Sie schossen mit Blaulicht über die Autobahn mit allem, was der altersschwache Volvo hergab. Der Motor dröhnte und röhrte. 245 Sachen.
Elling fuhr selbst. Er betätigte ununterbrochen die Lichthupe. Die Autos vor ihm scherten rechts rüber und machten ihm Platz.
Lona hatte das Handy am Ohr, der Rufton tönte durch das Auto. Sie telefonierte über die Freisprecheinrichtung.
»Polizeiverwaltung Rostock, Sie sprechen mit Marion Klatt?«
»Frau Klatt, KHK
Mendt, Kripo Rostock. Welche Polizeidienststelle ist für die Bergung des Autowracks aus der Unterwarnow zuständig?«
»Augenblick, bitte …«
Das Klappern einer Tastatur.
»Das ist die Wasserschutzpolizei am Hafen. Der Leiter heißt Jan Johannsen.«
»Danke.«
Mertens klingelte durch.
Lona und Elling zögerten kurz, aber dann nahm Lona das Gespräch entgegen.
»Mendt hier, Herr Mertens.«
»Wo sind Sie?«
»Auf dem Weg nach Marnow«, log Lona.
Elling bewunderte, dass sich ihre Stimmlage dabei nicht veränderte. Wenn er log, kam er nicht umhin, eine halbe Oktave höher zu sprechen.
»Es gibt beunruhigende Neuigkeiten«, eröffnete ihr Chef ihnen, »Stefan Krohn ist gestern Nacht ermordet worden.«
Die Anspannung, die Lona seit Tagen mit sich herumtrug,
atmete sie jetzt aus. Am Stück. Ein langer, langer Ausatmer. Sie fiel, so war Ellings Eindruck, ein wenig in sich zusammen, wie ein Ballon, aus dem man die Luft ließ.
»Täter ist flüchtig«, fuhr Mertens fort, »viel mehr ist nicht bekannt. Wir haben leider nicht mal eine Personenbeschreibung, könnte also auch der Weihnachtsmann gewesen sein. Jemand hat auf der Intensivstation bei Herrn Krohn die Stöpsel gezogen und irgendwie dafür gesorgt, dass dabei der Alarm nicht ausgelöst worden ist. Das LKA
hat den Fall an sich gezogen. Ist ja klar: ihr Mitarbeiter, ihr Fall. Und die lassen nur wenige Informationen raus. Wie üblich.«
»Danke«, sagte Lona und beendete die Verbindung. Sie lehnte sich nicht nur zurück, sondern legte auch den Kopf in den Nacken. Ihre Erleichterung war für Elling greifbar. Sie hatte ihn verletzt, ja. Aber umgebracht hatte sie ihn nicht.
»Da hat jemand anderes mehr Angst vor dem, was Krohn verraten könnte, als wir«, stellte er fest.
»Ja«, bestätigte Lona, »sein Auftraggeber.«
»Christian Rathe?«
Lona nickte: »Wir glauben doch nicht wirklich an das Märchen von den Telefonaten zwischen Rathe und Krohn wegen illegaler Preisabsprachen in der Pharmaindustrie. Krohn hat ihn aus der Wohnung von Beck angerufen. Rathe wusste, dass er da war. Vielleicht hat er ihn selbst dorthin geschickt. Das war eine konzertierte Aktion. Und nach dem, was … in Marnow … passiert ist, hatte Krohn, wenn du mich fragst, nur zwei Optionen. Sich nach seinem Erwachen gegen uns zu stellen – oder gegen seinen Auftraggeber. Und ganz offensichtlich haben seinem Auftraggeber mehr die Nerven geflattert als uns. Der wollte es nicht darauf ankommen lassen und hat ihn mundtot gemacht.«
»Der Ursprung der Morde ist Beck«, stellte Elling fest. »Der erste Täter will Antworten von ihm und tötet ihn dann. Der zweite Täter, Krohn, legt eine Fehlspur, damit wir nicht auf die wahren Tathintergründe stoßen. Eigentlich können wir bisher alle Opfer zuordnen. Leyendecker gehört zu Wilmer. Die Auftraggeber.
Sterzing gehört zur Ethikkommission. Zur DDR
. Diejenigen, die die Tests zugelassen haben. Und Beck? Warum musste er sterben? Er war ein Geheimnisträger. Sonst wäre er nicht gefoltert worden.«
Lona nickte: »Er wusste was, was der Mörder wissen wollte – und was uns fehlt.«
Die zuständige Station der Wasserschutzpolizei in Rostock lag an der Ost-West-Straße direkt am Hafen und teilte sich das weiße, fünfstöckige Gebäude mit dem Zollamt. Elling stellte den Volvo zwei Straßen weiter am Verladebahnhof ab, wo die Container von der Schiene aufs Schiff wechselten und andersherum.
Viele Autos, viele Leute, viel Betrieb. Man nahm sie kaum zur Kenntnis, während sie die hundert Meter zur Wasserschutzpolizei zurücklegten.
»Bist du nervös?«, fragte Lona.
»Nein. Ich möchte nur nich’ zu spät kommen.«
Sie betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Das Großraumbüro drinnen glich einem normalen Polizeirevier. Da war die Theke, an der die Besucher ihr Anliegen vorbringen konnten. Dahinter die Schreibtische mit den Computern und den Röhrenmonitoren. An der Wand die Karten von Mecklenburg-Vorpommern und Rostock – und den Wasserwegen. Einige Beamte telefonierten, zwei sprachen mit Besuchern. Es brummte.
Elling und Lona hoben im Vorbeigehen ihre Dienstausweise.
Die Kollegen hinter der Theke sahen lediglich die typischen Merkmale eines Dienstausweises. Die Namen konnten sie nicht lesen. Ausschlaggebend war die Selbstverständlichkeit, mit der Elling und Lona – die den Eindruck erweckten, sich hier auszukennen – die Theke passierten.
»Kripo Schwerin«, log Lona.
»Bleckmann und Töteberg«, fügte Elling hinzu, bevor sie ihre Ausweise wieder einsteckten und die erste Tür aus dem Großraumbüro in den angrenzenden Gang nahmen.
Hier hinten mussten sich die Diensträume befinden, und so war es auch: Die Zimmer der Wasserschutzpolizei waren einfach
gegliedert. Sie gingen jeweils links und rechts von dem Flur ab, der – bis auf ein riesiges Kopiergerät – leer war. Ganz am Ende befand sich eine Brandschutztür, die zugleich den Notausgang bildete.
Linker Hand wiesen zwei Logos auf die Toiletten für Frauen und Männer hin. Elling betrat die für Männer und vergewisserte sich, dass er alleine war. Die Kabinen waren leer. Er öffnete die Tür und winkte Lona zu sich, die draußen im Gang gewartet hatte.
Drinnen ging er in die Hocke, verschränkte die Finger seiner Hände und bildete so eine Räuberleiter, auf die Lona stieg.
Er hob sie an, sodass sie sich direkt unter der Sprinkleranlage befand.
»Geht’s noch?«
»Ich kann dich den ganzen Tag so halten«, kam es gepresst.
Lona zückte das Feuerzeug und ließ eine Flamme hochschnalzen, die sie unter die kleine Glaskugel des Feuermelders hielt.
Nach zehn Sekunden wurde Elling nervös: »Kann man das überhaupt so auslösen?«
»Wart’s ab.«
»Ich will bloß keinen Fehler machen, jetzt.«
»Das funktioniert, Elling. Mach jetzt kein Tamtam.«
»Es ist ja nur, weil nichts passiert«, rechtfertigte er sich.
Die Glaskugel sprang.
Ein Röcheln, Blubbern, Rauschen unter der Decke – dann zischte das Wasser aus der Sprinkleranlage und regnete sie sanft ein.
»Perfekt«, sagte Elling und entzog Lona den Halt. Sie fiel, er fing sie auf und zog sie zu sich an die Ecke, wo die Sprinkleranlage sie am wenigsten erwischte.
Sie hörten erste Rufe.
»Feuer irgendwo!«
»Alle raus!«
Elling nickte sich selbst zu. Bei Feuer war das Gebäude laut Dienstvorschrift umgehend zu räumen, damit keine Menschen zu Schaden kamen. Und tatsächlich hörten sie nun Laufgeräusche, hastiges Türenklappen und Zurufe
.
Elling trat an die Tür und öffnete sie einen Spaltbreit, durch den er nach draußen linste. Beamte in Uniformen liefen den Flur entlang – nach vorne. Eine Frau hielt sich einen Aktenordner über den Kopf, um ihre Frisur nicht zu ruinieren.
Überall regnete es hinab, der Boden war bereits von einer dünnen Schicht überzogen.
Schnell hatten sich die Büros geleert. Aber ein Mann, der das Schlusslicht bildete, ging zügig von einem Büro zum andern und blickte hinein. Elling nahm an, es handelte sich um den Dienststellenleiter der Wasserschutzpolizei.
Er drückte die Tür wieder zu.
»Da kontrolliert einer, ob alle raus sind.«
Lona erfasste sofort das Problem und ging in die mittlere der drei Toilettenkabinen, in die Elling ihr folgte. Sie schlossen die Tür, verriegelten sie aber nicht, weil man das von außen erkannt hätte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hörten sie, wie jemand den Raum betrat.
»Feueralarm! Noch jemand hier drinnen?«, rief eine Männerstimme.
Sie rührten sich nicht, das Löschwasser war bereits durch ihre Kleidung gedrungen. Einen Moment später hörten sie das Klappen der Tür. Lona zählte bis zehn und verließ dann erst die Kabine und dann – nach einem Blick in den menschenleeren Flur – auch die Herrentoilette. Elling folgte.
Er hatte ihr auf der Fahrt erklärt, wie die Handtasche von Jutta Winter ausgesehen hatte: schmal, ein dunkler Violettton, der Verschluss in Gold. Und da Lona sich das erste Büro links vorknöpfte, verschwand er in dem gegenüberliegenden auf der rechten Seite.
Lona öffnete eilig einen Schrank – nur Aktenordner. Kein Beweismaterial. Sie graste die Schreibtische ab, während Elling in seinem Büro Schublade für Schublade öffnete.
Er war wie Lona klatschnass, die das erste Büro verlassen wollte. Sie sah, wie Elling ebenfalls dabei war, ins nächste auf seiner Seite zu wechseln – und dann verharrte. Sich über die Schulter blickte
und nickte. Mit einer Kopfbewegung bedeutete er ihr, zu ihm zu kommen. Schnell hastete sie über den Gang in das Büro. Elling hatte in einem transparenten Beutel entdeckt, was sie gesucht hatten: die Handtasche von Frau Winter. Außerdem befanden sich die anderen Habseligkeiten der Toten darin. Kleingeld, der Autoschlüssel, eine Halskette. Aber nicht ihr Notebook, auf dem sich mit etwas Glück der Film befand, auf dem Elling zu sehen war, wie er das Kuvert mit dem Geld genommen hatte. Das Notebook war wohl aus dem Wrack gespült worden.
Es ertönte die Sirene der anrückenden Feuerwehr. Sie trugen den Beutel zu einem Aktenschrank und legten ihn dort unterhalb eines Regalbodens ab, damit der Inhalt nicht durchnässt wurde.
Elling öffnete die Tüte und zog die Handtasche heraus. Er entnahm ihr das Portemonnaie. Lona kümmerte sich um den USB
-Stick und durchsuchte die Handtasche nach ihm.
Elling erkannte auf dem Personalausweis, auf den er es abgesehen hatte, Jutta Winter wieder. Mit dem Unterschied, dass dieses nicht ihr richtiger Name war.
»Sie hat einen falschen Namen benutzt«, sagte Elling halblaut gegen das allgegenwärtige Rauschen und Plätschern, »ihr richtiger Name war Ariane Lemmes.«
Er zückte sein Handy und nahm damit die Vorder- und Rückseite des Ausweises auf, bevor er ihn zurück in die Brieftasche steckte.
»Und?«
»Bin fast durch. Noch habe ich ihn nicht.«
»Vielleicht ist er auch im Wrack. Dann war die Nummer hier umsonst.«
»Da ist er«, sagte Lona und zeigte Elling den Stick, den sie gefunden hatte. Mit orangefarbenem Kunststoff ummantelt.
Er nickte erleichtert und steckte ihn ein.
Lona verstaute das Portemonnaie wieder in der Handtasche und die Handtasche wieder in dem transparenten Beutel, als sie auf eine Visitenkarte stieß, die sie aufmerken ließ. Und Elling, der sogar ein wenig grinsen musste, weil ihnen dieses Husarenstück
tatsächlich zu gelingen schien, der über seine eigene Dreistigkeit schmunzelte, bemerkte Lonas Interesse an der Karte und warf auch einen Blick darauf: Ariane Lemmes, Wilmer
AG
, Assistenz Dr. Fichte.
»Sie hat zu Willmer gehört«, stellte er tonlos fest. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, das näher auszuführen.
Sie deponierten den Beutel dort, wo sie auf ihn gestoßen waren. Dann lugten sie an der Bürotür vorsichtig um die Ecke. Der Flur wurde immer noch gewässert. Von fern hörten sie Stimmen. Schnell wandten sie sich nach rechts und liefen zur Brandschutztür, über die sie das Gebäude auf der Rückseite unbemerkt verließen.
Zum ersten Mal seit Tagen genossen sie die Gluthitze.