Im Anschluss fuhr das Analyseteam mit dem Leihtransporter nach Fuhrberg. Sie wählten bewusst den Vormittag, um nicht allzu viel Aufmerksamkeit in dem Wohngebiet zu erregen.
Nach erneuter Rekonstruktion der Handy- und Maildaten von Inet Thiel war es äußerst wahrscheinlich, dass dieser Täter (das Team sprach bewusst nicht vom Pelikan) im Vorfeld wohlweislich den telefonischen Kontakt aufgenommen hatte, da ihr Brautkleid bei eBay-Kleinanzeigen inseriert war. Um 16.27 Uhr war ein Anruf beim Opfer eingegangen. Eine Ermittlung der anonymen Rufnummer, die das Handy der Braut im Display zeigte, war den Experten nicht gelungen. Die Entführungszeit war von einer Zeugin aus der Nachbarschaft mit „gegen 17.00 Uhr“ angegeben worden. Aus eigener Erfahrung des OFA-Teams konnte das 16.45 Uhr oder auch 17.15 Uhr gewesen sein. Es ließ sich aber nicht näher eingrenzen.
Das OFA-Team hatte sich bei der Nachbarin angekündigt, um die Rekonstruktion und auch entsprechende Videoaufnahmen aus ihrer geschilderten Perspektive zu fertigen.
Wie am Entführungstag wurde der Hermes-Transporter positioniert. Allerdings war diesmal nicht Thorsten, sondern die Zeugin die Drehbuchautorin, und die Schauspieler agierten nach ihren Angaben. Eigentlich widersprach diese Grundlage einer subjektiven Zeugenaussage der seriösen Methode der Fallanalyse auf primär objektiver Basis, aber was sollten sie machen. Objektiv war hier gar nichts zu erreichen, also ließen sich die Profiler alternativlos darauf ein.
Hans Wiener mimte wieder den Täter, klingelte an der Haustür bei Inet Thiel und Nina trat mit einem Paket unter dem Arm in Hausschuhen heraus. Dann ging sie zu dem Hermes-Boten in den Bereich der geöffneten Hecktüren. Nun war aus dem Haus der Zeugin der Blick auf die Schauspieler versperrt. Sie schilderte, dass sie sich in der Küche anderen Arbeiten gewidmet hatte und nur noch sah, wie das Hermes-Fahrzeug langsam das Wohngebiet verließ. Die Zeugin war davon ausgegangen, dass Inet inzwischen wieder ins Haus zurückgekehrt war. Weitere Angaben konnte man von ihr nicht erlangen.
Thorsten, Kristin und Carlotta verließen das Haus der Nachbarin, um sich mit Nina und Hans am Transporter zu beraten.
Carlotta schätzte die Aussage als authentisch ein. „Die Zeugin wirkte absolut glaubhaft. Es gab kaum Diskrepanzen zu ihren ersten Angaben, und von ihrem Standort aus der Küche konnte sie alles so wahrnehmen. Wie war es aus eurer Sicht, Nina?“, warf sie ihr den Ball zu.
„Unter Berücksichtigung des Anrufes um 16.27 Uhr und der Reaktion der Braut könnte der Täter einen Hermes-Boten angekündigt haben, der nicht nur das Kleid abholt, sondern ihr auch noch den vereinbarten Preis von dem Kunden in bar auszahlt. Wie geil ist das denn? Natürlich freue ich mich über die unkomplizierte Abwicklung und bringe ihm das Kleid sogar noch bis ans Auto. Vielleicht hat er nur gesagt, dass seine Kasse im Wagen ist, und schwups, bin ich samt Kleid im Laderaum. Dann geht’s wieder ganz schnell. Türe zu und weg ist er“, brachte es Nina auf den Punkt.
„Haben wir Angaben zu eventuell zwei Personen? Einem Fahrer und einer Person auf der Ladefläche?“, hakte Carlotta nach.
„Das kann die Zeugin nicht sagen, auszuschließen ist es derzeit nicht“, musste Kristin einschränken. „Allerdings haben wir auch hier keine Hinweise auf Schreie oder ein Kampfgeschehen am oder im Transporter“, ergänzte sie.
Thorsten machte ein nachdenkliches Gedicht. „Was macht der Täter, wenn der Ehemann mit herauskommt oder er das Kleid übergeben will. Was macht er, wenn beide Eheleute auf der Bildfläche erscheinen oder die Braut von einer Nachbarin begleitet wird oder auch draußen steht. Das kann er alles nicht einkalkulieren. Hier hat es zufällig geklappt. Wie seht ihr das?“
Kristin preschte vor: „Thorsten, wo ist das Problem? Im Zweifel muss er das Kleid bezahlen. Glaubst du, dass dieser Täter panisch flieht, wenn es nicht so läuft? Kommt anstatt der Braut der Herr Thiel raus und übergibt am Laderaum das Brautkleid, muss sich der Täter entscheiden, ob er den Bräutigam entführt oder einfach dieses Kleid zahlt und ohne jede Konsequenzen wegfährt. Für ihn zwar dumm gelaufen, aber auch nichts passiert. Mit diesem Modus Operandi trägt er kaum ein Risiko“, schränkte Kristin ein. Das Team nickte anerkennend. „Können wir also auch hier das Resümee ziehen, dass dieser Täter die Tatabfolge voll im Griff hatte und das Opfer so schnell und effizient ohne Schreie und Kampfgeschehen unter Kontrolle brachte wie im ersten Fall?“
Nina nickte. „Da gehe ich voll mit. Aber noch immer wissen wir nicht, ob wir es mit einem oder mehreren Tätern zu tun haben.“