Zu Lonas Überraschung roch es nicht nach Desinfektionsmitteln. Die Fenster waren weit geöffnet. Die Sommerluft flutete die Gänge des Hospizes.
Am frühen Morgen war sie in Marnow gewesen und hatte ihr Wohnmobil abgeholt. Der See hatte still gelegen, umhüllt von Morgennebel.
Sie hatte nicht an den Gräbern von Hildebrandt und Michael Bender gehalten, sondern den Ort hinter sich gelassen. Das war keine Flucht, sie hatte nur ein Kapitel beendet und die letzte Seite zugeschlagen. Es war auch der Versuch, Krohn dort zurückzulassen.
Sie hatte auf ihn geschossen, um ihn zu töten – ja. Aber die Schuld an seinem Tod trug sie nicht. Darüber empfand sie tiefe Erleichterung – es wäre eine unerträgliche Last gewesen, wenn sie ihrem Vergewaltiger gegenüber eine Schuld hätte empfinden müssen.
Im Haus der Benders waren ihr einmal Sonnenblumen aufgefallen. Auf dem Weg zurück nach Rostock war sie an einem Feld vorbeigekommen. An einem Pfosten war eine Metallkasse mit einem Schlitz für Münzen und eng gefaltete Scheine angebracht. Drei Gartenmesser hatten darauf gelegen, von denen sie eines genommen hatte. Sie hatte sieben der Blumen abgeschnitten, einen Euro mehr zurückgelassen als verlangt und war weitergefahren.
Lona Mendt hatte panische Angst vor diesem Besuch. Der aus vielerlei Gründen notwendig war. Die sie untereinander aber nicht gewichten wollte, um keinem die Priorität einzuräumen. Sie hatten alle ihre Berechtigung. Es ging um Elling, es ging aber auch um Meike Bender und um sie selbst. Es ging um diese feine
Verwerfung zwischen Recht und Gerechtigkeit. Zwischen dem Recht, das die Gerichte sprachen, und der Gerechtigkeit, die dabei manchmal auf der Strecke blieb.
Der Anblick war ein Jammer, natürlich. Meike Bender lag an zwei Schläuchen in einem Einzelzimmer des Hospizes. Die Augen versanken in tiefen Höhlen, die Lippen wurden trocken und schmal, die Ohren groß.
»Sind die schön«, sagte sie und hustete vor Anstrengung. Aber ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes, um ein Haar hätte Lona geweint. Stattdessen füllte sie am Waschbecken Wasser in eine Vase und stellte die Blumen dann auf den Nachttisch von Meike Bender.
»Das ist so nett von Ihnen«, sagte Meike Bender, ihre Augen klebten an den gelben Blumen. Lona zog einen Stuhl heran und nahm neben ihrem Bett Platz. Sie hatte noch eine Plastiktüte dabei, die sie ebenfalls auf dem Nachttisch von Meike Bender ablegte.
»Waren Sie da? Bei der Beerdigung meines Mannes?«
»Nein, ich hatte eine Anhörung – tut mir leid.«
Frau Bender nickte bedauernd.
Für eine gute Minute saßen die beiden Frauen schweigend. Da war nichts Drängendes, es war ein gutes Schweigen, einvernehmlich. Und Lona sammelte den letzten Rest Mut.
»Ich hatte auch eine Tochter«, sagte sie schließlich, »Sophia. Einen Sohn. Max. Sie waren sieben und acht Jahre alt. Vor drei Jahren haben sie mit ihrem Vater und vielen anderen Passagieren in einem Flugzeug gesessen, das an einem … Berg zerschellt ist.«
Die schwache Frau im Bett sah erstaunt auf.
Lonas Augen wurden feucht, sie hatte Angst, ihre Stimme könnte brechen. Und mit einem Mal spürte sie eine Berührung, sie blickte hinab – Meike Bender hatte ihre von Kanülen freie Hand auf ihren Unterarm gelegt. Lona blickte auf. Meike Bender lächelte. Mitfühlend und ruhig. Und ermunternd. »Bitte sprechen Sie weiter«, flüsterte sie
.
Lona brauchte einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Ich würde alles dafür geben, wenn ich dieses Leben zurückhätte. Aber das wird nicht passieren. Es gibt auch niemanden, den ich dafür zur Rechenschaft ziehen kann. Es war ein Pilotenfehler, und die Piloten sind tot. Ich kann nur versuchen, es auszuhalten. Das, was Sie und Ihr Mann seit Paulas Tod auch getan haben. Nur aushalten und mich nicht … nicht schuldig zu fühlen, wenn es mal einen schönen Moment gibt. Und ich …«
Lonas Stimme brach, die Tränen liefen ihr ohne Vorwarnung über die Wangen. Unter einem Ächzen kam Meike Bender mit dem Oberkörper aus dem Bett hoch und schloss Lona in ihre dünnen, knöchrigen Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. In sanften, ruhigen Kreisen.
»Ich weiß«, sagte Meike Bender sanft, »ich weiß.«
»Ja«, sagte Lona und hielt die Tränen nicht zurück. Sie hatte nie wirklich geweint, nur manchmal bei Herrn Klein, dem schwarzen Mann. Und bei Elling. Aber nie so ganz.
Und hier, in diesem Hospiz, traf sie diesen Menschen endlich, bei dem sie das tun konnte, und ließ sich fallen. All die Trauer brach aus ihr heraus, sie durchnässte der armen Frau das Nachthemd.
»Tut mir leid«, schnaufte sie.
»Schon gut. Lassen Sie es raus.«
Und das tat sie.
Sie hatten beide ihre Kinder verloren. Es gab in Lonas Vorstellung keinen Zustand, der noch näher hätte sein können.
Stumm hielten sie sich für gute zwei oder drei Minuten. Oder zehn. Die Zeit entzog sich in diesen Momenten einer Bemessung.
Dann hob Lona ihr tropfnasses Kinn von der Schulter der sterbenden Frau und sah sie dankbar an: »Möchten Sie immer noch gehen?«
Meike Bender blickte forschend in ihr Gesicht, um sich zu versichern, dass sie darunter dasselbe verstanden.
Das taten sie, und deshalb nickte sie und löste vorsichtig die beiden Schläuche an ihrem Arm.