Das Analyseteam musste Zeit sparen und fuhr von Fuhrberg direkt zum Novotel nach Hildesheim, um die dritte Tat zu rekonstruieren.
Hier hatten sie sich mit der Eventmanagerin Heike Dreger verabredet, die sie in den Tagungsbereich des Hotels einwies, in dem immer die Hochzeitsmesse stattfand. Das Viersternehotel in der Hildesheimer Bahnhofsallee ist in ein historisches Gebäude eingebettet, in dem ehemals die Psychiatrie der Hildesheimer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht war. Der moderne Tagungsbereich bietet Kapazitäten bis zu 700 Gästen, wobei bei der Besichtigung der Räumlichkeiten alles wieder fortgeschafft war und sehr kahl aussah. Das OFA-Team versuchte, die relevanten Stände anhand des Ausstellerplans zu rekonstruieren, wobei insbesondere der Stand mit den Hochzeitskleidern und der mutmaßliche Rückweg des Opfers zum Parkplatz den Ausschlag gaben.
Während die Profiler die Wege abgingen und sowohl in die Perspektiven des Opfers und des Entführers sprangen, verfolgte Marina Swodicz die Szenen aus sicherer Fotoentfernung und freute sich über jede Geste der Analytiker, mit denen sie ihre Tatversionen unterstrichen. Die Veranstaltungsleiterin kam auf das Team zu. „Herr Büthe, die Videoaufnahmen der Parkplatzzufahrt liegen jetzt vor. Wir können gern in mein Büro gehen und sie uns anschauen“, bot Heike Dreger an.
Nach den Zeitangaben der Brautjungfern konnte das OFA-Team die Szene des Seats bei der Einfahrt des Hotelparkplatzes schnell finden. Die Fahrerin war zweifelsfrei als Anna Helwig zu identifizieren. Sie saß augenscheinlich allein in ihrem Pkw. Allerdings war nur der Bereich der geöffneten Schranken von der Kamera erfasst. Das Hotel hatte den Gästen der Hochzeitsmesse kostenfreie Parkplätze gewährt, da der Eintritt schon acht Euro kostete. Beim Betrachten der Ausfahrt konnte das Team den Wagen lediglich von hinten sehen. Jemand, der offensichtlich eine Baseballcap trug, saß auf dem Fahrersitz. Weder auf dem Beifahrersitz noch der Rückbank befand sich eine weitere Person. Über diese Kameraeinstellungen war es nicht möglich, den genutzten Parkplatz des Seats nachzuvollziehen.
„Okay, wir haben zumindest die Ein- und Ausfahrt ihres Fahrzeuges. Das ist nicht viel, aber auch mehr als nichts“, ermutigte Thorsten sein Team. „Er wird Anna und ihre Brautjungfern in der Halle beobachtet haben und ihr dann allein mit ihrem neuen Brautkleid bis auf den Parkplatz gefolgt sein“, begann Thorsten hypothetisch.
Kristin setzte fort: „Wir haben keinerlei Hinweise auf ein Kampfgeschehen, keine Schreie, keine Zeugen. Anne hätte ihr neues Brautkleid in den Kofferraum gelegt haben können. Vielleicht kam hier gleich der Angriff, der eine schnelle Handlungsunfähigkeit des Opfers zur Folge hatte. Klappe zu und weg. Das könnte auch die Aufnahme mit einem Fahrer erklären“, schloss Kristin. „Dann ab nach Drispenstedt, Fahrzeugwechsel und weg ist er“, setzte die Psychologin weiter fort.
„Klingt logisch. Dann auf ins Gewerbegebiet“, wies Thorsten sein Team an.
Die Reporterin war begeistert, als sie dem Transporter nun auch noch nach Drispenstedt folgte.
Der Van wurde entgegen der Fahrbahn auf dem linken Parkstreifen abgestellt, und das Team öffnete beide Hecktüren des Laderaumes. Dann luden sie aus einem imaginären Kofferraum das Opfer in den Transporter und taten so, als warfen sie das Brautkleid ebenso auf die Ladefläche. Eine Laptoptasche funktionierte das OFA-Team zu einem Reservekanister um, tränkte den Innenraum des Seats und stieg in den Transporter. „So, jetzt haben wir die Frau handlungsunfähig im Laderaum, ihr Handy und ihren Autoschlüssel vermutlich am Mann. Und jetzt?“, fragte Thorsten in die Runde.
„Er könnte den Seat anzünden, würde aber sofort eine enorme Aufmerksamkeit auf das Auto ziehen. Macht er aber nicht und gewinnt dadurch sogar Zeit. Zumindest das Handy muss der Täter schnellstmöglich loswerden, denn das Risiko einer Ortung ist zu groß. Den Leon benötigt er ebenfalls nicht mehr, auch der Schlüssel ist für ihn irrelevant. Wo konnte er beides schnell und effektiv loswerden?“, stellte Nina in den Raum.
„Dieser Bereich, samt Gullys und allen Papierkörben, ist vollständig abgesucht, hier war nichts“, klärte Hans auf und ergänzte: „In der Nähe ist gleich der Müggelsee. Könnte er die Sachen dort entsorgt haben?“
Thorsten blickte in fragende Gesichter und stellte dann klar: „Mag sein, das können wir im Moment aber nicht überprüfen. Es gibt auch noch Tausend andere Möglichkeiten. Das stellen wir erst mal zurück. Gibt es noch Fragen?“
Als alle den Kopf schüttelten, steuerte Hans den Transporter auf die Autobahn in Richtung Hannover und fädelte sich in den Feierabendverkehr auf der A 2 ein. Hier fiel der Mini der Reporterin, der ihnen weiter am Hacken klebte, nun überhaupt nicht mehr auf.
Marina war schon gespannt, wie Thorsten Büthe auf ihren Anruf und die Bitte reagieren würde, ein Statement zu den Entführungsfällen abzugeben.
Durch das Interview über die Methoden der OFA hatte Marina Swodicz die Handynummer von Thorsten, der überrascht war, als er auf dem Beifahrersitz des Vans ihren Namen in seinem Display aufleuchten sah. „Hallo, Frau Swodicz, das ist ja eine Überraschung. Was kann ich für Sie tun?“, begrüßte er die Reporterin abwartend.
„Hallo, Herr Büthe, ich dachte, es ist mal wieder Zeit für ein Interview“, trällerte die Reporterin in den Hörer.
„So lange ist das letzte doch gar nicht her“, versuchte sich Thorsten herauszureden.
„Keines über die allgemeine Arbeit der OFA. Ich meine ein aktuelles Interview zu den Entführungsfällen“, forderte Marina Swodicz direkt ein.
Thorsten versuchte sich dumm zu stellen, wusste aber ganz genau, dass er bei ihr damit nicht den Hauch einer Chance hatte. „Welche Entführungsfälle meinen Sie?“ Marina lachte laut und war beleidigt.
„Wir hatten so ein tolles Interview, und ich hatte geglaubt, dass Sie meine Kompetenz realistisch einschätzen würden. Da bin ich jetzt aber enttäuscht.“ Thorsten wagte einen letzten Versuch, obwohl er eigentlich wusste, dass er schon verloren hatte.
Die Reporterin legte den Finger in die Wunde: „Ich spreche vom Pelikan-Gelände, von Fuhrberg, dem Novotel in Hildesheim und dem Gewerbegebiet in Drispenstedt.“
Thorsten stutzte, als Marina noch einen drauf setzte: „Ach, Herr Büthe, auch von einem hellen Transporter als Tatfahrzeug.“ Als er hinter sich ein wiederholtes Aufblitzen einer Lichthupe sah, wusste er, dass sie gerade ein Riesenproblem im Nacken hatten.
„Hallo, Frau Swodicz, willkommen auf der A 2“, begrüßte er die Verfolgerin.
„Hallo, Herr Büthe, ich will doch nur fair sein. Ist es nicht besser, Sie sagen mir einiges zu dem Fall, bevor ich mir aus meinen bisherigen Beobachtungen und folgenden Interviews meine eigene Geschichte schreibe?“, bot sie einen Deal an.
Thorsten Büthe gab sich geschlagen. „Okay, in einer Stunde in meinem Büro?“ Marina hatte gewonnen. „Super, bis gleich“, verabschiedete sie sich zufrieden.
Solche Pressegespräche erfolgten eigentlich über die Pressestelle in enger Abstimmung mit der Leitung der Soko oder der Staatsanwaltschaft. Diese Zeit hatte Thorsten an diesem Abend nicht mehr. Er hoffte, dass sich die Reporterin auf ein erstes Sondierungsgespräch einließ und nicht gleich vorpreschen wollte. Marina Swodicz war zwar für die Rubrik Gesellschaft, also eher Klatsch und Tratsch, zuständig, wobei Thorsten sie in den Gesprächen zum Interview über die OFA als äußerst sympathisch und auch verlässlich kennengelernt hatte.
In gewohnt dynamischer Weise betrat Marina Swodicz das LKA. Sie war klein und drahtig, dabei aber durchaus attraktiv, wobei sie genau wusste, wie sie ihre langen blonden Haare, den Dackelblick und die Mimik ihres dezent geschminkten Schmollmunds einsetzen konnte.
Maik Holzner kannte die Klatschreporterin schon aus seiner Zeit als Pressesprecher und beschrieb sie als einen sympathischen Flummi, dessen Sprungenergie allerdings nie nachließ.
Mit genau diesem Elan kam sie auf Thorsten zu und begrüßte ihn freundlich. „Mensch, Herr Büthe, das ist toll, dass Sie es so kurzfristig möglich gemacht haben. Wer hätte das gedacht, dass wir nach dem Interview nun auch noch gemeinsam an spannenden Fällen arbeiten?“, versuchte sie den OFA-Leiter aus der Reserve zu locken.
„Hallo, Frau Swodicz, so ganz freiwillig bin ich ja gerade nicht hier und für eine Kooperation, an welchen Fällen auch immer, hat jeder von uns beiden seine eigene Spielwiese mit anderen Spielkameraden“, konterte Thorsten freundlich.
„Was genau kann ich denn für Sie tun?“, versuchte sich Thorsten langsam anzunähern. Marina Swodicz warf ihr blondes Haar zurück und kam gleich zur Sache. „Ich mache es kurz. Ich habe Sie heute den ganzen Tag über begleitet und weiß über die Fälle in Fuhrberg und Hildesheim im Novotel und Drispenstedt Bescheid“, wobei sie ihre Kamera zückte und zum Beweis einige Fotos der Rekonstruktionsszenen vorzeigte. „Bitte sehen Sie es als eine Art Vertrauensbeweis, dass ich nicht losgehe und morgen früh meine Superstory veröffentliche. Ich würde gern mit Ihnen gemeinsam an einem Strang ziehen, um uns gegenseitig die Bälle zuzuspielen. Dabei bleibe ich auf meiner Spielwiese und werfe nur den Ball zurück, den Sie mal in unsere Richtung schießen. Wäre das ein Deal?“, schlug Marina Swodicz vor.
Thorsten konnte eine solche unmittelbare Kooperation mit einer Pressevertreterin nicht eingehen. Die Information der Medien war in der Polizei klar geregelt und sämtliche Medienvertreter müssen die gleichen Informationen erhalten. Marina Swodicz war zudem Profi genug, das genau zu wissen. Es war Thorsten aber auch klar, dass die Abweisung der Reporterin und eine unreflektierte Berichterstattung nicht nur die Ermittlungen, sondern auch potenzielle weitere Opfer gefährden konnten.
„Frau Swodicz, okay, ich nagele Sie jetzt fest und baue auf unser gegenseitiges Vertrauen. Ich gebe Ihnen die Info zu den uns bislang bekannten Fällen, wenn Sie mir zusagen, bis zu unserer offiziellen Pressekonferenz die Füße stillzuhalten. Ich werde dann auch Ihre Kollegen auf Stand bringen und sie alle bitten, uns mit ihrer Arbeit aktiv zu unterstützen. Wir hingegen sagen Ihnen zu, sämtliche vertretbaren Informationen unmittelbar offenzulegen. Alles andere könnte die Leben der aktuellen oder gar neuer Opfer gefährden. Kann ich mich darauf verlassen?“, forderte der OFA-Leiter ein.
„Dann haben zumindest wir einen Deal, wobei ich Ihnen auch zusagen kann, dass sich nicht alle Kollegen daran halten werden“, warnte sie.
„Das ist mir bewusst, aber vielleicht können Sie untereinander einen gewissen Einfluss nehmen, dass die Anzahl derer, die unsere Ermittlungen behindern oder gar gefährden, so gering wie möglich bleibt“, bat Thorsten die Reporterin.
Marina Swodicz hielt Thorsten die Hand hin. „Okay, meine Unterstützung haben Sie.“
Bevor Thorsten einschlug, musste er die Absprache einschränken. „Sie wissen, dass ich das mit der Behördenleitung und der Staatsanwaltschaft abstimmen muss, wobei ich dabei aber optimistisch bin.“ Die beiden schüttelten sich einvernehmend die Hände. Anschließend brachte der Profiler die Reporterin auf den Stand, den er ermittlungstaktisch vertreten konnte.
„Wow, das ist ja krass“, staunte Marina Swodicz. „Hat es solche Fälle schon mal gegeben?“, hakte sie nach.
Thorsten erklärte ehrlich: „Die Analysen laufen noch, aber bislang habe ich so etwas auch noch nicht erlebt.“
Nachdem sich die Reporterin verabschiedet hatte, war Thorsten über den Verlauf des Gespräches zwar zufrieden, wusste aber auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann die erste Info über Bekannte, Kollegen der Opfer oder wen auch immer in die Öffentlichkeit gelangte. Dem mussten sie unbedingt zuvorkommen.