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Frank Elling hatte seinen Volvo in Rostock gelassen und den Zug Richtung Zislow genommen – das hieß, er war für eine Strecke, für die man mit dem Auto eine knappe Stunde benötigte, alleine anderthalb Stunden mit der Bahn gefahren. Immerhin hatte die nur sieben Minuten Verspätung gehabt und ihn nach einem Umstieg in Waren bis nach Malchow befördert. Von dort war es mit dem Bus nach Zislow gegangen.
Das Anwesen von Christan Rathe hatte er in zwölf Minuten zu Fuß erreicht. Er hatte sich eine Stelle im angrenzenden Wald ausgesucht, von der aus er das Haus des Staatssekretärs beobachten konnte, ohne von dort gesehen zu werden.
Er hatte den kleinen Feldstecher dabei, mit dem er die Fenster abschwenkte, bis er Rathe entdeckte. Der wechselte gerade vom Erdgeschoss in den ersten Stock und dann wieder zurück nach unten. Wie es aussah, telefonierte er und gestikulierte dabei.
Während Elling sich noch überlegte, wie er sich unter einem Vorwand Zugang zu dem Haus verschaffen konnte, öffnete sich die Seitentür, und Rathe schlüpfte in einem Blaumann heraus und nahm die Pforte, die nach unten zum See führte. Für seine Umgebung hatte er keinen Blick, er starrte beim Gehen zu Boden. Auf Elling wirkte er, als sei er tief in Gedanken – und auf dem Weg zu seinem Boot.
Rathe war alleine. Elling setzte seine Sonnenbrille auf, beging aber nicht den Fehler, quer über die Straße zu gehen, sondern blieb im Waldstück. Niemand sollte ihn sehen. Auch das Handy hatte er zurückgelassen. In der weißen Turmsuite des Grand Hotels in Heiligendamm, denn dort hatte er sich für ein paar Tage eingemietet. Es war die beste Suite, die das Hotel zu bieten hatte. Er schlief in einem weißen Himmelbett mit Blick auf die Ostsee.
Gestern noch hatte er es Erika gezeigt, die von dem Ausblick hin und weg war. Seine kleine Angeberei musste er allerdings büßen, weil seine Mutter annahm, sie würde nun ebenfalls dort wohnen.
Er nahm einen Pfad, der sehr nah an dem Zaun um das Anwesen von Staatssekretär Rathe vorbeiführte. Ein letzter Blick auf das Haus. Und dann hinunter zum See. Tatsächlich erreichte Rathe gerade das Ufer. Elling wartete, bis er in seinem Bootshaus verschwand, bevor er wegen seines verletzten Armes mit einem ungelenken Hüpfer und mit ächzender Mühe den Zaun überwand.
Auf dem Scheitelpunkt fiel ihm der Revolver aus der Tasche. Zum Glück löste sich kein Schuss. Er ließ sich hinabfallen und zog sich den transparenten Einweghandschuh für den Dienstgebrauch über die rechte Hand, bevor er die Waffe aufhob und wieder einsteckte. Er trug statt des üblichen Jacketts eine dünne Jacke mit Kapuze, die er sich nun überwarf.
Überwachungskameras für den Heimgebrauch waren gerade im Kommen. Samt digitaler Aufzeichnung und Bewegungsmeldern. Die Hausbesitzer rüsteten auf. Erst recht, wenn man Staatssekretär war. Wahrscheinlich steckten hier am Gebäude und im Garten ein paar und zeichneten auf, was passierte.
Er ging im Schutz der Bäume und ihrer Schatten in Richtung See.
Den Revolver hatte er von seinem Lieblingshehler Marco, einem gut aussehenden Halbitaliener, der mit Vorliebe Waren aus Diebstählen vertickte. Für ein paar gute Tipps ließ Elling ihn seit Jahren ungeschoren davonkommen – sofern Marco den Bogen nicht überspannte.
Er war in dessen Versteck unterhalb einer gemütlichen Kneipe namens »Rashomon« eingebrochen und hatte den Revolver und fünf 9-Millimeter-Patronen mitgenommen. Der Hehler konnte den Einbruch nicht anzeigen – und Elling war jetzt im Besitz einer Waffe unbekannter Herkunft.
Christian Rathe hatte den Tod vieler unwissender Patienten in Kauf genommen, darunter Paula Bender. Und würde dafür nicht mehr belangt werden können. Er würde weiter im Ministerium arbeiten, vielleicht sogar Minister werden und irgendwann eine bekömmliche Pension kassieren.
Im juristischen Sinne war er freizusprechen, sofern nicht doch noch Beweise auftauchten. Im moralischen Sinne war er schuldig, und Bender, der ihn zur Rechenschaft hatte ziehen wollen, hatte es nicht zu Ende bringen können.
Dieses hehre Motiv kam Elling gelegen. Was für Krohn galt, galt auch für Rathe: Die Welt würde ohne ihn ein besserer Ort sein.
Für Elling zählte aber vor allem die Unversehrtheit von Mareike, Susanne und ihm selbst. Rathe wusste, dass Elling und Lona an ihm dran waren. Die Zeugen, die ihm gefährlich hätten werden können, waren zwar tot: Leyendecker, Sterzing, Fichte, Krohn, Hildebrandt, André.
Aber die Sache war mit dem vereitelten Mordanschlag im Ringelrankenweg nicht zu Ende – der Illusion gab Elling sich nicht hin. Sie standen jetzt in einem Patt, Rathe und er, in dem beide Seiten die Wunden leckten, um Kraft zu schöpfen für den nächsten Zug.
Elling war hier, damit Christian Rathe den nicht mehr ausführen konnte.
Kurz kam der Staatssekretär aus dem Bootshaus und schnappte sich einen Farbeimer, mit dem er wieder drinnen verschwand. Elling hatte schnell Schutz hinter einem Baumstamm gesucht und ging nun weiter. Er griff nach dem Knauf des Revolvers und betrat den Holzsteg, der zu dem Bootshaus führte.
Ein Husten von drinnen. Elling erstarrte, besann sich dann aber. Er musste sich nicht mehr verstecken. Deshalb zog er den Revolver und ging weiter auf das Bootshaus zu, an dem er stoppte und durch eine der Ritzen spähte .
Rathe stand keinen Meter entfernt mit dem Rücken zu ihm. Er pinselte irgendein hölzernes Teil akribisch ein, das in sein Boot gehörte. Und summte dabei vor sich hin. Old Lang Syne.
Elling atmete tief durch, setzte die Mündung auf den Spalt der Ritze und spannte den Hahn.
Nach einigen Augenblicken, in denen er sich zu fragen begann, auf was genau er eigentlich wartete, senkte er die Waffe und ließ den Hahn langsam und leise einrasten.
Vorsichtig schlich er über den Steg zurück zum Ufer und drehte sich noch einmal um. Gebannt im tiefen Erstaunen über sich selbst.
Er wandte sich vom See ab und nahm jetzt die Abkürzung über den Pfad, den André ihnen bei ihrem Besuch gezeigt hatte. Dabei schüttelte Elling die ganze Zeit den Kopf über sich selbst.
Er zog die Kapuze zurück, unter der er ohnehin geschwitzt hatte, nahm die Sonnenbrille ab und zog den Einweghandschuh aus. Während er das Waldstück verließ, sah er eine Gestalt an der Gartenpforte stehen: Lona.
Sie teilten beide die Überraschung, den jeweils anderen hier anzutreffen.
»Elling …«
Sie schien bestürzt.
»Was machst du hier?«, fragte er.
Ihr Blick, mit dem sie ihn betrachtete, war höchst besorgt, fast alarmiert. Sie ging ihm entgegen und sah den Revolver. »Elling, was hast du getan?« Sie schrie fast.
»Ich? Ich … nichts«, brachte er hervor.
»Was machst du dann hier?«
Er atmete aus und senkte kurz den Kopf. Hob den Blick dann wieder zu ihr: »Ich konnt’s nicht. Ich wollte, aber … ich konnte es nicht.«
Die Anspannung wich aus ihr, sie erschlaffte förmlich vor Erleichterung.
»Und du?«, fragte er.
Lona Mendt öffnete den Mund, aber sagte nichts .
Der erste Schuss, der vom See aus aufpeitschte, ließ sie beide zusammenzucken.
Ein zweiter Schuss.
Elling, der zum See laufen wollte, stoppte ab, weil Lona sich nicht rührte. Weil erneut Entspannung in ihre Haltung und ihr Gesicht strömte. Sie wusste mehr als er, das konnte er in ihrem Blick lesen.
»Was passiert da?«
»Wenn ich mich nicht irre, gibt es gleich noch einen Schuss«, sagte sie und nahm seine Hand: »Bleib hier. Vertrau mir.«
Ihr Wunsch war stärker als sein Impuls, also machte er sich nicht los und blieb stehen.
Es dauerte nicht allzu lange – ein Grashüpfer zu Ellings Zehenspitzen vollführte drei Sprünge – dann knallte es ein drittes Mal.
Das Echo des Schusses hallte über den See.
Lona ließ seine Hand los und nickte ihm zu: »Gehen wir.«
Zusammen passierten sie die alten Bäume. Am Ufer angekommen, entdeckten sie Rathe zuerst. Er trieb rücklings im Wasser neben dem Bootshaus. Zwei Geschosse hatten seine Brust durchschlagen.
Er war tot.
Eine andere Gestalt lag bäuchlings direkt am Ufer. Sie hatte sich hingekniet, den Lauf in den Mund geschoben und abgedrückt. Und dann nach vorne gefallen: Meike Bender.