»Das waren Rathes Leute«, beharrte Elling. Seine Halsschlagader trat dabei weit hervor.
»Und wenn: Der ist Staatssekretär«, erklärte Mertens, der sich sichtlich zur Ruhe zwang, weil Elling auf hundertachtzig war, »Staatssekretär! Wir kommen an ihn nicht ran.«
Sie standen im Büro von Lona und Elling. Mertens hatte die Tür hinter sich geschlossen. Lona saß hinter ihrem Schreibtisch, aber Elling hielt es nicht, er musste sich bewegen. Er tigerte das Büro hoch und runter wie ein eingesperrtes Tier.
»Kannst du … Rainer … kannst du«, er trat nahe an seinen Vorgesetzten heran, »kannst du für die Sicherheit meiner Familie und mich garantieren?«
»Beruhig dich mal.«
»Nein. Nein, ich beruhig mich nicht. Die wollten uns umbringen und das Haus anzünden. Die sind für einen Doppelmord angerückt, und ich will nicht …«, er hielt kurz inne und schüttelte den Kopf, die Augen wurden ihm feucht: »Rainer, ich will gar nicht daran denken, wenn Mareike zu Hause gewesen wäre.«
»Das wär schlimm gewesen«, sagte Mertens, nickte und bedachte Elling mit einem mitfühlenden Blick. »Schlimm«, fügte er etwas hilflos hinzu, »schlimme Vorstellung, Elling.«
Der nahm seinen Vorgesetzten ins Visier: »Und was ist jetzt? Was kommt jetzt? Was passiert? Was, verdammte Scheiße, wirst du tun?
«
»Wir haben die Verbindungen der Männer überprüft, das heißt … wir wollten das.«
»Wollten das?«, fragte Lona.
»Es ging nicht«, räumte Mertens ein
.
»Weil was?«, fragte Elling.
»Weil wir nicht wissen, wer die sind, die drei Toten.«
»Aber man hat die ja nicht vom Mars aus eingeflogen, oder?«
»Elling, ich bin auf deiner Seite.«
»Ist das so?«
Rainer Mertens hob den Blick zu Elling, er straffte sich: »Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass man gestern versucht hat, Suse und mich umzubringen! Und ich dir sagen kann, wer das angeordnet hat, und mich frage, warum der nicht längst in U-Haft sitzt!«
Die letzten Wörter brüllte er hinaus und schlug dazu mit der flachen Hand auf den Tisch, um seinen Chef nicht zu ohrfeigen.
Rainer Mertens nahm all die Wut mit buddhistischem Gleichmut. Manchmal musste man als Vorgesetzter auch einfach nur der Prellbock sein. »Er sitzt nicht in U-Haft, weil wir – im Moment jedenfalls noch – nicht beweisen können, dass er mit den Männern zu tun hat.«
»Waren die auch bei der Staatssicherheit?«, fragte Lona.
»Wissen wir nicht«, antwortete Rainer Mertens und kam einer Nachfrage schnell zuvor, »wir wissen es nicht, weil die alle drei keine Papiere bei sich hatten. Keinen Führerschein, keinen Ausweis, keine Handys, schlicht nichts. Klar, das ist kein Zufall. Das ist auch keine Einbrechernummer oder so, das riecht schon nach Nachrichtendienst.«
»Und Fingerabdrücke?«
Mertens schüttelte den Kopf: »Haben wir – die sind erkennungsdienstlich aber alle noch nicht in Erscheinung getreten. Jetzt läuft die DNA
-Analyse.«
Elling schluckte schwer und hob dann den Zeigefinger: »Hör zu Rainer, wenn du nicht für die Sicherheit meiner Familie und mich sorgst, dann nehm ich das in die eigene Hand.«
»Das ist eine ganz schlechte Idee, Elling – und die hab ich nicht gehört.«
»Der hat unzählige unschuldige Menschen in der DDR
auf dem Gewissen, der nette Herr Rathe, und jetzt arbeitet der auch
noch im Ministerium – sag mal selbst: Wie kann das sein? Wie kann das sein, hm?«
»Ich weiß es nicht.«
Elling wandte sich wutentbrannt ab und blickte aus dem Fenster des Büros über die Stadt.
»Wenn Staatssekretär Rathe das angeordnet hat«, nahm Mertens den Faden ruhig auf, »dann wird er jetzt die Füße stillhalten. Dann weiß er, dass er unter Beobachtung steht. Und Susanne und Mareike und du: Ihr bekommt jetzt Polizeischutz.«
Lona sah zu Ellings Rücken. Sie wusste, das wäre für ihn keine dauerhafte Option.
Elling wandte sich wieder seinem Vorgesetzten zu: »Das ist auf Dauer keine Lösung, Rainer.«
»Ich weiß.«
»Was ist mit Rathe selbst?«, fragte Lona.
»Schon erledigt. Er hat nicht telefoniert. Wir haben seine Verbindungsdaten überprüft.«
»Dann hat er seine Anweisungen mündlich gegeben«, schloss Elling wütend.
Lona nickte: »Sein persönlicher Assistent Victor André hat uns gestern von Hamburg aus verfolgt. Er hat auf Ellings Handy angerufen …«
»Victor André hat euch gestern auf der Autobahn überholt. Mehr ist nicht nachzuweisen«, unterbrach Mertens sie, »und die Anrufe, die auf Ellings Handy eingegangen sind, kamen von einer Prepaid-Nummer. Die war auch in Pölchow in der dortigen Funkzelle. Aber wir können nicht nachweisen, dass André diese Anrufe getätigt hat. Wie auch immer: Staatssekretär Rathe wird jetzt nichts unternehmen, das wäre dumm. Und das weiß er. Von dem geht momentan keine Gefahr aus.«
»Natürlich«, meinte Elling, »er hat ja die Liste noch rechtzeitig wieder eingefangen. Jetzt gibt es kein Exemplar mehr, von dem wir wissen. Wir hängen jetzt bei der Mördersuche in der Luft. Aber ist ja egal, das LKA
übernimmt ja ab morgen.«
Mertens seufzte: »Ich kann’s nicht ändern. Und was die Toten
betrifft, deren Identitäten kriegen wir früher oder später. Dann führt das möglicherweise auch zu Staatssekretär Rathe.«
Elling inhalierte tief.
Susanne hatten sie das Projektil aus dem Schienbein operiert und sie vorsorglich in der Klinik behalten. Das Haus im Ringelrankenweg war komplett abgesperrt worden. Seit dem frühen Morgen drehte man dort jeden Quadratzentimeter um, und Feuerwehr und Technisches Hilfswerk schafften das Benzin mithilfe von Spezialgeräten raus.
Er stand mit Lona Mendt auf dem Parkplatz hinter dem Kommissariat in der Blücherstraße.
Und zu der wandte er sich jetzt: »Woher kriegen wir nun die Liste? Wer könnte sie noch haben?«
Lona verstand den Beweggrund – über die Liste konnten sie Rathe ausschalten. Und damit für Sicherheit für Elling und seine Familie sorgen. »Mir fällt niemand ein außer Hildebrandt. Und wenn er sie nicht … vielleicht hat er einen Tipp. Er ist uns was schuldig.«
Elling seufzte. Vermutlich würde das zu nichts führen. Aber er hatte auch keine bessere Idee.
Nach dem Gewitter der gestrigen Nacht war die Hitze zurück. Die Sonne trocknete die nassen Böden aus, die Feuchtigkeit hielt sich in der Luft, es war schwül und drückend.
Lona hatte die Ärmel ebenso hochgekrempelt wie Elling, der mit einem gewissen Trotz immer noch den Schlips von gestern trug. Lona saß am Steuer.
Sie mussten gar nicht bis zu Hildebrandts Haus fahren. Sie sahen ihn am Ufer des Sees sitzen, stoppten dort ab und gingen zu ihm hinüber.
Der pensionierte Arzt sah sie kommen und nickte ihnen zur Begrüßung entspannt zu. Lona erinnerte er immer noch an Max von Sydow
.
»Guten Tag, Herr Hildebrandt.«
»Guten Tag.«
»Was machen Sie? Angeln Sie?«
»Dazu fehlt mir die Geduld. Ich schaue auf den See.«
Einen Augenblick lang standen sie neben ihm und blickten ebenfalls auf das Wasser.
»Diese Liste lässt uns keine Ruhe.«
»Ich habe sie nicht.«
»Und wer …?«
»Jeder der damals Beteiligten könnte sie haben. Bis runter zur Krankenschwester.«
»Aber die hätte vermutlich gar nicht begriffen, was sie da in den Händen hält«, stellte Elling fest.
Lona musste lächeln. Neben der notdürftig geflickten Brille und der einigermaßen verheilten Platzwunde an der Augenbraue hatte sich nun noch der Streifschuss am Hals dazugesellt. Elling sah mit jedem Tag ramponierter aus. Ja, und mit jeder neuen Delle mochte sie ihn mehr. Und diese Sache von gestern Nacht hatte ihre Einschätzung bestätigt, dass da weitaus mehr in ihm schlummerte. Möglicherweise mehr, als er selbst ahnte.
»Alexander Beck hat die Wilmer AG
damit erpresst.«
»Wie ich Ihnen schon gesagt habe: Ich benötige kein Geld, und ich habe auch keine Erfahrung darin, Leute zu erpressen, und wenn ich es doch getan hätte, dann direkt nach der Wende. Dann hätte ich mir von dem Geld etwas aufgebaut. Aber jetzt? Wieso jetzt? Das macht keinen Sinn.«
»Die Toten«, sagte Lona, die ihrer Intuition folgte, »wo liegen die?«
»Die Toten aus den Testreihen?«
»Genau die.«
»Da, wo sie gelebt haben«, antwortete Hildebrandt: »Ostberlin, Jena, Rostock, Dresden, Leip…«
»Die von hier«, unterbrach Lona ihn, »alles läuft hier zusammen.«
Hildebrandt lächelte kurz: »Ist das eine kausale Beweisführung?
«
»Nein. Aber es hat mit hier, mit Marnow zu tun, glaube ich«, entgegnete Lona.
Hildebrandts Lächeln verlor sich, er betrachtete sie mit ernster Miene: »Ja, vielleicht.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Elling wissen.
»Ich weiß nicht. Das ist auch für mich neu, Herr Elling – ich teile das Gefühl Ihrer Kollegin: Ja, vielleicht hat es mit Marnow zu tun.«
Er deutete quer über den See zu der Kirchturmspitze vor der Klinik: »Auf dem alten Friedhof, da liegen sie: die Toten von Marnow.«
Ohne viel Hoffnung umrundeten sie den See. Sie hatten eine letzte, lose Karte, die sie jetzt noch spielen konnten.
Lona hatte über Rathe nachgedacht.
Für Elling war er eine Gefahr. Für ihn und seine Familie.
Für Lona möglicherweise auch, aber sie hatte keine Angst.
Jeder Mensch offenbarte sein wahres Wesen, wenn man ihm ein Stückchen Macht zubilligte, dachte Lona. Die einen waren der Macht gewachsen und wandten sie zum Wohl der Allgemeinheit an. Die anderen waren der Macht charakterlich nicht gewachsen: Sie wurden von der Macht, die man ihnen anvertraut hatte, deformiert.
Christian Rathe war so einer. Einer, der seinem Posten nicht gewachsen war. Und vor so einem fürchtete sie sich nicht.
Die Grillen auf dem Friedhof gaben ein leises Konzert. Als achteten sie die Totenruhe. Elling zündete sich eine Zigarette an, dann gingen sie die Fluchten zwischen den Gräbern entlang. Wie Leute, die ziellos eine neue Landschaft erschlenderten.
Still, weil ihre Gedanken um die Sache kreisten.
Schweigsam, weil alles Wichtige gesagt, aber nicht ausgesprochen war.
Langsam, weil es wohl nichts mehr zu entdecken gab.
Bald nämlich würde das LKA
übernehmen
.
Sie passierten – jeder auf seiner Seite – den Pavillon, unter dem sie im Regen Schutz gefunden hatten.
Manchmal blieben Rätsel. Manchmal musste man als Ermittler aufgeben, weil man sich im Kreis drehte. Manchmal benötigten Fälle Zeit. Neue Ermittler. Neue technische Möglichkeiten. Das gab es.
Aber für jemanden wie Elling oder Lona Mendt war das nicht befriedigend.
Ihre Blicke fuhren über die Grabsteine.
Familiengräber. Dann einzelne. Aus Marmor. Naturbelassene Findlinge, gefolgt von solchen mit Rissen.
Die neuen ließen sie aus, ohne sich diesbezüglich abgestimmt zu haben. Sie suchten Gräber aus den Siebzigern und Achtzigern, das war klar.
Jahreszahlen, Namen.
Elling hob den Kopf und sah am Ende eine Gruppe von Steinen, die sich von den anderen unterschied. Denn sie waren einander zugewandt. Als würden sie untereinander gerade den neuesten Dorftratsch weitergeben. »Hast du was?«, fragte er Lona.
»Nein.«
Lona bog nach oben ab. Elling ging auf die Gruppe von Steinen zu, als zögen sie ihn magisch an.
Kinder.
Kleine Engelsfiguren, bunte Windräder, Spielzeug.
Lauter Dinge, die mit auf einen Weg gegeben wurden, den sie ohne elterlichen Beistand antreten mussten. Die jetzt dort Wache hielten und von dem Schmerz erzählten, der die Eltern für immer verändert hatte.
Lona war bei einer Reihe angekommen, die Anfang der Achtziger angelegt worden war. Männer und Frauen, zwischen dreißig oder Mitte vierzig.
»Oh nein.«
Ellings Stimme drang zwar bis zu ihr, aber weil sie so vertieft war in die Inschriften, reagierte Lona mit leichter Verzögerung. Sie sah auf und entdeckte ihn bei der Gruppe Grabsteine, die
etwas separiert standen. Intuitiv las sie in seiner Haltung sein tiefes Bedauern. Die herabhängenden Schultern, der gesenkte Kopf. Sie ging zügig auf ihn zu: »Was ist?«
»Ich glaub, ich hab’s«, antwortete Elling, ohne sich umzudrehen. Und statt einer Antwort trat er beiseite und gab den Blick auf einen kleinen Grabstein frei. Lona erstarrte, als sie den Namen las, und nun teilte sie Ellings Bedauern.
Paula Bender.
03.03.1981–04.12.1988.
»Siebeneinhalb Jahre«, wisperte Elling. Und während er nur ganz entfernt ahnen konnte, was das bedeutete, weil er Vater war, stand Lona neben ihm und wusste es. Wusste es doppelt.
Für einige Augenblicke standen sie starr in der Zeit. Aber in ihren Köpfen fügte es sich nun, jedes Detail fügte sich in das andere. Und auch wenn sie noch nicht alle Antworten hatten, lag es mit der Klarheit eines Blicks mitten ins Sonnenlicht plötzlich vor ihnen.
Natürlich.
»Er musste sich beeilen, weil sie stirbt«, sagte Elling leise.
Lona nickte: »Das ist ein Rachefeldzug. Die Benders rächen sich für ihr ermordetes Kind.«
Sie zückte ihr Handy und wählte die Notrufzentrale. »KHK
Mendt, Kripo Rostock. Schreiben Sie Meike und Michael Bender zur Fahndung aus. Wohnhaft auf dem Campingplatz in Marnow. Fotos folgen.«