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Susanne Elling war immer noch wie vom Donner gerührt. Wie ein Knall, der einfach nicht endete. Nie im Leben hätte sie ihrem Mann das zugetraut.
Sie hatte sich zwei Abende in Folge betrunken und taumelte zwischen Weltschmerz und dem Genuss eines neuen, freien Lebens hin und her. Manchmal musste sie lächeln, wenn sie sich wie ein Vogel fühlte, den man aus seiner Voliere gelassen hatte. Vorher war ihre Welt auf Rostock und den Ringelrankenweg beschränkt. Und nun? Vielleicht würde sie in den Westen gehen, nach Hamburg? Denn das Haus würde sie nicht behalten. Mareike würde bald ausziehen, sie würde zwischen Elling und ihr pendeln, einen netten Studenten kennenlernen und ihren eigenen Weg gehen. Mit der Hälfte des Erlöses vom Haus könnte Susanne sich eine Eigentumswohnung kaufen und hätte mit Sicherheit noch was übrig.
So war das in den guten Momenten.
In den anderen hatte sie alles verloren: Mann, Haus, Geliebten. Sie hatte Elling ihre besten Jahre geschenkt, und nun ließ er sie sitzen. Sie heulte sich die Augen aus dem Kopf und war stinksauer auf ihn.
Und genau in so einem Moment klopfte es hinter ihr. Sie erschrak fürchterlich und zuckte zusammen.
Es war einer der Poolbauer, der auf der Terrasse stand und gegen die Scheibe geklopft hatte. Der Pool – auch so eine Schnapsidee von Elling.
Eilig wischte sie sich mit dem Geschirrtuch über die Augen. Dann öffnete sie verstimmt die Tür: »Sie haben mich gerade zu Tode erschreckt, Herr Wildhagen. «
Der nickte: »War keine Absicht, Frau Elling.«
Offenbar gab es hier ein Kommunikationsproblem. Sie hatte ihm gerade zu verstehen gegeben, er möge wie jeder andere Besucher vorne klingeln, wenn er sie sprechen wollte. Und er dachte, sie beschwere sich, weil sie annahm, er habe sie absichtlich erschrecken wollen.
Sie wollte ihm das Problem gerade auseinanderlegen, als ihr die Sinnlosigkeit so einer Erläuterung bewusst wurde. Er würde es ohnehin nicht kapieren. »Schon gut«, sagte sie also, »was gibt’s denn?«
Wildhagen lächelte breit und deutete mit dem Daumen hinter sich: »Überraschung: Die Gegenstromanlage funktioniert jetzt.«
In der anderen Hand hielt er ein Formular auf einem knallgelben Klemmbrett.
Er bemerkte aber, wie diese Nachricht bei Susanne Elling nicht zu der Freude führte, die er vermutet und erwartet hatte.
»Das ist großartig«, antwortete sie höflich, aber sie brachte nicht die Kraft auf, auch nur ein Quäntchen Begeisterung zu zeigen.
Wildhagens Strahlen fiel in sich zusammen. Ein verlegener Moment entstand zwischen ihnen.
Dann hob Wildhagen das Klemmbrett und reichte ihr einen Kugelschreiber. »Da bräuchte ich noch Ihre Unterschrift …«
Susanne griff instinktiv nach dem Stift, als ihr Blick auf die Rechnungssumme fiel: 4359,80 Euro. Statt den Kugelschreiber entgegenzunehmen, tippte sie mit dem Zeigefinger auf die Zahl. »Knapp 4400 Euro? Ich dachte, es ist alles bezahlt.«
Wildhagen nickte ruhig: »Das sind die Mehrkosten wegen der Gegenstromanlage und noch ein paar Extrabeleuchtungssachen und so, die Ihr Mann …«
»Das unterschreib ich nicht«, unterbrach sie ihn. Ab jetzt war es nicht mehr ihr gemeinsames Geld, ab jetzt musste jeder von ihnen beiden für seine Verrücktheiten selbst und alleine aufkommen.
»Aber … Ihr Mann hat das bestellt.«
»Dann soll er Ihnen das unterschreiben. Ich mache das definitiv nicht. «
Wildhagen runzelte die Stirn. Angesichts der Tatsache, dass seinem Kompagnon und ihm dieses Geld zustand und das Ehepaar Elling letzten Endes sowieso bezahlen musste, erschien ihm diese Widerspenstigkeit überflüssig. »Aber es ist doch auch Ihr …«
»Nein«, unterbrach sie ihn, »wenden Sie sich an meinen Mann, Herr Wildhagen.«
Susanne Elling beendete den Disput nicht nur verbal, sondern auch physisch, indem sie die Terrassentür vor seiner Nase schloss und die Gardine zuzog.
Danach verbrachte sie eine Weile im Schlafzimmer vor dem geöffneten Kleiderschrank und überlegte, was sie mit Ellings Sachen anfangen sollte. In einem Koffer vor die Tür stellen, dem Obdachlosenheim spenden, im Grill verbrennen? Oder aufbewahren? Das Aufbewahren würde eine offene Tür signalisieren. Ellings Entscheidung war eine unüberlegte Kurzschlussreaktion gewesen, die sie ohnehin nicht ernst genommen hatte – und seine Rückkehr war willkommen. Und selbst wenn sie es nicht war, würde die Unversehrtheit seiner Kleidung ihre Souveränität widerspiegeln. Ja, es würde einen Schuss Erhabenheit haben. Sie würde damit über den Dingen stehen.
Und während sie noch überlegte und es draußen mittlerweile dunkel geworden war, klopfte es unten erneut. Wieder an der Glasscheibe der Terrasse. Wieder der Poolmann.
Der Poolmann. Ellings Idee. Das erleichterte ihr die Entscheidung – ja, sie würde seine Kleider verbrennen. In seinem geliebten Grill. Und natürlich wäre das nicht souverän, aber wen scherte das schon?
Dann marschierte sie schnellen Schrittes zurück ins Erdgeschoss, sie passierte Stufe Nummer sechs, die immer noch knarrte (eines von Ellings vielen Vorhaben, die entweder gar nicht oder mit bis zu einem Jahrzehnt Verspätung umgesetzt wurden). Es klopfte erneut. Jetzt lauter und schneller.
Was ihre Aggression nur steigerte. Wieder stand ein Mann vor der Tür, dessen Gesicht sie wegen der Dunkelheit draußen nicht erkannte. Er trug dunkle Kleidung, Wildhagen oder Bahr waren es vermutlich nicht. Vielleicht deren Chef, der wegen der Unterschrift mit ihr reden wollte. Das konnte er haben.
Sie öffnete die Tür. Und nun war ihr sofort klar, wieso sie das Gesicht des Mannes nicht hatte erkennen können – es lag nicht an der Dunkelheit, es lag an der Motorradmaske, die er trug.
Susanne Elling versuchte noch, die Tür zuzuwerfen, aber er war schneller. In seiner Rechten, die unglaublich schnell durch ihr Blickfeld wischte, blitzte etwas Silbernes auf, eine Rohrzange vielleicht.
Der Treffer an ihrer Schläfe riss ihren Kopf zur Seite. Sie hatte Schmerz erwartet, aber es war nur wie ein dumpfer Zusammenstoß. Der Mann setzte nach und schlug ihr mit der anderen Hand auf die Nase. Es gab ein Knacken, sie stürzte benommen zu Boden und schlug hart auf den Fliesen auf.
Und jetzt kam der Schmerz, er zuckte von der blutenden Nase hoch zwischen die Augen und dann in die Mitte ihres Kopfes.
Elling hatte die nahezu parallel zur Autobahn verlaufende Bundesstraße genommen und war von dort ins mecklenburgische Nichts abgebogen. Von Westen holte die Gewitterfront auf und schob sich in ganzer Breite näher.
Über die Freisprechanlage meldete sich jemand, der seine Rufnummer unterdrückte, wie Elling am Display sah.
»Willst du nicht ran?«, fragte Lona.
»Und was ist, wenn die unsere Position orten wollen?«
»Wir können nach dem Gespräch die SIM -Karte rauswerfen, dann wissen sie nur, wo wir waren«, hielt sie ihm entgegen.
Elling nahm den Anruf entgegen: »Ja?«
»Wir hätten gerne die Liste. Die haben wir nicht … aber wir haben Ihre Frau.«
»Wir sind kein Ehepaar mehr, ich hab mich getrennt, Herr André.«
»Lassen Sie sich was Besseres einfallen – Sie sind um exakt 21 Uhr am Bahnhof Pölchow. Ab da haben wir Sie im Blick. Ich muss Ihnen ja nicht die Spielregeln erklären. «
Der Mann am anderen Ende wartete eine Widerrede oder Einwilligung gar nicht erst ab, sondern beendete das Gespräch. Natürlich, er saß ja am längeren Hebel.
Die »Spielregeln« waren Elling wie Lona Mendt klar: Susanne Elling würde sterben, wenn sie nicht am Treffpunkt mit der Liste erschienen oder wenn sie die Kollegen einschalteten. Und wenn sie es doch täten und Mertens einweihten – wem könnte der so hundertprozentig vertrauen, dass nicht doch eine winzige Information bis zum LKA durchsickerte? Wer dort noch mit Christian Rathe in Verbindung stand, war für sie überhaupt nicht einzuschätzen.
Es gab nur eine reelle Chance, Susanne Elling unversehrt und ohne jegliches Risiko auszulösen und die Liste zu behalten: »Kopier die Liste.«
»Bin schon dabei«, gab Lona zurück. Sie war zu demselben Schluss gekommen und hatte den Kopiervorgang in die Wege geleitet.
Wieder klingelte das Handy. Wildhagen. Elling machte keine Anstalten ranzugehen.
»Wer ist das?«, fragte Lona.
»Der Poolbauer. Nich’ wichtig, jetzt.«
Lona kniff die Augen zusammen und blickte auf das Display. Auf den Namen. Der Poolbauer. Da lag eine Möglichkeit. Eine Chance. Sie hätte es nicht kausal begründen können, aber für sie war es eine Gewissheit. »Geh ran, Elling.«
»Es ist der Poolbauer. Nein.«
Bevor die Mailbox übernahm, stellte Lona die Verbindung her.
»Herr Elling?«
Das war Wildhagens Stimme. Vom Rauchen etwas heiser und rau.
»Ja«, antwortete Elling notgedrungen.
»Ich ruf an, weil … es geht um die Mehrarbeiten am Pool. Die Gegenstromanlage mit Hochleistungspumpe, die Unterwasserbeleuch …«
»Herr Wildhagen, das geht jetzt nicht. «
»Ja, gut. Aber Ihre Frau sagt, dass sie die Kosten nicht übernimmt, und … und jetzt sollten wir mal klären …«
Da war sie, die Chance, die Lona gespürt hatte: »Mendt hier, ich bin eine Kollegin von Herrn Elling. Herr Wildhagen, wann haben Sie mit Frau Elling gesprochen?«
Ein kurzes Zögern am anderen Ende, der Mann überlegte. »Vor zehn Minuten, vielleicht zwölf, aber eher … eher zehn.«
Jetzt begriff Elling, weshalb Lona die Verbindung gegen seinen Willen hergestellt hatte. »Wo war das?«, fragte er – und hoffte, es möge im Ringelrankenweg gewesen sein.
»Na, bei Ihnen, ich sitz da noch im Lieferwagen an der Straße.«
»Sie … Sie, ähm, stehen da noch mit dem Auto?«
»Ja.«
»Und meine Frau ist auch noch da? Verstehe ich das richtig?«
»Na jedenfalls steht ihr Wagen vor der Garage.«
»Okay, machen Sie sich keine Sorgen wegen der Rechnung. Fahren Sie nach Hause, machen Sie Feierabend. Das Geld kriegen Sie. Überweise ich Ihnen gleich morgen.«
Ein Seufzer vom anderen Ende: »Danke, Herr Elling.«
»Gerne.«
In diesem Augenblick überrollte sie eine Regenwand – das Gewitter hatte sie eingeholt.