-bar. Ich kann es immer noch nicht glauben. Und wieso? Er war doch nur noch ein alter, harmloser Mann, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Lona ihr.
Ise Reimer nickte: »Die Leute, die ihm damals nicht wohlgesinnt waren – welchen Nutzen hätten die jetzt?«
Das war die entscheidende Frage, die Lona und Elling sich beständig selbst stellten. Ohne Hoffnung auf eine Antwort.
»Kennen Sie einen Herrn Beck? Alexander Beck aus Rostock?«
»Nein.«
»Und einen Dr. Sterzing? Klaus-Peter Sterzing?«
»Nein, wer ist das?«
»Ein ehemaliges SED -Mitglied.«
Ise Reimer runzelte die Stirn und sah fragend von Lona zu Elling und dann wieder zurück.
»Nein. Aber Wilmer hatte ja nichts mit dem Osten zu tun. Und eine Filiale ist da nach dem Mauerfall auch nie gegründet worden.«
»Hm«, brummte Elling kaum hörbar und stützte sich aufs Geländer, um über die Elbe zu blicken. Hm empfand Lona als passenden Kommentar zu der ganzen Situation. Sie hatten auf einen Hinweis auf ein Motiv gehofft, aber Frau Reimer hatte ihre eigene Ratlosigkeit auf den Punkt gebracht: Es schien kein Motiv zu geben.
Sie begleiteten Ise Reimer zurück zu ihrer Wohnung, und sie rauchte dabei zwei Zigaretten. Kurz bevor sie wieder in dem roten Klinkerbau verschwand, wandte Lona sich noch einmal an sie: »Frau Fichte kennen Sie.«
»Aber natürlich. Die hat Leyendeckers Arbeit noch eine Weile weitergeführt und ist dann ins Management aufgestiegen. Kluge Frau.«
»Das war dann ein ganz schöner Karrieresprung«, stellte Lona fest.
»Wegen des Managements?«
»Nein. Sie hat gesagt, sie war zu Leyendeckers Zeiten ein kleines Licht.«
Ise Reimer lächelte: »Die ist eben sehr bescheiden. Kleines Licht ist gut. Sie war Leyendeckers rechte Hand, seine Stellvertreterin.«
Elling stutzte.
War es tatsächlich vornehme Bescheidenheit, mit der Frau Dr. Fichte ihre Rolle unter Leyendeckers Ägide kleingeredet hatte? Diese Frage stellten sie sich, während sie den Heimweg nach Rostock antraten.
»Eins steht jedenfalls fest«, sagte Elling: »Der Mörder hatte ein starkes Motiv. Er ist kein Amokläufer mit einem Messer. Aber er tötet Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Er hat, aus seiner Sicht gesehen, einen Grund, um Leyendecker zu ermorden. Das heißt vielleicht, er weiß was über Leyendecker, was wir nicht wissen.«
»Und etwas über Beck und Sterzing.«
»Genau. Was ist, wenn Leyendecker ein Geheimnisträger war? Wenn er etwas wusste, was er für sich behielt?«
»Dann weiß es auch Frau Fichte?«
»Vielleicht, ja. Vielleicht hat sie deshalb ihre Rolle damals runtergespielt.«
»Dann«, nahm Lona den Ball auf, »würde es definitiv um eine Pharmageschichte gehen – es sei denn, ihre und Leyendeckers Biografie haben sich außer bei Wilmer noch woanders gekreuzt.«