Als Anna weder von Victor, den Eltern noch den Freundinnen telefonisch erreicht werden konnte und sie außerdem am Montagmorgen nicht auf ihrer Arbeitsstelle, einer Diakonieeinrichtung in Hildesheim, erschien, erstatteten ihre Eltern Anzeige in der Polizeiinspektion Hildesheim an der Schützenwiese.
Auf der Wache der Polizei war eine Vermisstenserie mit einem Hochzeitshintergrund nicht bekannt und auch nicht von der Soko Pelikan verbreitet worden.
So wurde der Sachverhalt lediglich bei der Polizei als Verdacht eines Vermisstenfalles aufgenommen, da volljährige Menschen in den meisten Fällen plausible Gründe hatten, sich nicht ständig bei ihren Angehörigen zu melden, oder auch mal einen Tag der Arbeit unentschuldigt fernblieben. Eine Vermutung auf eine strafbare Handlung drängte sich hier zunächst auch nicht auf.
Eine Verbindung zur Hochzeitsmesse konnte in der Schilderung der Vermisstenanzeige nicht herausgefunden werden und wurde auch vom Beamten nicht erfragt. Als letzter Kontaktort der Vermissten war zumindest das Novotel in Hildesheim eingetragen.
In ihrer täglichen Morgenrunde samt Auswertung der Sexual-/Tötungs- und Vermisstenfälle wurde in der Zentralstelle Gewalt des LKA auch der Fall Anna Helwig erwähnt. Als bei der Vorstellung des Falles das Novotel in Hildesheim genannt wurde, läuteten bei Thorsten Büthe die Alarmglocken.
Durch seine therapeutische Hochzeitsfotografie, wie der Fallanalytiker seine nebenberufliche Leidenschaft nannte, war ihm bekannt, dass am Wochenende eine Hochzeitsmesse im besagten Hotel stattgefunden hatte.
Sofort griff er zum Telefonhörer und konnte im Hildesheimer Fachkommissariat 1 Kriminaloberkommissar Hans Wiener erreichen. Der angezeigte Vermisstenfall war noch gar nicht an seine Dienststelle weitergeleitet worden, was ohne Kenntnis dieser neuen Umstände auch ganz normal war.
„Hans, bitte zieh dir den Fall, setz deine Chefin in Kenntnis und ruf die verfügbaren Kollegen zusammen, wir sind in dreißig Minuten da und weisen euch in eine vermutliche Entführungsserie ein. Bis gleich.“
Kristin Bäumer und Thorsten Büthe machten sich mit Blaulicht auf den Weg nach Hildesheim und ahnten schon, dass auch dieser Fall in die Serie passen dürfte.
Beim Eintreffen des OFA-Teams saß die Hildesheimer Mordkommission samt ihrer Chefin, Beate Junge, im Lageraum der Dienststelle.
„Hallo, Kristin, hallo, Thorsten, jetzt sind wir mal gespannt, warum ihr hier so eine Hektik macht. Elke kommt gleich dazu, sie telefoniert gerade mit den Eltern von Anna Helwig“, eröffnete die Kommissariatsleiterin die Einsatzbesprechung.
Thorsten stellte die bisherigen Erkenntnisse aus der Soko Pelikan vor und blickte in eher skeptische Augen, als Hans Wiener, ein älterer erfahrener Ermittler, das Wort ergriff. „Thorsten, nur weil du glaubst, dass im Novotel am Wochenende eine Hochzeitsmesse war, geht ihr davon aus, dass eine junge Frau entführt oder gar getötet wurde? Geht ihr da nicht ein bisschen weit?“
In diesem Moment betrat Kriminalhauptkommissarin Elke Bothe den Einsatzraum, nickte dem OFA-Team zu und legte gleich los: „Ich habe gerade mit dem Ehepaar Helwig gesprochen, den Eltern der Vermissten. Ihre Tochter plante für den Sommer dieses Jahres die Hochzeit mit ihrem Verlobten Victor und war mit ihren beiden Brautjungfern auf der Hochzeitsmesse im Novotel. Sie hatte sich ein Brautkleid ausgesucht und es gleich mitnehmen können. Anna wollte das Kleid kurz bei ihren Eltern deponieren, um den günstigen Schnapper dann mit ihren Freundinnen zu feiern. Die Brautjungfern sind schon zu Fuß nach Hause vorgegangen. Es kam im Anschluss aber weder zu einem geplanten Treffen mit den Freundinnen noch hat Anna ihr Brautkleid bei den Eltern abgegeben. Ihr Verlobter hatte ebenso vergeblich auf ihre Rückkehr gewartet und geglaubt, sie sei mit den Freundinnen versackt.
Nach 18.10 Uhr hatte niemand mehr von ihr gehört. Auf Anrufe ab circa 19.00 Uhr hat Anna nicht mehr reagiert.“
Die Ermittlerin atmete tief durch und setzte fort: „Ich habe Anna Helwig und ihren Seat Leon zur Fahndung ausgeschrieben. Zwei Streifen fahren den Bereich des Hotels ab und prüfen, ob ihr Pkw noch dort abgestellt ist. Ich habe die Personalien des Verlobten und der Freundinnen. Die sollten wir umgehend vernehmen. Das ist unser aktueller Stand.“
Thorsten Büthe ergriff die Initiative: „Okay, es sieht nun ganz so aus, als hätten wir tatsächlich ein gemeinsames Problem.
In den beiden anderen Fällen spielte ein heller Lieferwagen, ggf. mit einer Hermes-Beschriftung eine Rolle. Nehmt ihn bitte mit in die Fahndung auf. Wir brauchen alle möglichen Verkehrsüberwachungsdaten. Kameras, Blitzer, das volle Programm. Priorisiert bitte erst in Richtung Hannover und Celle.
Wir brauchen sämtliche Handydaten aus dem Bereich des Hotels. Wie alt ist ihr Seat? Haben wir eine Chance auf GPS-Ortung?“, warf Thorsten in die Runde.
„Wird veranlasst!“, reagierte Elke Bothe rasch.
Kristin Bäumer ergänzte: „Wer kann das Ausstellerverzeichnis der Messe besorgen? Wer war der Veranstalter? Das Hotel selbst? Ist der Bereich videoüberwacht? Was ist mit dem Parkplatz? Handyfotos und -videos von der Messe? Die Modenschauen, Fotos/Videos von den Besuchern? Haben wir Besucherlisten? Wir brauchen die Verkäuferin des Brautkleides und haben nicht viel Zeit.“
Thorsten wandte sich an die Leiterin der Mordkommission Hildesheim: „Beate, wir gliedern euch an die Soko Pelikan an und treffen uns heute Nachmittag auch mit den Kollegen aus Celle um 15.00 Uhr in der Polizeidirektion Hannover. Dann können wir die einzelnen Maßnahmen koordinieren und haben auch von euch schon erste Ergebnisse. Wäre das okay?“
Nach kurzem Blick der Hildesheimer Chefin auf Elke Bothe und Hans Wiener ordnete sie an: „Okay, ihr habt erst mal Elke und Hans fest im Boot.“
Das Telefon im Einsatzraum klingelte, und Beate Junge nahm ab. „Okay, danke für die Info. Wir schicken den Erkennungsdienst raus. Dann kommt der Pkw zu uns. Danke, gute Arbeit, Jungs.“
Der Blick in die Runde ließ es erahnen. „Die Streife hat ihr Auto im Gewerbegebiet in Drispenstedt geparkt aufgefunden. Der Leon ist ordnungsgemäß verschlossen, von Anna keine Spur“, teilte die Chefin mit.
Thorsten kündigte an: „Wir schauen uns den Abstellort kurz an und ziehen über die A 7 nach Hannover. Wir treffen uns um 15.00 Uhr, bis nachher.“
Das OFA-Team begab sich über das Novotel zum Abstellort des Opferfahrzeuges und musste feststellen, dass dieser Ort nicht nur wenige Kilometer vom Hotel entfernt war, sondern auch direkt auf der Strecke zur Autobahn A7 lag. Sie fanden den Seat Leon entgegen der Fahrtrichtung auf einem Parkstreifen vor.
Kristin stieg sofort in den Analysepart ein. „Wer von beiden ist hierher gefahren? Das Opfer unter Drohung des Täters? Der Täter? Konnte er das Opfer dabei auch unter Kontrolle halten oder war es bereits handlungsunfähig? Wo war sie? Auf dem Beifahrersitz, dem Rücksitz oder im Kofferraum? Wer hat den Abstellort bestimmt? Opfer oder Täter? War es Zufall oder geplant? Hat sich das Opfer hier vielleicht verabredet? Wartete hier eine zweite Person? Ein zweites Fahrzeug? Wurde das Opfer hier möglicherweise umgeladen? Unter Umständen haben wir Glück und die Spurensuche hilft uns bei der Fahrerbestimmung.“
„Heute Nachmittag wissen wir vielleicht schon mehr“, hoffte Thorsten.