»Wir haben Grund zur Annahme, dass die Mordserie, mit der wir es mittlerweile zu tun haben, eng mit den Versuchen verknüpft ist, die Sie hier als Klinikleiter durchgeführt haben.«
Dr. Hildebrandt steckte diese Aussage ohne ein Wimpernzucken weg. Er sah aus, als hätte Elling das nicht gesagt.
Der pensionierte Arzt, der auch auf Elling den Eindruck machte, er könne aus dem skandinavischen Raum kommen, hatte sie beide auf der Terrasse seines Hauses empfangen. Lona, die den Weg kannte, hatte Elling über das Grundstück hierhergeführt und die beiden einander vorgestellt.
Der Hausherr saß auf der Bank, von der aus ihm die Aussicht bis hinüber zum See möglich war. Lona und Elling hatten auf seine stumme Geste mit der Hand auf den Stühlen gegenüber Platz genommen.
»Eine Serie, sagen Sie – es gibt noch weitere Opfer, außer Herrn Beck?«
Kein sehr elegantes Ablenkungsmanöver, aber er lief ihnen ja nicht davon, und sie konnten sich ebenso gut später diesem Aspekt widmen. Deshalb knüpfte Lona an die Erwähnung von Beck an: »Alexander Beck ist hier in Marnow in den Besitz einer Liste gekommen, die die geheimen Testreihen an Menschen dokumentiert, die in dieser Klinik durchgeführt worden sind.«
Es war wieder einmal ein Schuss aus der Hüfte ins Blaue. Elling nickte, um den Vorstoß zu flankieren.
»Ist doch interessant«, fuhr Lona fort, »Sie waren damals der Leiter der Testreihen. Und Herr Beck erpresst mit einer Liste der Probanden die Wilmer AG
. Sie sind mit Herrn Beck befreundet. Und Sie wollen nichts mit der Erpressung am Hut haben?
«
Hildebrandt nickte, weil er den Gedankengang nachvollziehen konnte. Er lehnte sich zurück und legte einen Arm auf die Bank. Das alles wirkte sehr entspannt.
»Wissen Sie, ich habe alles, was ich brauche. Das Haus, das Grundstück, den Blick auf den See. Was Sie hier sehen, ist abbezahlt. Und Sie müssen auch keinen Einblick in meine Kontobewegungen beantragen, wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meine Kontoauszüge. Kurz: Ich brauche kein Geld. Ich habe keinen Grund, die Wilmer AG
zu erpressen. Außer vielleicht, Erpressungen würden mir per se Spaß machen …«
Er führte das in einer unaufgeregten Souveränität aus, die Lona wie Elling an ihrer These zweifeln ließen.
»Selbst wenn Sie nicht beteiligt gewesen sein sollten: Hatten Sie Zugriff auf die Liste der Menschen, denen in den Testreihen Medikamente verabreicht worden sind?«, fragte Elling.
»Natürlich. Wie Sie eben festgestellt haben, war ich damals der leitende Arzt in dieser Angelegenheit.«
»Vielleicht haben Sie Herrn Beck einen Gefallen geschuldet und ihm deshalb die Liste gegeben.«
»Wie ich Ihrer Kollegin bereits erklärt habe: Das Verhältnis war umgekehrt. Ich rechne in Beziehungen ungern Schuld und Unschuld gegeneinander auf. Denn letztlich führt das zu einer Hierarchie. Und Hierarchien haben in Beziehungen auf Augenhöhe meines Erachtens nichts zu suchen.«
»Wie war das mit den Testreihen hier in Marnow?«
»Was meinen Sie, Herr Elling? Können Sie Ihre Frage für mich konkreter fassen?«
»Ja. Wieso haben Sie die geleitet?«
»Kommen Sie aus Ostdeutschland?«
»Aus Rostock.«
»Dann wissen Sie ja, wie das war. Es war eine Weisung der Partei. Das dürfte Ihre Frage beantworten.«
»Und gegen die war man machtlos? Darf ich das so verstehen?«, fragte Lona.
»Das war die Intention meiner Antwort«, erwiderte
Hildebrandt. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der sich etwas vorzuwerfen hatte.
»Was wäre passiert?«, fragte Lona.
»Dr. Hildebrandt hätte seine Stelle verloren«, antwortete Elling statt seiner.
Der Mann nickte: »Genau das. Vielleicht noch mehr. Vielleicht hätte man meine ganze Familie kaltgestellt. Aber so weit will ich gar nicht gehen. Herr Elling hier hat recht: Ich hätte meine Stelle verloren. Und ich wollte sie nicht verlieren.«
Elling stand auf und ging etwas auf und ab, besah sich das Haus, den Garten, den See, den Mann. »Ich bin zwar in der DDR
aufgewachsen, aber ich wusste nicht, dass die SED
die eigenen Bürger für Medikamententests zum Abschuss freigegeben hat. Das war wegen der Devisen, oder?«
Hildebrandt nickte: »Deswegen hat eine neue Richtlinie der Volkskammer ab 1983 ermöglicht, die Medikamententests an Probanden durchzuführen – gegen harte Devisen, ja.«
Lona musterte den Mann heute eindringlicher als bei ihrem ersten Treffen. Sie spürte, sie hatten etwas gemein. Und im Grunde musste sie nur noch die beiden losen Fäden verknüpfen, um herauszufinden, was genau das war.
»In welcher Größenordnung bewegen wir uns da?«, hakte sie nach.
»Bis zu 1,5 Millionen D-Mark haben westliche Pharmahersteller für einen Medikamententest bezahlt. Also für einen, der wegen der harten Auflagen in der BRD
nicht möglich gewesen wäre.«
»Ausschließlich Unternehmen aus der Bundesrepublik?«
»Nein. Das Who is Who der internationalen Pharmariesen hat hier seine Medikamente auf die Menschen zweiter Klasse losgelassen, um sich später durch den Verkauf dieser Präparate an die Menschen erster Klasse eine goldene Nase zu verdienen. In insgesamt zwölf Kliniken hat man das durchführen lassen.«
Ein weiterer Punkt, in dem sich seine und Fichtes Aussage deckten
.
Ellings Gesicht war verärgert: »Das war der böse Westen aber nicht alleine, nicht wahr? Da hat die SED
mitgemacht, Herr Sterzing, Sie und noch jede Menge andere. Und dabei sind Leute gestorben.«
Hildebrandt übernahm gar nicht den Versuch einer Ausflucht, sondern er nickte sofort: »Ja, es sind Menschen dabei gestorben. Menschen, die ohnehin nur noch zwei, drei oder vielleicht vier Jahre hatten. Aber es überlebten auch welche, die sonst nur noch zwei, drei oder vier Jahre gehabt hätten. Wo wollen Sie die Grenze ziehen, hm? Welches Leben war wertvoller?«
»Darum geht es nicht«, antwortete Elling.
Hildebrandt nahm im Sitzen Haltung an, sein Kinn ruckte streitlustig vor: »Oh doch, darum geht es im Kern, Herr Elling. Es geht um die Bewertung von Leben. Und es geht darum, ob wir Leben gegen anderes Leben aufwiegen können. Und während die Moral sagt, dass das nicht möglich sein darf, widerspricht die Notwendigkeit. Wissen Sie, was eine Triage ist?«
»Nein.«
»Ich habe mich, weil es ihn und seine Familie durch Zufall für ein paar Urlaubstage hier an die Seenplatte verschlagen hatte, mal mit dem Arzt unterhalten, der bei der Flugkatastrophe von Ramstein 1988 die Erstversorgung der Opfer übernommen hat. Die waren sehr zahlreich, und bei der Triage musste er in wenigen Sekunden entscheiden, wer mit einer Not-OP
noch zu retten ist und wer nicht. Und dann musste er selektieren. Denn diejenigen, die verloren sind, schmälern die Chancen jener, die man noch retten kann. Es ist eine Entscheidung, die kein Arzt jemals treffen mag. Die Moral sagt, dass man alle retten muss. Die Notwendigkeit aber ist eine andere. Die, die nicht zu retten waren, bekamen Morphium.
So, und jetzt übersetzen Sie das gerne mal in die Testreihen, die wir hier in Marnow durchgeführt haben: Wenn Sie heute mit einem Medikament einer Testreihe eine Person töten, aber durch die Weiterentwicklung des Medikaments in zehn Jahren Tausende retten, wo stehen Sie dann mit Ihrer Moral?
«
Frank Elling schluckte. »Ich wäre vermutlich der falsche Mann für eine Triage«, bekannte er.
»Dann urteilen Sie auch nicht von oben herab über jene, die sie durchführen müssen.«
»Aber Sie haben keine Triage durchführen müssen«, stellte Lona klar, »Sie haben nicht in einem bereits erfolgten Notfall eine lebenswichtige Entscheidung fällen müssen. Sondern Sie haben teils unwissende Patienten, die Ihnen als Arzt vertraut haben, ohne deren Wissen und ohne deren Zustimmung in eine zum Teil lebensbedrohliche Situation gebracht.«
Elling war ihr dankbar. Hildebrandt wirkte angeschlagen. »Frau Mendt …«, begann er.
Lona unterbrach ihn: »Ich hab Sie hier auf dem Friedhof gesehen. Vor dem Grab eines Kindes – Kerstin Hildebrandt. Gestorben 1988. Ich weiß, dass Sie damals Ihre jüngere Tochter verloren haben.«
Hildebrandt wurde schlagartig still. Es war, als ginge durch den Mann ein Riss. Nach einigen Augenblicken nickte er: »Ja. Der genetische Proteinmangel meiner Tochter wäre heute medikamentös durchaus in den Griff zu kriegen. Nicht zuletzt wegen der Testreihen, die in Marnow durchgeführt worden sind. In den Achtzigern war das wegen der Blutgerinnsel noch ein Glücksspiel ums Leben. Das damalige Wilmer-Medikament in der Betaphase war Kerstins einzige Chance. Und natürlich hab ich nach ihr gegriffen.«
Lona schaute zu Elling, der den Blick senkte, weil ihn die Parallele zu dem Medikament für seine demente Mutter in eine Nähe zu Hildebrandt rückte, die ihm nicht gefiel.
»Ich verstehe Sie«, sagte Elling zu Lonas Überraschung, obwohl es sie im Nachhall nicht mehr überraschte: »Ich verstehe Sie. Jeder Vater würde das tun. Sie haben abgewogen. Im Wettlauf um das rettende Medikament für Ihre Tochter haben Sie das Leben anderer Menschen bewusst aufs Spiel gesetzt. Und offenbar rächt sich jetzt jemand für das, was ihm oder einem seiner Familienmitglieder angetan worden ist.
«
Das erste Mal an diesem Nachmittag entspannte sich das Gesicht des Arztes. Er lächelte sogar etwas. »Auch das ist … letztlich nur verständlich und nachvollziehbar. Der Antrieb ist schließlich fast identisch«, sagte er und atmete tief durch: »Und was ist jetzt? Bin ich verhaftet?«
»Nein«, informierte Elling ihn, »aber wir brauchen Sie womöglich bald als Zeugen. Sie können sich frei bewegen. Aber wenn Sie verreisen möchten, melden Sie das bitte vorher bei uns an.«
Hildebrandt nickte. Er wirkte weder überrascht noch beeindruckt.
»Dr. Iris Fichte«, schoss Lona aus der Hüfte.
»Das … war die Assistentin von Dr. Leyendecker. Wilmer AG
«, gab Hildebrandt trocken zurück.
»Stefan Krohn?«
»Nie gehört. Wer ist das?«
Die Frage schien er aus echtem Interesse zu stellen.
»Niemand, an den man sich erinnern muss«, sagte Lona.
»Herr Hildebrandt, außer Herrn Beck sind zwei Verantwortliche für die Testreihen ermordet worden. Es ist davon auszugehen, dass Sie zu dem gefährdeten Personenkreis gehören«, erläuterte Elling ihm, »als Kriminalbeamte haben wir auch eine Sorgfaltspflicht Ihnen gegenüber. Deshalb bieten wir Ihnen Polizeischutz an.«
Der Pensionär schüttelte nur kurz den Kopf: »Danke.«
Auf dem Weg zurück zum Auto orderten sie trotzdem ein Team an, das das Haus rund um die Uhr observieren und, wenn nötig, Hildebrandt auch dann schützen sollte, sofern der sein Grundstück verließ.
Lona schlug vor, an den See zurückzufahren. Aber es war Mittwoch, und da war ein Besuch bei Erika fällig. Früher hatte er es auch mal geschoben, auf Donnerstag oder Freitag und ihr erzählt, es sei Mittwoch. Dank des neuen Medikaments musste er diesbezüglich auf der Hut sein. Was ihn natürlich freute.
Aber nicht lange
.
Er spielte mit seiner Mutter draußen auf ihrer neuen Terrasse gerade eine Runde Mensch-Ärger-Dich-nicht. Sie rückte ihre Spielfiguren gegen den Uhrzeigersinn vor, aber immerhin übersetzte sie die Augenzahl der Würfel korrekt auf die Anzahl der Schritte. Auf diese Weise warf sie eine seiner Figuren raus, was ihr eine diebische Freude bereitete. Sie kam aus dem Grinsen gar nicht mehr raus. Elling musste schmunzeln. Da hob sich ihr Blick und wanderte hinter ihn. Paul Westermann trat an sie heran: »Guten Abend.«
»Guten Abend, Paul«, antwortete Erika.
»Hallo«, begrüßte Elling den Freund, der sich an ihn wandte: »Hast du einen Augenblick, Elling?«
Westermann sagte das mit einem Lächeln, aber Elling erkannte, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Etwas Ernstes. »Mama, ich rauch kurz eine mit Paul, ja?«
»Da kann ich doch mitkommen, oder schämst du dich für deine Mutter?«
Sie tadelte ihn mit ihrem Blick.
»Aber es geht um dein Geburtstagsgeschenk. Du sollst noch nicht wissen, was du bekommst.«
Erikas Tadel wandelte sich zu einem zufriedenen, jovialen Lächeln: »Geh nur.«
Nachdem sie außer Hörweite waren, ergriff Westermann wieder das Wort: »Das Medikament für deine Mutter … das bekomm ich jetzt nicht mehr. Die sind kurz vor der Markteinführung, da stellen sie so was ein.«
»Das heißt, du bekommst jetzt keine Tabletten mehr?«
Paul Westermann nickte: »Ich habe noch etwas über ein Dutzend. Die kann Erika haben.«
Elling wollte eine Frage stellen, las aber in dem Gesicht des Arztes bereits die Antwort: »Ohne das Medikament wird sich ihr Zustand wieder verschlechtern.«
»Ja. Es tut mir leid.«
»Und wann ist die Markteinführung?«
Westermann deutete ein Achselzucken an: »Da müssen noch
ein paar zeitliche Auflagen erfüllt werden. Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich schätze … nicht vor einem halben Jahr, Elling.«
Diese Aussicht ließ alle Körperspannung erschlaffen. Von einem Moment auf den nächsten stand er mit hängenden Schultern dort. Er schaute hinüber zu seiner Mutter, die daraufhin schnell die Hand vom Brett nahm. Offensichtlich beschummelte sie ihn gerade. »Sie hat in der kurzen Zeit so gute Fortschritte gemacht, Paul.«
»Ohne Zweifel schlägt das Medikament bei ihr außerordentlich gut an, ja.«
»Wie heißt es noch mal?«
»IZ
2306.«
»Und als was wird es auf den Markt kommen?«
»Als Memoria.«
Die Autobahnausfahrt Schönberg lag auf halber Strecke zwischen Hamburg und Rostock. Dorthin war er mit seiner Mutter unterwegs. Er hatte kurz überlegt, ob es eine gute Idee war, Erika mit zu einer Erpressung zu nehmen, aber sie konnte ja im Auto bleiben.
»Das mit dem Ausflug ist eine tolle Idee, Frank«, sagte sie und schaute hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft. Dann fiel ihr Blick auf die Armaturen und den Fußraum. »Also wenigstens ab und zu musst du deinen Wagen auch mal putzen. Sonst lernst du ja nie eine kennen.«
»Ich will gerade keine kennenlernen.«
Erika grinste schelmisch: »Weiß ich doch – du bist doch schon mit Susanne verheiratet.«
Iris Fichte wartete neben ihrem Wagen, einem Porsche Cabrio, wie verabredet auf dem ersten Feldweg nach der Ausfahrt links. Elling parkte den Volvo direkt gegenüber.
»Bleib bitte hier sitzen«, sagte er zu Erika.
»Ich dachte, wir gehen essen? Wer ist die Frau?«
»Erzähle ich dir später. Beim Essen. Ich bin gleich zurück.
«
»Na schön«, erwiderte Erika und schaute beleidigt in die andere Richtung.
Elling schloss die Tür und ging hinüber zu Iris Fichte, die ihn kühl musterte. Kontrolliert, dachte Elling. Sie hatte sich bestens im Griff.
Trotzdem konnte er ihr an der Nasenspitze ablesen, wie ungerne sie seiner Bitte nach einem abendlichen Treffen nachgekommen war.
»Sie haben am Telefon gesagt, es sei ein privates Treffen. Wie darf ich das verstehen?«
»Werden Sie mit der Staatsanwaltschaft Rostock zusammenarbeiten?«
»Vermutlich, ja. Ich habe heute Nachmittag kurz mit meinem Anwalt telefoniert. Ich treffe ihn in anderthalb Stunden. Deshalb würde ich Sie bitten, die Sache hier kurz zu machen. Wer sitzt da im Auto, bitte?«
»Meine Mutter.«
Sie sah ihm mit jenem forschenden Blick ins Gesicht, mit dem Menschen herausfinden wollten, ob sie Opfer eines schlechten Scherzes waren. Aber sie erkannte anscheindend, dass Elling die Wahrheit sagte.
Er brach die Erläuterung ab, weil sie selbsterklärend war.
»Verstehe«, sagte Fichte. »Warum treffen wir uns hier?«
»Weil Sie über meine Bestechung durch Frau Lemmes die Ermittlungen im Mordfall Beck torpedieren wollten. Und ich möchte diesen Film, auf dem ich zu sehen bin.«
Sie wirkte, als habe sie den Mann mit dem Bauchansatz und der mit Klebeband reparierten Brille unterschätzt. Ihn oder das Tempo, mit dem er und seine Kollegin ihre Ermittlungen vorantrieben. Vielleicht beides. Elling war es einerlei.
»Ariane Lemmes? Warum sollte ich das tun?«
»Darüber sprechen wir morgen mit Frau Mendt. Der Deal zwischen Ihnen und mir geht so: Ich kann das Entgegenkommen der Staatsanwaltschaft morgen unterbinden. Dann wird es für Sie keine Strafmilderung geben. Dann gehen Sie definitiv ins Gefängnis, denn wir haben noch ein paar andere Dinge herausgefunden
.
Ich kann mich aber auch für Sie stark machen. Wir können Ihre Rolle gemeinsam kleinreden, wir können sogar so tun, als wäre die Initiative der Aufklärung von Ihnen ausgegangen.«
»Sie meinen, dass ich mich aktiv an Sie gewandt hätte, um auszusagen?«
»Genau. Die Bergung des Wracks mit der Leiche von Frau Lemmes könnte der Auslöser gewesen sein.«
Fichte fingerte etwa fahrig in ihrer Handtasche herum und zündete sich dann eine von diesen dünnen Damenzigaretten an. Sie blickte hinüber auf das angrenzende Feld. Elling wusste, sie spielte jetzt in Gedanken diverse Szenarien durch, wog deren Möglichkeiten gegeneinander ab. Schließlich nickte sie: »Sie bekommen die Aufnahme.«
»Und tausend Tabletten Memoria«, fügte Elling hinzu.
Fichte blickte an ihm vorbei auf die ältere Frau im Wagen und verstand jetzt. »Hat Ihre Mutter die Tabletten aus der Betaphase bekommen?«
»Ja.«
»Und sie haben angeschlagen«, stellte Fichte fest.
»Ja.«
Die Managerin lächelte kurz. Berufsethos, das sie nicht ablegen konnte: »Gut. Ich bringe Ihnen morgen die Tabletten mit.«
»Und die Aufnahme.«
»Aber ich brauche eine Sicherheit. Vielleicht überlegen Sie sich morgen etwas anderes, mit dem Sie mich erpressen können. Oder in einer Woche, oder in einem Monat. Ich möchte sichergehen, dass das nicht passiert.« Sie blickte Elling dabei direkt in die Augen.
Und er wusste, dass sie ihm diese Aufnahme, die ihn dabei zeigte, wie er die 20000 Euro einsteckte, niemals aushändigen würde. Elling erwiderte den Blick mit derselben Klarheit und sagte: »Wenn Sie die Aufnahme nicht rausrücken wollen, dann müssen Sie noch 150000 Euro drauflegen. Sonst haben wir keine Abmachung. Und dieses Mal bitte ohne Markierung.«
So, wie er bei Iris Fichte in Bezug auf die Videoaufnahme
auf keinen Verhandlungsspielraum gestoßen war, spürte sie im Gegenzug nun seine Unnachgiebigkeit. »Ich weiß nicht, ob ich so viel so schnell beschaffen kann.«
»Und ich weiß nicht, ob ich nicht schon viel zu tief in der Sache drinstecke und mich besser morgen früh den Behörden stelle. Sie könnten mich umstimmen.«
Iris Fichte seufzte dezent: »Wir stehen in gewissem Sinne auf verschiedenen Seiten, Herr Elling. Aber ihre Chuzpe hat einen gewissen Charme. Die Tabletten und 150000.«
Elling nickte.
Sie reichte ihm die Hand, die er schüttelte. Damit war es beschlossen. Iris Fichte wandte sich zu ihrem Wagen.
»Äh, eine Kleinigkeit noch.«
»Überspannen Sie den Bogen nicht.«
»Ich hab noch eine rein private Frage: Wie ist das heute? Wo testen Wilmer und die anderen Pharmafirmen heute, um die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen?«
»Folgen Sie dem Prinzip, Herr Elling. Es muss unkompliziert sein und billig.«
»Indien, Pakistan, Afrika, Dritte Welt?«
»Genauso ist es. Ideal sind Schwellenländer.«
Damit stieg sie in ihr Cabrio und startete den Motor. Ein dumpfes Grummeln, das zu Elling herüberdrang, bis die Managerin der Wilmer AG
die Straße erreicht hatte. Dort gab sie Gas. Der Porsche schoss in Richtung Autobahnzubringer.
Die frische Abendluft hatte ihm die Schweißperlen auf der Stirn beständig weggeweht. Wäre sie auf seine Forderung eingegangen, wenn Fichte seine Nervosität bemerkt hätte?
Nach einigen Augenblicken befand Elling diese Frage für müßig und stieg wieder zurück in den Volvo, den er wendete, um sich zurück auf den Weg zum Königsblick zu machen.
»Wer war das«, fragte Erika, »die Frau sah traurig aus.«
»Das war die Lottofee, Mama.«