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Michael Bender war mit seinem Transporter auf einem Großeinkauf unterwegs. Also luden sie Meike Bender zum Mittagessen ein. Sie hatten ein paar halbe Hähnchen von einer Frau gekauft, die einen Stand an der Kreuzung unterhielt und unsagbar traurig aussah.
»Sie sehen so traurig aus«, hatte Lona mitfühlend angemerkt.
Die Frau hatte genickt: »Mir tun die Hühner so leid.«
Lona verstand sie. Elling nicht: »Warum verkaufen Sie sie dann?«
»Ich war früher im Chemiekombinat. Das braucht man jetzt hier nich’ mehr.«
»Können Sie nicht zu Bayer oder BASF oder so?«
»Meine Familie wohnt hier.«
Sie saßen auf zwei Bierbänken im kleinen Garten der Benders und blickten auf den See. Lona trug eine Sonnenbrille, die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Meike Bender nagte an einem Hähnchenschenkel, aber im Grunde kam kaum was weg.
Elling dagegen hatte Bärenhunger.
Die Ringfahndung lief zwar noch, aber mit jeder weiteren Stunde, die ergebnislos verstrich, sank erfahrungsgemäß die Chance, den Mann noch zu finden. Es sei denn, natürlich, eine Klinik meldete die Schussverletzung – oder er war verblutet.
Da meldete sich Mertens aus dem Büro.
»Vielleicht haben Sie ihn«, meinte Elling und ging ran: »Ja, Rainer?«
»Du und die Kollegin kommen umgehend in mein Büro.«
»Äh – ist was passiert?«
»Das wirst du mir gleich erklären. «
Ellings schlechtes Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Er und Lona waren sofort nach Rostock aufgebrochen und hatten Meike Bender mit den Hähnchen zurückgelassen.
»Ich bewahre eins für meinen Mann auf. Da freut er sich«, hatte sie die beiden verabschiedet.
Lona und Elling zerbrachen sich während der Fahrt den Kopf darüber, was Mertens so aufgebracht haben könnte.
Sie überlegten, ob Rathe Druck ausgeübt hatte – einen Anruf beim Rostocker Polizeipräsidenten oder etwas in der Art. Oder ob ihre Nummer bei der Wasserschutzpolizei aufgeflogen war. Vielleicht hatte Ariane Lemmes auch noch etwas anderes in ihrer Handtasche gehabt als den USB -Stick, das Elling belastete. Aber wie das so war mit solchen Ansagen wie der von Mertens: Gewissheit hatte man erst, wenn es einem gesagt wurde. Oder in diesem Fall, wenn man es sah.
Mertens empfing sie mit verschränkten Armen vor der Brust. In seinem Blick lag ein unausgesprochener Vorwurf, der Elling galt, so viel konnte man erfassen. Er bat Lona und Elling, vor seinem Monitor Platz zu nehmen. Danach startete er die Wiedergabe eines Videos. Schon in der ersten Sekunde kannte Elling den Rest der Szene. Es war der Moment, in dem Ariane Lemmes ihm das Kuvert mit den 20000 Euro auf den Tisch legte. Plus Ton: »Wenn ich diesen Umschlag mit dem Geld einstecke, mache ich mich der Vorteilsnahme im Amt strafbar. Ich verlier dann meinen Job.«
»Aber es bekommt ja niemand mit, Herr Elling. Nicht mal ich.« Und er den Briefumschlag, nachdem sie das Lokal verlassen hatte, einsteckte und ebenfalls ging.
Lona sah Elling von der Seite her überrascht an. Ja, sogar ein wenig enttäuscht.
Und obwohl Elling wusste, warum sie das tat, tun musste, tat sie es so gut, dass es seine Scham noch steigerte. Er zupfte an der Krawatte herum, löste die Augen von dem Monitor und sah zu Mertens, der ihn sehr ernst musterte. Und tief Luft holte.
»Woher ist das denn?«, kam Elling ihm zuvor .
»Ist vorhin dem LKA zugespielt worden, der Mitschnitt von dir und Frau Lemmes. Der Umschlag, Elling, was war da drin?«
Elling musste schlucken. Wenn die beim Landeskriminalamt auch noch wussten, dass Ariane Lemmes sich vor ihrem Unfalltod im Parkhaus Riemannshöhe befunden hatte, mussten sie nur eins und eins zusammenzählen.
»In dem Umschlag, meinst du?«, fragte er, um etwas Zeit zu schinden.
»Sag mal, nuschel ich? Bevor du jetzt was sagst, was Dummes wie: Da waren Briefe drin oder so, solltest du wissen, dass es gerade extrem eng für uns alle wird. Das LKA ermittelt weiterhin im Fall zum Nachteil von Stefan Krohn. Ich rede nicht von seinem Tod, das natürlich auch, ich rede von den zwei Schussverletzungen beim Waffenreinigen«, führte er aus und sah dabei auch zu Lona: »Wie es aussieht, kommen die nicht wirklich weiter. Aber durch diesen Mitschnitt haben sie wieder Rückenwind bekommen. Und unser Freund von der Staatsanwaltschaft, Herr Rost, hat sich auch wieder eingeklinkt.«
»Ich hab eben eine Glückssträhne«, sagte Elling und versuchte ein verbindliches Lächeln, auf das Mertens aber nicht einging. Im Gegenteil. Dessen Lippen wurden zu einem feinen Strich. Im Gegensatz zu Lona, die sich wegen Ellings aufblühender Lässigkeit ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
»Ihr denkt, das is’n Spiel, hm? Elling, es wird dazu definitiv eine Anhörung geben. Und wenn du da davon anfängst, dass in diesem Umschlag kein Geld war, drehen die dir ganz schnell das Licht aus. Also: Was war da drin?«
»Ja, da war etwas Geld drin.«
Mertens blies die Wangen auf: »Lass dir jetzt nicht alles aus der Nase ziehen.«
»10000 Euro waren das.«
Er schob ein Achselzucken hinterher, als wolle er sagen: nicht die Welt, letztlich. Wenn man nicht sehr kleinlich ist.
»Du musst ein noch schlechterer Polizist sein, als ich dachte, wenn du dich dafür hast schmieren lassen. «
»Es waren zwanzigtausend«, räumte Elling ein.
Mertens Blick wanderte zu Lona.
»Ich weiß es nicht, Herr Mertens. Ich war nicht dabei. Aber … ich glaube Herrn Elling, dass es 20000 Euro waren.«
»Hmmm«, brummelte der Chef. Spielten die beiden etwa ein Spielchen mit ihm?
»Wofür?«
»Hm?«, fragte Elling.
»Was solltest du für 20000 Euro tun?«
»Die wollte auf dem Laufenden gehalten werden im Mordfall Beck.«
»Wozu?«
»Weiß ich nicht. Sie wollte Einblick in die Ermittlungsakte. Für 20000 Euro wollte sie sich deswegen keine Fragen stellen lassen.«
»Die hast du ihr hoffentlich nicht gegeben, die Ermittlungsakte.«
»Natürlich nicht. Kennst mich doch.«
Mertens musterte ihn genau: »Na, irgendwas wird sie doch bekommen haben von dir.«
»Nein, es sollte ein zweites Treffen geben – aber sie ist nicht gekommen. Und jetzt?«, fragte Elling ergeben, »sag was, Rainer. Wie lange machen wir das schon hier zusammen? 17 Jahre oder 18?«
»Lass mich an Land mit dem Scheiß, Elling. Du hast das Geld genommen, das LKA hat es auf Film. Wie blöd kann man sein, Mensch?«
»Ja, das war nich’ klug.«
Mertens ließ ein beachtlich langes Seufzen hören.
»Hör zu, ich weiß, deine Mutter, das Haus, der ganze Mist, trotzdem: Das war eine Riesenscheiße, die du da gebaut hast. Hast du das Geld noch?«
»Ja«, log Elling. Ein Anteil des Geldes stand gerade als silberner VW in Lunéville.
»Liefer die 20000 bei mir ab. Und zwar schnell. Das wird die Staatsanwaltschaft ein klitzekleines bisschen milder stimmen. Aber du kannst dich schon mal nach einem Job bei einer Sicherheitsfirma umsehen. Tut mir leid, Elling. Das kann ich nicht für dich ausbügeln.«
Elling nickte.
Lona räusperte sich: »Das heißt jetzt, ich ermittel ohne Herrn Elling weiter? Alleine?«
Mertens schüttelte den Kopf: »In dubio pro reo … vorerst. Bis zur Anhörung. Und noch eine Kleinigkeit, die euch nicht schmecken wird und mir auch nicht: Das LKA übernimmt die Ermittlungen in der Mordserie ab Montag. Ihr habt also nur noch einen Werktag.«
»Wieso das?«, fragte Lona alarmiert. Auch Elling war hellwach.
»Wieso das? Muss ich das wirklich ausführen? … Die übernehmen einfach, die haben so was noch nie erklärt. Aber meine Meinung ist: erst Krohn, jetzt dieses Video. Die trauen uns nicht. Die hängen mir im Nacken … jaja, das fällt auch alles auf mich zurück. Die wollen euch drankriegen. Bringt mir den Täter, dann nehmt ihr den Druck raus.«
»Und jetzt?«
Sie gingen zum Parkplatz hinter dem Gebäude der Kripo, wo Elling den Volvo abgestellt hatte.
»Was meinst du?«
»Die Anhörung«, antwortete Lona, »was willst du machen?«
»Keine Ahnung, ich … muss mir was überlegen. Hast du eine Idee?«
»Leider nein, Elling.«
Er nickte und öffnete den Wagen per Funk von Weitem.
»Und das LKA ?«, fragte er.
»Ich denke, da hat Rathe seine Kontakte spielen lassen. Er hatte immerhin welche zu Krohn. Warum nicht auch zu anderen LKA -Beamten? Kann gut sein, dass da noch ein paar andere aus der alten Seilschaft untergekommen sind. So wie sein Leibwächter. Der hat garantiert auch eine Stasi-Vergangenheit. «
»Ja, der roch nach MfS«, stimmte Elling zu, »Rathe wusste natürlich von der ganzen Aktion mit Frau Lemmes.«
»Ihr seid von außen gefilmt worden. Und ich wette, das war Stefan Krohn.«
»Also hat Rathe den Film zumindest auch. Und nachdem wir heute bei ihm gewesen sind, hat er gemerkt, wie nah wir schon an ihm dran sind. Da hat er dem Landeskriminalamt den Film zugespielt und sich anschließend dafür eingesetzt, dass sich endlich die Profis vom LKA dieser Mordserie annehmen, weil wir Provinzpolizisten in der Sache nicht vorankommen.«
»So könnte es abgelaufen sein«, stimmte Lona ihm zu.
Sie hatten den Wagen fast erreicht, da zündete Elling sich eine Zigarette an.
»Was haben wir?«, fragte er.
»Wir haben nicht die Liste. Ich bin mir sicher: Auf der steht indirekt der Name des Mörders.«
»Wer könnte sie haben?«
»Iris Fichte wollte sie mit zu dem Termin bei der Staatsanwaltschaft nehmen«, erinnerte Lona ihn, »wenn das ein leeres Versprechen war, hätte es keinen Deal gegeben. Das wusste sie, das wusste auch ihr Anwalt. Also können wir davon ausgehen, dass sie tatsächlich Zugang zu der Liste hatte.«
»Bei Wilmer?«
»Sicher. Aber ich habe gerade einen anderen Gedanken. Was wäre, wenn der Aufsichtsrat von Wilmer beschlossen hätte, Frau Dr. Fichte zu kündigen. Sie von heute auf morgen rauszuwerfen. Dann würde es üblicherweise um was gehen?«
»Um die Abfindung«, erfasste Elling jetzt ihren Gedankengang. »Du glaubst, sie hatte die Liste zu Hause in ihrer Wohnung, zumindest eine Kopie davon. Um die dann in eventuellen Verhandlungen über die Höhe der Abfindung zu nutzen.«
Lona nickte.
Ihr Handy klingelte, ihr genügte ein Blick aufs Display: »Hallo, Frau Schneider.«
»Wir haben die Auswertung aus dem Labor vorliegen«, sagte Lisa Schneider, »der DNA -Abgleich hat ergeben, dass wir das Blut der Person sichergestellt haben, die sich in der Wohnung des Mordopfers Alexander Beck befunden hat. Sie haben heute den Mörder von Alexander Beck angeschossen, Frau Mendt. Aber er ist erkennungsdienstlich noch nie behandelt worden.«
Was bedeutete, dass sie ihn bei einer Festnahme per DNA -Test überführen konnten. Aber seine Identität ihnen bis dahin verborgen blieb.