Er hatte immer ein Ohr am Fenster, das auf Kippe stand. Er befand sich am Ende einer Sackgasse, also kam es äußerst selten vor, dass sich jemand hierher verirrte, der gar nicht beabsichtigt hatte, hierherzukommen. Wenn dann noch ein Wagen stoppte und der Motor erstarb, musste er also auf der Hut sein.
Die Suche nach der Liste brachte zwei Probleme mit sich. Das eine bestand in der schieren Größe der Wohnung. Die Frau hatte in einer Maisonettewohnung mit mindestens 200 Quadratmetern gelebt. Alles Parkett, die Inneneinrichtung vom Allerfeinsten. Wenn man etwas auf 200 Quadratmetern verstecken wollte, hatte man über 200 Möglichkeiten dazu. Das andere Problem bestand in der Ungewissheit über die Form der Liste. Suchte er nach einem Aktenordner? So was war relativ schnell aufzustöbern. Oder hatte sie es auf Mikrofilm? Dann konnte es sich in einem winzigen Hohlraum in jedem Möbelstück befinden. Überhaupt in jedem beliebigen Gegenstand. Die Zahl der Möglichkeiten ging gegen unendlich.
Aber so viel Zeit blieb ihm nicht. Er hatte das Polizeisiegel an der Tür gebrochen, das Eindringen hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet. Aber irgendwann würde jemand den Einbruch bemerken. Und dann musste er hier raus sein, denn dann würde man diese 200 Quadratmeter rund um die Uhr bewachen.
Die Liste unter solchen Umständen dann noch zu beschaffen, wäre weitaus komplizierter. Und sehr wahrscheinlich würde jemand anderes sie vor ihm entdecken und mitnehmen. Da er keine Zeit zu verlieren hatte, machte er sich nicht die Mühe, seine Durchsuchung der Wohnung zu verschleiern, was den doppelten Zeitaufwand mit sich gebracht hätte. Er trug diese dünnen
Gummihandschuhe, in denen die Hände zu schwitzen begannen, die er aber bei einem unerwarteten Besuch schnell abstreifen und einstecken konnte.
Victor André trug edle italienische Slipper und einen hellgrauen Anzug. Menschen, insbesondere Beamte, dachten in Mustern und Stereotypen. Vor die Wahl gestellt, einen adretten, gepflegten Anzugträger anzuhalten und zu durchsuchen oder einen Mann mit kaputter Jeans in Lederjacke und Dreitagebart war die Wahl leicht vorherzusagen. Weshalb seiner Meinung nach auch nur Idioten mit Lederjacke und Dreitagebart ein Verbrechen begingen – statt sich herauszuputzen, einen anderthalbjährigen Säugling auszuleihen und den lieben Papa zu mimen. Wer hielt denn schon einen frischgebackenen Vater an, der sein Baby durch die Welt trug?
Wie auch immer: Falls er hier überrascht werden sollte, würde im ersten Augenblick alleine aufgrund seiner Erscheinung niemand an einen Einbrecher denken. Außerdem hatte er für Aufgaben wie diese immer einen falschen Ausweis dabei, der dem Betrachter vorgaukelte, es mit einem Zivilfahnder zu tun zu haben.
André hatte die Küche, das Schlafzimmer und zwei Flure durchsucht. Außerdem die beiden Kommoden im Eingangsbereich. Plus der Garderobe. Er wandte sich zum Wohnzimmer, als er ein Auto hörte, das in die Sackgasse einbog und näherkam. Der Fernseher im Wohnzimmer stand auf einem Board mit diversen Schubladen, die er nun öffnete und durchsuchte. Der Motor draußen erstarb. André merkte auf, ging zum Fenster und schob ganz sacht die Gardine beiseite. Nur so weit, um einen Blick hinunterwerfen zu können. Auf Lona Mendt und Frank Elling, die gerade den soeben geparkten Volvo verließen und auf das Gebäude zugingen.
Er glaubte nicht, dass zwei Rostocker Kripoleute finden würden, wonach er vergeblich gesucht hatte, aber falls dem so sein würde, musste er es wissen. Gleich nach Betreten der Wohnung hatte André zwei Funkmikrofone für den Fall installiert, dass seine Suche erfolglos verlief oder er sie abbrechen musste. Denn
sollte später jemand auf die Liste stoßen, musste er wissen, wer sie an sich genommen hatte.
André aktvierte die Mikrofone, schlüpfte in den Hausflur und schlich eine Etage nach oben. Auf der Hälfte machte er halt und spähte hinab. Und tatsächlich waren es die Kriminalhauptkommissare Mendt und Elling, die jetzt das aufgebrochene Polizeisiegel entdeckten, sich über Blicke verständigten, ihre Dienstwaffen zogen und dann die Wohnung betraten. Er wartete einige Augenblicke, bevor er die Treppe hinabschlich.
Victor André verließ das Gebäude, setzte sich in den unscheinbaren Kombi gegenüber und aktivierte das Funkgerät, über das er die zwei Mikrofone in der Wohnung abhören konnte. Zuerst drangen nur Schritte und Rascheln zu ihm durch.
Lona senkte die Waffe langsam, sie stand mitten im Wohnzimmer. »Hier ist niemand.«
»… mehr«, ergänzte Elling mit Blick auf die herausgerissenen Schubladen, die der Einbrecher umgedreht hatte, um ihren Inhalt auszuschütten. Er verstaute seine Pistole wieder im Holster. »Glauben wir an einen Zufall?«, fragte er.
»Nein«, sagte Lona bestimmt, »hier hat jemand eine Menge auf den Kopf stellen müssen, Elling … er wusste nicht, wo sich die Liste befindet. Wenn wir Glück haben, haben wir ihn gestört. Ich fang mit der Küche an.«
Sagte es und machte sich an die Arbeit.
Elling stand noch einen Moment im Flur. »Wer war hier, denkst du?«
Lona zog gerade mit ihren Einweghandschuhen eine Schublade heraus und stellte sie auf dem Küchentisch ab, um sie zu durchsuchen. Elling sah schon, dass das hier zu einem Lebenswerk ausufern konnte.
»Wer weiß denn überhaupt schon von Frau Fichtes Ermordung?«, stellte sie die Gegenfrage.
Elling pflichtete ihr mit einem Nicken bei und machte sich ebenfalls an die Arbeit
.
»Die Testreihen damals – wie viele Patienten schätzt du?«
»Über die Jahre … ich weiß nicht. Tausend bestimmt – warum?«
»Ich überlege nur, wonach wir suchen. Wenn es analog ist, hat es mindestens die Größe eines Aktenordners.«
Victor André saß in seinem Kombi schräg gegenüber von Ellings Volvo. Der Empfang war im Augenblick einwandfrei. Da oben in der Dachmaisonettewohnung liefen gerade jene rum, die er am wenigsten in der Wohnung wissen wollte. Trotzdem musste er kurz schmunzeln, weil ihre Probleme dieselben waren.
»Nein«, hörte er die Stimme der Frau, »sie ist mit der Zeit gegangen. Sie musste up to date sein. Iris Fichte war Geschäftsführerin eines Weltkonzerns. Sie hat die Liste definitiv digitalisiert.«
André pflichtete ihr in Gedanken bei. Jetzt befanden sich die beiden Kriminalbeamten etwa auf seinem Stand.
»Das finden wir nur mit viel Glück«, konstatierte Elling.
»Was wissen wir von ihr, von Frau Fichte?«
»Nicht viel.«
»Wo würde ich was verstecken, wenn ich sie wäre?«
»Es muss ein Platz sein, an den ich mich erinnere«, spielte Elling den Ball zurück, »für den Fall, dass ich es dringend brauche. Ich muss schnell rankommen.«
»Ja. Wen hat sie zitiert? Camus?«
»Genau den«, bestätigte Elling, der den französischen Philosophen für einen Schauspieler gehalten hatte.
Lona wandte sich schnurstracks dem Bücherregal zu, das sich über eine gesamte Wand erstreckte und zum Schmökern einlud. Davor stand ein gemütlich wirkender Sessel.
Fichte hatte ihre Bücher alphabetisch sortiert: Nachname des Autors, Vorname, dann die Titel. Was es Lona erleichterte, die Bücher von Camus zu finden und festzustellen, dass sie über sein Gesamtwerk verfügte. Sie überlegte kurz
.
»Hast du auch ein Lieblingszitat von … Camus?«
Lona sah sich die Buchrücken an, die Titel flogen vorbei, sie nickte: »Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten.«
»Steht das in einem seiner Bücher?«
»Ja.«
»In welchem?«
»Der Mythos von Sisyphos«, antwortete Lona und prompt kam sie im Regal bei diesem Titel an. Es war die gebundene Ausgabe. Sie eignete sich perfekt für das, wonach Lona suchte.
Sie zog den Essay heraus und klappte ihn auf. Bedruckte Seiten, was sonst? Lona wirkte irritiert.
Elling trat neben sie und blickte ebenfalls ins Buch. »Denkst du, die Liste ist da drin? Chiffriert oder wie?«
»Nein, ich dachte …«, begann sie und blätterte weiter, bis sich mit einem Mal ein Rechteck in den Seiten öffnete, in dem ein USB
-Stick lag. Elling zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Offenbar hatte Iris Fichte mit einem Messer durch fünfzig oder hundert Seiten geschnitten und diese schmale Grube geschaffen, in der sie das kleine Speichermedium, von Philosophie umhüllt, versteckt hatte.
»Ist dein Laptop im Auto?«
»Ja«, sagte Elling, »das Trumm.
«
Er hatte diesen Begriff aus einem Urlaub in Österreich mitgebracht. Elling gefiel, wie lautmalerisch dieses Wort seine Bedeutung zum Ausdruck brachte.
Und als Mertens ihnen diesen tragbaren Computer überreichte, damit sie mit ihren Berichten schon unterwegs anfangen konnten und keine Zeit vertrödelten und er ihnen das als Fortschritt verkaufte, hatte Elling das Teil, das locker drei Kilo auf die Waage brachte, angehoben und gesagt: »Das ist ein ganz schönes Trumm, Rainer.«
Das Trumm bestätigte Lonas Vermutung.
Zurück im Volvo hatten sie den Stick mit dem Laptop verbunden und die Liste schnell gefunden, weil es sich um die
einzige Datei auf dem Datenträger handelte. Elling beugte sich interessiert zu ihr hinüber.
Die Liste war tabellarisch angelegt worden. Es handelte sich um Originaldokumente, die zur Archivierung eingescannt worden waren. Die Spaltenüberschriften oben lauteten Datum, Name, Arbeitsort, Firma, Zweck, Gesprächsteilnehmer.
Lona erläuterte es ihm, während Elling den Volvo von Hamburg über die Autobahn Richtung Rostock jagte. Denn irgendwo in dieser Liste verbarg sich der Hinweis auf den Mörder. Der Hinweis, mit dem sie weitere Morde verhindern konnten.
Als er vor einem Überholvorgang in den Innenspiegel blickte, fiel ihm wieder der dunkle Kombi auf, der ihnen schon eine Weile in unterschiedlichen Entfernungen folgte.
In einem Abstand von mal hundert, mal zweihundert Metern blieb Victor André an dem Volvo dran.
Nachdem er gehört hatte, dass Elling und Mendt einen USB
-Stick gefunden hatten, auf dem sich vermutlich die Liste befand, hatte er Rathe sofort informiert und auch umgehend vorgeschlagen, wie man sich diesen zum einen effektiv aneignen konnte und zum anderen, wie mit den beiden Polizeibeamten am besten zu verfahren war.
»Diese Liste darf Rostock nicht erreichen«, hatte Rathe ihn angewiesen.
»Das Datum ist klar«, sagte Lona, »der Tag der Behandlung. Unter Name
findet sich der Forschungsleiter des Pharmaunternehmens, der das Präparat getestet haben möchte. In der Spalte Arbeitsort wimmelt es vor Städtenamen in Westdeutschland und Europa, gemeint ist also der Arbeitsort des Forschungsleiters.«
»Der Sitz der Pharmafirma«, warf Elling ein.
»Ja«, bestätigte Lona, »da: Darmstadt, Schaffhausen, Berlin … sieh an: London. Karlsruhe … und dann die dazugehörigen Firmen: Bayer, Merck, Leclerc, Pfizer, Wilmer, Boehringer … alle dabei.
«
»Was steht bei Zweck und Gesprächsteilnehmer?«, fragte Elling, der jetzt den Fuß vom Gas nahm, auf die rechte Spur wechselte und im Rückspiegel beobachtete, wie der Kombi gut hundert Meter hinter ihnen das Manöver nachahmte. Wie eine zeitversetzte Spiegelung seines eigenen Fahrverhaltens.
»Bei Zweck kommen die Medikamente, die getestet werden sollen. Und die Gesprächsteilnehmer sind die Ärzte … hier: Hildebrandt. In Marnow. Und dann andere, auch in anderen Krankenhäusern.«
»Wundert uns nicht – sind es viele Patienten?«
Lona antwortete nicht sofort. Er blickte zur Seite. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Ja. Und die Todesfälle sind auch notiert, es … da sind jede Menge Kinder drunter.«
Er legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Geht es?«
»Nein. Nein, das ist … das ist so schlimm. Elling, ich …«
Es brach aus ihr heraus, es schüttelte sie, die Tränen schossen ihr übers Gesicht.
Er nahm den nächsten Rastplatz und wollte sie in die Arme nehmen, aber sie schüttelte den Kopf. Also stieg er aus und rauchte eine.
Der dunkle Kombi legte auch eine Rast ein. Aber dort stieg niemand aus.
Von Westen schob sich eine Wolkenfront in üppiger Breite über den hitzigen Sommertag, am Firmament zuckten die Blitze.
Die Wolken waren nicht schwarz oder grau, sie trugen ein tiefdunkles Blau. Elling hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Wolken, die aus sich heraus neue gebaren. Frischere, mächtigere. Ein sich hoch in den Himmel auftürmendes Gebilde, das Platzregen und ein zuckendes Wirrwarr an Blitzen mit sich trug.
Dann schwang die Beifahrertür auf und Lona schaute ihn über das Autodach an: »Können wir weiter, jetzt? Bist du fertig mit der Zigarette?«
»Bin ich.
«
Der Kombi blieb ihnen auf den Fersen, verlässlich wie ein Hütehund.
Vor ihnen tauchte ein langer Lkw auf – und das Hinweisschild für die Ausfahrt Schönberg. Noch 1500 Meter.
Lona blätterte sich durch die digitale Liste – bis jetzt ohne Erfolg.
»Elling, hier sind wirklich Leute gestorben.«
»Damit im Westen keiner sterben musste.«
»Ja.«
Elling setzte sich neben den Lkw. Noch 1000 Meter bis zur Ausfahrt. Im Rückspiegel beobachtete er, wie André mit dem Kombi ebenfalls auf die linke Spur zog – aber einem anderen Auto erlaubte, vor ihm herauszuzuziehen, um sich nicht zu dicht hinter den Volvo zu klemmen.
Eine Maßnahme, die Elling keineswegs täuschte.
Er ließ sich mit dem Überholen des Lasters Zeit. Nicht auffällig viel, er überholte einfach mit einem gleichmäßigen Tempo. Als er sich fast auf der Höhe der Zugmaschine befand, konnte er das vorletzte Hinweisschild für die kommende Ausfahrt sehen: noch fünfhundert Meter.
Elling steuerte den Wagen noch an der Zugmaschine vorbei – dreihundert Meter – und wechselte dann auf die rechte Spur.
Hundert Meter vor der Ausfahrt passierte sie der Wagen hinter ihnen und zog an ihnen vorbei. Elling blieb auf der rechten Spur und achtete darauf, dass hinter ihm nicht genügend Platz für ihren Verfolger blieb.
Lona sah, wie Elling etwas im Außenspiegel beobachtete. Sie blickte über die Schulter, konnte vom Beifahrersitz aber nur die Front des Lkws sehen.
»Was ist?«
»Da klebt einer an uns dran.«
»Weißt du, wer?«
»Zu weit weg.«
Die Verzögerungsspur der Ausfahrt nahm ihren Anfang. Elling beobachtete den dunklen Kombi über den Spiegel. Er zwang ihn
zum Überholen, denn sich wieder zurückfallen zu lassen, wäre viel auffälliger.
Die Verzögerungsspur war nur noch knapp hundert Meter lang. Der Kombi jagte jetzt an ihnen vorbei, und Elling zog im letzten Augenblick rechts rüber zur Ausfahrt. Er und Lona sahen hinüber und entdeckten das verblüffte Gesicht von Victor André.
Natürlich war es kindisch und ja, albern, aber Elling konnte den Kussmund, den er André zuwarf, nicht unterdrücken.
»Denkst du, er war es, der in Fichtes Wohnung eingebrochen ist?«, fragte Lona.
»Ja. Vermutlich haben wir ihn aufgescheucht.«
»Also will Rathe verhindern, dass den Behörden die Liste in die Hände fällt. Und das bedeutet: Es ist vermutlich alles wahr, was Dr. Fichte über ihn gesagt hat. Er war ein hohes Tier bei der Staatssicherheit und der Verbindungsmann zur Ethikkommission.«
»Und dieser Mistkerl sitzt jetzt in einem Ministerium. Für Soziales und Gesundheit. Ausgerechnet«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf das Trumm: »Und?«
»Noch nichts. Kein Name, den ich kenne.«