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Michael Bender wurde gleich am Dienstagvormittag darauf, den 26. August, in Marnow beigesetzt. Für den Nachmittag war Hildebrandts Beerdigung vorgesehen. Beide hatten testamentarisch verfügt, auf dem Friedhof der alten Kirche begraben zu werden.
Weshalb sie schließlich in benachbarten Gräbern bestattet wurden.
Lona und Elling nahmen an Benders Beerdigung nicht teil, denn für elf Uhr morgens war die Vernehmung der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Vorteilsnahme im Amt angeordnet worden. Obwohl auf dem Film nur Ariane Lemmes und Elling zu sehen waren, hatte man Lona Mendt ebenfalls vorgeladen.
Meike Bender war zu schwach, um der Beisetzung ihres geliebten Mannes beizuwohnen. Der Haftrichter hatte sie nach der Anhörung am Vortag sofort aus der JVA entlassen und ihre Überführung ins Hospiz des Klinikums in der Südstadt Rostocks erwirkt.
Lona Mendt war in Jeans, flachen Sommerschuhen und einer hellblauen Bluse erschienen. Elling wie sonst auch mit Jackett und Schlips, die Brille immer noch geflickt. Die Platzwunde an der Augenbraue war nahezu verheilt, dafür zog sich der rote Streifen von dem Schusswechsel mit Birker über den Hals. Der linke Arm steckte in einer schwarzen Binde.
Er sah aus, dachte Lona, als habe ihn das Leben einmal durch die Mangel genommen. Und da war ja auch was dran.
Die Glut des Sommers von 2003 jedenfalls schob sich immer noch wie eine erbarmungslose Walze über die Stadt und ihre Umgebung. Sie saßen in einem kleinen Raum der Staatsanwaltschaft. Lona, Elling und – schräg dahinter versetzt – Rainer Mertens. In der Mitte des Tisches ein Diktiergerät von Olympus, dessen Minikassette lief.
Die Luft im Raum stand. Über die gekippten Fenster drang die Hitze von draußen hinein. Staatsanwalt Rost schwitzte aus allen Poren, die Haut glänzte, aber er entledigte sich weder seines Jacketts noch lockerte er die Krawatte. Ihm zur Seite Eva Ritter, die eine Akte geöffnet und Stift und Notizblock bereitgelegt hatte. Sie wirkte ruhig und ein wenig unbeteiligt. Lona hätte interessiert, ob sie mehr als eine Augenbraue gehoben hätte, wenn plötzlich eine Raubkatze im Raum erschienen wäre.
»Befragung von KHK Elling, Frank und KHK Mendt, Lona, beide Kriminalpolizei Rostock durch Rost, Simon, Staatsanwaltschaft Rostock wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme im Amt, Aktenzeichen 1210 Js. Ort: Rostock. Datum: Dienstag, 26. August 2003.«
Rost mit den klaren, blauen Augen, der zum Diktiergerät gesprochen hatte, richtete diese jetzt auf Elling: »Wir kennen uns ja bereits aus der Einvernahme zum Nachteil von Herrn Krohn.
Ich habe nur zwei Fragen an Sie. Eine an Herrn Elling, eine an Sie beide. Wir zeichnen das Gespräch auf. Die Frage an Sie, Herr Elling, lautet: Was hat sich in dem Umschlag befunden, den Ariane Lemmes Ihnen auf dem Film, der uns zur Verfügung steht, übergeben hat?«
Elling warf seinem Chef einen kurzen Blick zu. Mertens saß mit versteinerter Miene dort. Nur sein Kehlkopf bewegte sich, denn er schluckte alle paar Sekunden.
»Da waren 20000 Euro in bar drin. Ich habe die an meinen Vorgesetzten Herrn Mertens übergeben.«
Rost sah zu Ritter, die nickte: »Das ist so bestätigt von KHK Mertens, Rainer.«
Es mutete etwas seltsam an, dass die beiden Dinge aussprachen, die allen im Raum geläufig waren, aber sie taten es wegen der Aufzeichnung.
»Wozu hat sie Ihnen das Geld übergeben, Herr Elling?«, hakte der junge Staatsanwalt nach .
»Das ist jetzt aber schon die zweite Frage, die nur an mich gerichtet ist«, merkte Elling mit einem Lächeln an, um die ganze Situation etwas aufzulockern, doch Mertens’ Miene wechselte von Stein zu Granit, der Mund war ein gepresster Strich, und Rost ignorierte die Einlassung wie ein lästiges Insekt. Nur Lona schmunzelte.
»Sie wollte damit darauf hinwirken, dass ich die Ermittlungen zum Nachteil von Alexander Beck im Sande verlaufen lasse. Sie hat dazu vorgegeben, Teil einer Gruppe von Angehörigen zu sein, deren Kinder Missbrauchsopfer sind. Opfer von Herrn Beck. Und dazu hat sie auch nicht ihren Klarnamen verwendet, sondern sich Jutta Winter genannt.«
»Wie Sie eben eingeräumt haben, haben Sie dieses Geld angenommen. Wir haben auch eine Tonspur zu diesem Mitschnitt, auf der Sie einräumen, sich der Vorteilsnahme strafbar zu machen, sofern Sie das Kuvert an sich nehmen.«
Rost ließ eine kurze Pause einfließen, um Elling dann zu erlegen: »Können Sie bestätigen, dass Sie das in dieser Situation gegenüber Frau Lemmes geäußert haben, Herr Elling?«
Nie war die Stille in einem Vernehmungszimmer so absolut wie jetzt. Mertens hatte sich komplett versteift.
»Herr Elling?«, hakte Simon Rost nach.
Alle Augen richteten sich auf Elling. Ja, er hatte sich schmieren lassen.
»Um sie in Sicherheit zu wiegen. Die Frau Lemmes.«
Simon Rost konnte seine Überraschung über diese Antwort nicht so schnell verbergen, wie er sich gewünscht hatte. Mertens atmete seine Anspannung hörbar aus, er wirkte jetzt nicht mehr ganz so verkrampft.
»Aha, und ähm … Sicherheit, Sie wollten sie in Sicherheit wiegen, und … ich versuche das gerade zu verstehen, Herr Elling. Warum haben Sie Frau Lemmes wegen deren Bestechungsversuchs nicht umgehend festgenommen?«
Mertens spannte sich wieder an. Eva Ritter notierte sich etwas, ihre Schrift war gestochen scharf und akkurat .
»Weil ich Grund zur Annahme hatte, dass sie – wie von ihr selbst ausgeführt – diesen Bestechungsversuch nicht komplett eigenständig geplant, sondern nur durchgeführt hat. Zumindest konnte ich das nicht ausschließen«, sagte Elling und sah den Staatsanwalt treuherzig an: »Durch Frau Lemmes’ Wunsch, die Ermittlungen im Fall Beck einzustellen, musste ich davon ausgehen, dass sie oder jene nicht näher definierte Gruppe in den Mord an Herrn Beck involviert war.
Deswegen habe ich das Geld zum Schein angenommen, um ihr Vertrauen zu gewinnen und so später Zugang zu den Identitäten der anderen Drahtzieher zu erhalten. Schließlich galt es, einen Mord aufzuklären, und hier hat sich eine ungeahnte Chance geboten. Ich musste also überzeugend den Eindruck vermitteln, ich sei empfänglich für Geldzuwendungen.«
Rost blieb sichtlich die Spucke weg, aber er hatte sich trotzdem gut im Griff: »Aha, ich … ähm … verstehe. Und haben Sie diesen Zugang erhalten?«
»Nein. Frau Lemmes ist dann ja leider bei einem Unfall ums Leben gekommen.«
»Ja«, sagte Rost, dem sichtlich die Munition ausging, und der sich jetzt an Lona wandte: »Frau Mendt, der Abend, an dem Frau Lemmes bei einem Verkehrsunfall an der Unterwarnow ums Leben gekommen ist, war der 13. August. Wo waren Sie da am Abend?«
»Da muss ich kurz überlegen, warten Sie …«
Sie starrte an einen Punkt an der Decke und tat so, als konzentriere sie sich.
Das war der Abend in der Riemannshöhe gewesen. Als Elling im Parkhaus in die Falle gelaufen war. Sie hatten ihre Handys vorher nach Marnow gebracht und dort ins Wohnmobil gelegt.
Natürlich war Simon Rost bei seinen Nachforschungen auf den Unfalltod von Lemmes gestoßen. Und auf die Sache im Parkhaus. Auf den Flüchtigen. Aber da man Elling auf den Aufnahmen nicht erkennen konnte, hatte Rost sicherheitshalber das Bewegungsprofil ihrer Handys überprüfen lassen .
»Jetzt weiß ich’s wieder«, sagte Lona, »da hab ich mit Herrn Elling zu Abend gegessen.«
Simon Rost wirkte nicht überrascht, lediglich ernüchtert.
»Und wo?«
»In Marnow.«
»Das können Sie bestätigen, Herr Elling?«
Der nickte »Wir haben gegrillt. Frau Mendt hatte Schaschlik, und ich … »
»Schon gut, danke«, unterbrach Rost ihn. Er sah von Elling zu Lona und wieder zurück zu Elling. Dann zu seiner Armbanduhr.
»Die Einvernahme der Kriminalbeamten Mendt, Lona und Elling, Frank, wurde um 11:14 Uhr beendet.«
Er schaltete das Diktiergerät aus und sah die beiden an. »Ich danke Ihnen im Namen der Rostocker Staatsanwaltschaft«, sagte er dann, und es kostete ihn seine ganze Überwindung.
»Da hat er aber ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt, der Herr Rost!«, freute sich Mertens, als sie vor das Gebäude der Staatsanwaltschaft traten. Aber dann seufzte er, während Elling sich eine anzündete: »Wir kriegen ihn nicht dran. Rathe.«
Elling sah mit ehrlicher Überraschung auf. Lona dagegen hatte nichts anderes erwartet.
»Wir haben inzwischen die Klarnamen der drei Männer. Alle ehemals MfS oder zumindest Dunstkreis. Einer war Ausbilder, einer in die Unterbringung der RAF -Aussteiger um Inge Viett verwickelt und so weiter. Aber Rathe hat einen einwandfreien und lückenlosen Lebenslauf. Dem kommen wir nicht bei. Es gibt auch niemanden, der gegen ihn aussagen kann. Oder will. Das mag sich ja noch ändern, aber im Augenblick ist das der Stand.«
»Und Victor André?«, fragte Lona und kam Elling damit knapp zuvor.
»Es gab keinen Telefonkontakt zwischen Rathe und André. Rathe hat sich an dem Abend, als die bei dir … eingebrochen sind … da war er seit dem frühen Nachmittag zu Hause. Funkzellenauswertung und zwei Nachbarn belegen das. «
»Mich interessiert nich’, wo der zum Zeitpunkt war, als man versucht hat, Susanne und mich zu ermorden, ich will, dass die Behörden den drankriegen. Denn wenn die das nicht tun, mach ich das.«
Mertens schluckte, weil ihm Elling in die Augen blickte und er dessen Bereitschaft sah.
»Mach keinen Scheiß, Elling.«
»Dann verhaftet ihn. Es kann nicht sein, dass der frei rumläuft, Rainer. Rathe ist weiterhin eine Bedrohung für meine Familie. Du würdest das nicht zulassen, wenn es um deine ginge.«
Die Sonne schien ihnen unbarmherzig in den Nacken. Elling zündete sich eine Zigarette an.
Rainer Mertens wandte sich an Lona: »Frau Mendt, kann ich Sie kurz sprechen?«
Er führte sie zur Seite und erklärte ihr, dass Rathe vermutlich straffrei davonkommen würde. Und dass sie einen viel besseren Draht zu Elling habe als er selbst – und sie alles Menschenmögliche versuchen solle, damit er keinen Riesenunsinn veranstaltete; sie verstehe schon.
Er wollte seinen Hinweis mit einem aufmunternden Klopfen auf ihre Schulter abschließen, aber ihr Blick ließ seine Bewegung noch in der Luft einfrieren. Er senkte sie und beließ es bei einem Nicken, bevor er ging.
Sekunden später stand Elling neben Lona, die Mertens nachsah. »Was wollte er?«
»Dass du keinen Unsinn machst«, antwortete sie und sah ihm aus kurzer Distanz in die Augen: »Du machst keinen Unsinn, oder?«
»Nein«, log er und unterbrach dafür den Blickkontakt. Er wusste, sie würde die Lüge in seinen Augen lesen.
Aber das tat sie auch so.