Das Analyseteam hatte sich bei der Autovermietung Sixt einen baugleichen Transporter geliehen und fuhr am Abend zum Sheraton Hotel Pelikan Hannover, um das Szenario vor Ort möglichst realitätsnah zu rekonstruieren.
Sie stellten vorerst die etwaigen Anfahrtswege zum Hotel nach und fanden heraus, dass der Täter lediglich zwei Varianten hatte. Er konnte über die Podbielskistraße stadteinwärts nach rechts aus südlicher Richtung direkt auf das Restaurant XII Apostel zufahren, links einschwenken, um die überdachte Hotelvorfahrt zwischen der Lobby und Harry’s New York Bar zu passieren und dann kurz vor dem Eingang des XII Apostel-Restaurants links am Fahrbahnrand parken.
Ebenso war eine Zufahrt über die Günther-Wagner-Allee möglich, die man auch über die Podbielskistraße oder die Constantinstraße erreichte und dann von der Westseite auf das Gelände fuhr.
In der Lobby traf sich das OFA-Team mit der Direktionsassistentin Kira Sievert und ging die Überwachungsvideos noch einmal durch. Selbst drei Stunden vor der Entführungszeit passierte kein Lieferwagen den Kamerabereich. Im Schnelldurchlauf checkten sie den gesamten Tag – nichts. Also musste der Transporter entweder schon viel früher dort geparkt worden sein, oder der Fahrer hatte ihn entgegen der eigentlichen Einbahnstraße dort platziert. Auch auf den noch vorhandenen Videoaufnahmen des XII Apostel-Restaurants ist lediglich die bereits bekannte Abfahrt dokumentiert. Leider zeichnete die Kamera erst ab Öffnung des Restaurants um 17.30 Uhr auf.
Der Täter konnte den Transporter also nur vor 17.30 Uhr geparkt haben, indem er rückwärts, entgegen der Einbahnstraße, gefahren war. Das war hoffentlich irgendwem aufgefallen, der den Fahrer auch ohne Verkleidung beschreiben konnte.
Jetzt musste sich das Team eine wesentliche Hypothese erstellen: Wusste der Täter um diese Umstände der Kameraüberwachung und sogar um die zeitlichen Einstellungen? Hatte er das genauso geplant?
Im Büro von Kira Sievert sah sich das Team die Aufnahmen vom Täter an, als er erstmals in den Erfassungsbereich der Kamera kam und den Kontakt zur Braut und der Trauzeugin aufnahm. Dabei wählte er die entgegengesetzte Seite seines geparkten Transporters.
Das Analyseteam ging nach draußen und Thorsten stellte fest: „Der Täter ist bereits verkleidet und muss den passenden Moment abwarten. Von wo hat er den besten Einblick, ohne selbst aufzufallen? Wo würdet ihr euch platzieren?“
Man verteilte sich. Jeder der Analytiker wechselte die Perspektive mit Blick zu Harry’s New York Bar. Das Überwachungsvideo hatten sie auf einem iPad und ließen es parallel mitlaufen. Kristin brachte ihre Variante vor. „Er ist genau hier in den Kamerabereich getreten. In direkter Verlängerung seht ihr dort den Abgang zu einer Kellertreppe. Ich fände es ideal. Und schaut mal darunter.“ Das Team staunte nicht schlecht, als sie am Boden vor einem Kellerzugang fünf Zigarettenkippen der Marke Marlboro fanden.
Sofort machte Hans Wiener mit der dienstlichen Nikonkamera entsprechende Fotos und sicherte die Kippen einzeln in latente Spurensicherungstüten. Wenn die vom Täter waren, hatten sie vermutlich seine DNA, wobei im Moment noch niemand euphorisch war.
Thorsten ergriff die Initiative und teilte die verschiedenen Rollen ein. „Nina, du spielst die Braut, Carlotta die Trauzeugin. Hans, du bist jetzt der Pelikan. Kristin, kannst du mit der Nikon videografieren?“ Immer wieder den Blick auf das Video im iPad gerichtet, stellte Thorsten seine Schauspieler auf und gab entsprechende Regieanweisungen. Carlotta schickte er als Trauzeugin zurück in die Bar und ließ die Braut mit dem Pelikan locker plaudernd gezielt aus dem Kamerabereich zum geparkten Transporter schlendern.
„Nina, hattest du ein Problem, ohne Argwohn mitzugehen?“, fragte Thorsten die Braut. „Nein, überhaupt nicht, es ist beleuchtet, meine Gäste kann ich durch die Scheibe in der Bar sehen. Es ist mein Abend und die Story des Mannes klingt logisch. Wovor sollte ich Angst haben?“, schätzte Nina die Situation der Braut ein.
„Okay, Pelikan, dann öffne mal dein Verlies und bring deine Braut in den Laderaum, und zwar ohne Schreie und Kampfgeschehen“, gab der Drehbuchautor die Szene vor.
Der Pelikan öffnete die beiden Türen, ließ erst die Braut ein, folgte ihr und schloss die Tür von innen. Nur wenige Sekunden dauerte die Szene. Thorsten klopfte, worauf beide wieder herauskamen. „Und, liebe Braut. Wie war’s da drin?“, hakte Thorsten nach. Nina wirkte jetzt nicht mehr so locker. „Als sich die Türen hinter mir schlossen, war es echt unheimlich. Nun ist dieser Transporter auch noch leer und drinnen war es stockdunkel. Wohlgefühlt habe ich mich drinnen nicht mehr.“
Hans schilderte seine Wahrnehmung. „Ich glaube, es war kein Problem, auf die Braut einzureden, aber dann musste es wirklich schnell gehen. Und ich selbst habe die Hand vor Augen nicht gesehen. Kontrollieren konnte ich mein Opfer so nicht. Ich vermute mal, unser Pelikan hatte Licht auf der Ladefläche und zudem nichts, was die Braut sofort erschreckt hätte.“
Thorsten war zufrieden. „Okay, jetzt habe ich noch eine Bitte. Geht noch mal rein. Simuliert einen Kampf und du, Nina, schreist wie am Spieß.“ Thorsten nahm die skeptischen Blicke aus der Runde wahr und beruhigte das Team lächelnd: „Das Hotel weiß Bescheid und Hanno habe ich auch in Kenntnis gesetzt, sodass wir wohl nicht gleich vom SEK zu Boden geworfen werden.“
Nachdem Nina und Hans die Türen des Transporters hinter sich geschlossen hatten, ging darin die Post ab. Ninas Schreie waren deutlich zu hören, und der Klein-Lkw wackelte, als würde er über eine Buckelpiste fahren. Diese eindrucksvolle Szene wurde videografiert und später den Kollegen vorgestellt.
Dann schlug Thorsten gegen die Hecktür, und die beiden Schauspieler traten außer Atem nach draußen. Hans hatte im Laderaum einen Lichtschalter gefunden und erklärte, dass er ohne Lichtquelle weder irgendeine Orientierung noch eine Kontrolle über das Opfer hatte.
Nun ließ Kristin das Video noch einmal durchlaufen. Allein die Bewegung des Vans und die Schreie waren so deutlich wahrnehmbar, dass sich ein solches Szenario am Tatabend eigentlich ausschließen ließ.
Infolgedessen konnte das OFA-Team eine neue Hypothese aufstellen, die einen Täter beschrieb, der unmittelbare und konsequente Kontrolle über das Opfer hatte, sodass keine lauten Schreie und auch keine körperliche Gegenwehr des Opfers wahrscheinlich waren.
Das im Video des XII Apostel-Restaurants sichtbare ruhige Abfahren des Transporters sprach zudem für eine anhaltende Kontrolle des Opfers – auch während der Fahrt. Wohin auch immer.
Eine Frage ließ sich bislang nicht beantworten: Waren Entführer und Fahrer ein und dieselbe Person oder hatten sie es mit mindestens zwei Tätern zu tun. Derzeit konnten sie keine Variante ausschließen. Eines war jedoch jetzt schon sicher: Der oder die Täter wussten genau, was sie taten, und das sogar sehr effizient, was den Analytikern und Ermittlern echte Sorgen bereitete.
Am nächsten Morgen präsentierte das Analyseteam allen Mitgliedern der Soko die Videosequenzen und ihre Einschätzungen. Die gesicherten Zigarettenkippen wurden umgehend ins Kriminaltechnische Institut (KTI) in die Schützenstraße zur DNA-Untersuchung gebracht.
Auch die Ermittlerteams stellten die Ergebnisse ihrer Befragungen vor, wobei nichts dabei war, was sie weiterbrachte.
Maik und Thomas lieferten grundsätzliche Informationen zur geplanten Öffentlichkeitsarbeit ab und hatten sich mit der Staatsanwaltschaft abgestimmt. Sie waren sich einig, mit den nicht gerade befriedigenden Gegebenheiten noch nicht an die Presse zu gehen und erst die beiden nächsten Analysen abzuwarten. Damit war natürlich ein hohes Risiko verbunden, was sie aber einkalkulieren mussten.