Elling wachte um sieben Uhr vom Klingeln seines Handys auf – Susanne. Er ging nicht ran und schaltete die Lautstärke auf Null, um sich noch mal zur Seite zu drehen. Lona lag auf der Seite, ihr Gesicht war ihm zugewandt. Sie schlief noch tief, während der Campingplatz um sie herum kollektiv erwachte und die ersten Urlauber zu den Waschräumen schlurften, einige in Flip-Flops.
Das Flip und Flop und die Begrüßungen und das erste Geschrei von Kindern hinderten Elling am Einschlafen. Und was war eigentlich mit Mareike?
Er schaute auf sein Handy: keine SMS
! Mit zwei Sätzen war er draußen und rief sie an.
»Och, Papa, es ist mitten in der Nacht.«
Er stöhnte vor Erleichterung.
»Was ist? Hast du dich gestoßen?«
»Nein. Warum hast du nicht angerufen?«
»Hab ich vergessen, wir haben uns gleich hingelegt.«
»Wer wir?«
»Simone und ich.«
»Ach so.«
»Sag Mama einen Gruß, ja?«
»Mach ich.«
Klack.
Der Morgen war recht frisch. Elling atmete tief durch. Michael Bender kam mit einer Brötchentüte gewaltigen Ausmaßes vorbei und nickte ihm mit einem Lächeln zu: »Morgen, Herr Elling – auch ein Brötchen?«
»Belegt?«
»Nein, nur frisch.
«
»Warum nicht, ja?«
Er kaufte vier und musste nur einen Euro zahlen. Bender nickte wieder und zog weiter zu den anderen Campern, die ihn teilweise schon sehnlich erwarteten und an ihren Plastiktischen saßen, um zu frühstücken. Für Elling würde das für immer ein Rätsel bleiben, wie man im Urlaub um sieben Uhr morgens putzmunter aus dem Bett hüpfen konnte.
Er zog sich bis auf die Boxershorts aus, die auf eine gewisse Distanz mühelos als Badehose durchging, und marschierte in den See, der überraschend kalt war. Seine Überwindung reichte nur, bis ihm das Wasser zu den Knien stand, dann beschloss er, den Tag mit einer Dusche in den Waschräumen zu beginnen.
Da hörte er hinter sich eilige Schritte, nackte Fußsohlen, die über Gras rannten und dann ins Wasser. Er schaute sich um – Lona, die sich im Bikini in den See warf. Sie kraulte in beachtlichem Tempo hinaus. Da sie ihn nassgespritzt hatte und er sich nicht die Blöße des Umkehrens geben wollte, ließ auch Elling sich ins Wasser sinken und schwamm ein paar Züge.
Lona war ihm nach wie vor zugewandt, auch bei ihrem Frühstück vor dem Wohnmobil, aber sie hatte sich innerlich zurückgezogen. Auf jene geringe Distanz, die vor seinem Fund der Fotos geherrscht hatte. Vielleicht war das ihr Versuch, die Sache ungeschehen zu machen, überlegte er, was ihr aber eigentlich gar nicht ähnlich sah – sie war viel zu klug, um an das Gelingen so eines Versuchs zu glauben.
Er begriff bei dem zweiten Kaffee, dass sie damit die rote Linie nachzog, über die er gestern Nacht getreten war. Das mit den Fotos war nicht ungeschehen, es war passiert, aber es war, so las er zwischen den Zeilen und in ihren Blicken, Vergangenheit. Es verschwand in einer Truhe, es war für immer gefangen in der Zeit.
Lisa Schneider von der KTU
meldete sich auf Lonas Handy: Sie war in Sterzings Keller auf Hunderte Fotos gestoßen. »Auf einem hab ich jemanden erkannt«, sagte sie, »einen, der heute noch in der Gegend von Marnow wohnt.
«
Sie empfing sie rauchend vor dem Eingang von Dr. Sterzings Villa und steckte schon wieder in ihrer Astronautenkleidung.
»Was machen Sie noch hier?«, fragte Elling, der seinen Brillenbügel inzwischen mit silbernem Gaffa Tape fixiert hatte, weil das Heftpflaster sich immer weiter löste.
»Das Opfer war ein Messi. Es gibt nichts, was er nicht gesammelt hat, hab ich den Eindruck«, antwortete Lisa Schneider, »wie es aussieht, brauchen wir nach gestern auch heute noch den ganzen Tag, um alles anzupinseln und zu sichten.«
»Wer ist’s, den Sie erkannt haben?«
»Den Vater eines behinderten Jungen. Mein Bruder ist Zimmermann. Der hat dem das kaputte Dach neu gemacht. Von seinem Restaurant. Wir haben da dann ein paar Mal gegessen.«
Lona merkte auf: »War es ein Fischrestaurant?«
»Hauptsächlich, ja. Aber es gab auch andere Sachen.«
»War es der Marnower Hof?«
Lisa Schneider nickte überrascht.
Die Deckenlampe in dem Kellerraum, der modrig roch, war ausgefallen. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung hatte das Kellerfenster geöffnet, um zu lüften. Er durchsuchte Kartons und pinselte sie akribisch ab.
Elling und Lona hatten sich Einweghandschuhe übergezogen und folgten Lisa Schneider bis zu einem Regal. Sie nahm das Foto und reichte es den beiden. Ja, das war eindeutig der Vater des Jungen. Der, der ihm beim Angeln Pippi Langstrumpf vorlas. Nur jünger. Fünfzehn Jahre, vielleicht auch zwanzig Jahre jünger. Er stand in einem Flur, der nach was Offiziellem aussah. Er hielt einen Jungen an der Hand.
So wie Lona ihren Sohn an der Hand gehalten hatte.
»Ist das sein Sohn?«, fragte Elling, der sich nicht sicher war.
»Vermutlich ja«, antwortete Lona und deutete auf ein Fenster hinter den Personen: »Siehst du das?«
Am Ende des Flurs gestattete ein Fenster den Blick nach draußen – und dort ragte ein Kirchturm ins Bild
.
»Marnow«, sagte Elling leise.
Lona nickte: »Marnow. Die Klinik. Er steht in der Klinik, Elling.«
Stimmt.« Er deutete auf einen Karton: »Ist das Foto aus dem?«
»Ja«, bestätigte Lisa Schneider.
Elling griff nach weiteren Fotos, die er vor ihnen auf einem Tisch ausbreitete, auf dem der Hausherr gebrauchte Teelichter gehortet hatte.
Ein Arzt in einem Kittel, der ein dunkelhaariges Mädchen untersuchte. Ein Krokodil aus Stoff vor den kleinen Oberkörper gedrückt.
Ein Schrank mit Medikamenten. Ein alter Patient in einem Bett, der lächelte. Eine Schlange von Patienten, die vor einer Tür anstanden und warteten.
Lona wandte sich an Lisa Schneider: »Was ist das alles?«
»Ich weiß nicht.«
»Na, offensichtlich ist das der Klinikbetrieb in Marnow«, sagte Elling, ohne die Augen von den Fotos zu lösen, »was die Kleidung und die Frisuren betrifft, ist das vielleicht Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger.«
Lona nickte.
»Ist das Sterzing?«, fragte Elling sie und deutete auf ein Gruppenfoto: Ein Mann im Anzug schüttelt einer Frau die Hand. Der Mann im Anzug sah aus wie Klaus-Peter Sterzing.
»Ja«, bestätigte Lona, »das ist er. Er war in der Klinik in Marnow.«
Sie schaute auf eine Fotografie, die eine Tabelle zeigte. Links Namen, in der Mitte die Medikamente und die Dosis, rechts die Diagnose. Ein Kürzel, vermutlich das des behandelnden Arztes.
»Drei, zwei«, sagte sie halblaut.
Elling hob den Blick: »Hm?«
»Drei, zwei«, wiederholte sie. Ihr Blick war konzentriert, sie starrte die Wand an und sah dort Dinge, die für Lisa Schneider und Elling unsichtbar waren.
»Weißt du, was es bedeutet?«, fragte er leise, um ihre Gedankengänge nicht mehr als nötig zu stören
.
»Drei, zwei«, wiederholte sie und fuhr mit dem Finger drei Spalten nach rechts und zwei nach unten, »es ist eine Position in einem Gitterkreuz. In einer Tabelle. Drei Spalten nach rechts und zwei Zeilen nach unten. Fragt sich bloß, wo.«
»Ich glaube, ich weiß, wo«, sagte Elling. Und als sie ihn ansah, ahnte sie es auch.
Klaus-Peter Sterzing hatte die Urkunden in seinem Arbeitszimmer fein säuberlich aufgehängt. Gleicher Abstand nach oben und nach unten, nach links und nach rechts. Wie bei einer Militärparade. Elling war, als höre er das Hackenknallen der Urkunden.
Lona zählte sie ab: »Drei nach rechts … zwei nach unten.«
Sie, Lisa Schneider und Elling beugten sich vor.
»Vorsitzender des Ethikausschusses«, las Lona und wandte sich an Elling: »Was war das, der Ethikausschuss?«
»Keine Ahnung.«
»Du bist doch in der DDR
aufgewachsen, Elling.«
Der inspizierte immer noch das eingerahmte Dokument: Es handelte sich um eine Entlassungsurkunde. 1989. Ausgestellt für Herrn Dr. Klaus-Peter Sterzing. Mit Dank für seine Leitung des Gutachter-Ausschusses der Ethikkommission.
»Und Gutachter-Ausschuss?«
»Ich weiß nicht, Lona.«
»Aber ich weiß es«, meldete sich ihre KTU
-Leiterin zu Wort, darum bemüht, den Stolz aus ihrem Lächeln zu bannen: »Eine der wenigen Sachen, die die Bundesrepublik nach dem Mauerfall vielleicht hätte übernehmen sollen. Der Gutachter-Ausschuss hat über ethische Fragen im pharmazeutischen Bereich beraten. Also, was zulässig ist und was nicht. Und dann verbindliche Richtlinien rausgegeben, an die alle Kliniken und Ärzte sich zu halten hatten.«
Sein Name war Herwig Maas.
Er hielt Astrid Lindgrens zweiten Streich in der Hand, Pippi Langstrumpf geht an Bord.
Maas betrachtete das Foto, das Lona
ihm hinhielt und auf dem er sich selbst erkannte. Sich und Kai, seinen inzwischen erwachsenen Sohn, der versonnen auf jenen Punkt im See schaute, an dem die Angelschnur die Wasseroberfläche durchbrach.
Lona und Elling waren aus Jabel von Sterzings Anwesen direkt nach Marnow gefahren, in der Hoffnung, den Mann und seinen Sohn auf dem Platz anzutreffen.
»Ja, das bin ich«, bestätigte Maas ihre Vernutung, »das bin ich, und das ist Kai.«
»Ist das im Klinikum von Marnow aufgenommen worden?«, erkundigte Elling sich.
»Ja«, fügte er überflüssigerweise hinzu, »wo haben Sie das her?«
Der Mann hielt es ihnen hin, und Lona nahm das Foto wieder an sich.
»Aus Privatbesitz«, antwortete Elling freundlich, »was war da in der Klinik – wann war das eigentlich?«
»Das ist von 1987. Es war der 2. Februar – ein Montag. Es war bitterkalt.«
»Das wissen Sie so genau?«
»Ja, das weiß ich so genau. Das Foto ist am Vormittag entstanden.«
Die lockere, freundliche Miene des Mannes verlor sich, die Züge wurden ernster, klarer. Wie eine kleine, mimische Metamorphose.
»Was haben Sie da gemacht, Herr Maas?«
»Das, ähm, dauert einen Augenblick.«
»Sollen wir uns irgendwo hinsetzen?«
»Nein, nein, es war nur … ich will Ihnen nicht die Zeit stehlen.«
»Das tun Sie nicht, Herr Maas«, beruhigte Lona ihn und schenkte ihm ein Lächeln. Sie irrten dem Mörder seit neun Tagen hinterher und hatten im kalten Licht betrachtet nicht mehr als ein paar Indizien, die sich partout nicht ergänzen wollten. Sie hatten also alle Zeit der Welt.
»Kai, mein Sohn, war herzkrank. Unser Hausarzt hat uns an einen Spezialisten verwiesen. Dann sind wir drei Jahre lang
zwischen Herzspezialisten hin und her geschoben worden. Der letzte, dem haben wir damals am meisten vertraut, der hat gesagt, dass wir die Medikamente, die wirksamen, guten, nur im Westen bekommen. Sie wissen ja … kommen Sie aus dem Osten?«
»Er ja, aus Rostock«, antwortete Lona ihm, »ich nicht, ich komm aus Hannover.«
»Hier in der DDR
, da sind wir an die Westpräparate meistens nicht rangekommen. Außer die Verwandtschaft hat was geschmuggelt. Aber die Medikamente, die Kai gebraucht hat, waren sehr speziell – und teuer. Der dritte Arzt jedenfalls, der hatte Mitleid. Und hat uns den Tipp gegeben …«
»Was für einen Tipp?«, fragte Elling.
»Dass in der Marnower Klinik manchmal Patienten mit Westpräparaten versorgt wurden.«
»Das war nicht allgemein bekannt?«, fragte Lona.
Maas schüttelte den Kopf: »Nein. Es gab Gerüchte, ja.«
»Zum Beispiel?«
»Dass wichtige SED
-Funktionäre und deren Familien da Sonderbehandlungen bekamen. Eben mit teuren Medikamenten aus dem Ausland. Aber ich hab natürlich nie gedacht, dass wir da auch hingehen könnten. Dass man Kai da behandeln würde.«
»Wurde er aber?«, hakte Elling nach. Er und Lona hingen dem Mann an den Lippen, sie spürten beide, dass die Dinge, die zusammenhanglos erschienen waren, sich bald einfügen würden in ein Ganzes. Wie die Fotos aus Lonas früherem Leben.
»Ja. Sie haben ihn ausgiebig untersucht und ihm dann Westmedikamente gegeben. Stiraprilan. Von Darandoz. Und dann ist unser Junge ins Koma gefallen … zwei Jahre lang. Hoffen und Bangen. Und dann … Sie sehen es ja.«
Mass warf einen Blick auf seinen angelnden Sohn, sanft. »Aber das mit dem Angeln hat er nicht vergessen.«
Die Angelrute straffte sich, fast wurde sie Kai aus den Händen gerissen. Das Gesicht des Jungen war blankes Erstaunen. Sein Vater packte die Angel. »Ja, da ist einer dran, Kai!«
Der junge Mann strahlte wie ein Schneekönig
.
»1987«, sagte Elling nachdenklich und an Lona gerichtet: »Das fällt in Leyendeckers große Zeit. Und in die Zeit seiner Stellvertreterin Dr. Fichte.«
»Und in die Zeit von Klaus-Peter Sterzing. Ethikkommission«, fügte Lona hinzu, ihre Augen wurden schmal, »jetzt ist alles klar, Elling.«
»Mir nicht.«
Sie senkte ihre Stimme, damit Herwig Maas es nicht hörte, und beugte sich vertraulich zu Elling vor: »Die Wilmer AG
ist mit Medikamenten hier rüber und hat die an DDR
-Bürgern getestet. Die haben hier mit Billigung der Ethikkommission Menschenversuche durchgeführt. Darum dreht sich alles: Menschenversuche.«