Das OFA-Team von Kristin Bäumer mit Maik Holzner, der Psychologin Carlotta Bayer-Westhold und den Ermittlern Elke Bothe, Karl Münter und Cord Brammer hatte sich am Fährhafen mit dem Feuerwehrchef Christian Kieslich verabredet. Kristin und Christian kannten sich bereits. Die OFA hatte vor zwei Jahren auf der Insel zu tun gehabt. Schon die Fähre war derart proppenvoll, dass sich die Beamten wunderten, was auf dieser eigentlich beschaulichen Insel so los war.
Der Feuerwehrchef klärte die Festlandpolizisten auf. „Mensch, Leute, an diesem Wochenende ist auf Spiekeroog das legendäre Schlagballturnier des Internats Hermann-Lietz-Schule. Wir haben hier die nächsten Tage locker 5.000 Touristen auf der Insel. Und jetzt kommt das Problem: Wir haben weder ein Hotel noch eine Pension für euch. Selbst der Campingplatz ist völlig ausgebucht.“ Kristin ahnte, was kommen musste, sie hatten bei dem letzten OFA-Einsatz die selbe Schwierigkeit gehabt. „Ich kann euch zwei Mannschaftszimmer im Feuerwehrgerätehaus anbieten. Ein bisschen spartanisch, aber besser als in den Dünen schlafen, und mit einigen friesischen Gutenachtgetränken geht das recht gut“, schlug Christian vor. Alle waren einverstanden.
Spiekeroog ist eine autofreie Insel, selbst der Inselsheriff, Polizeihauptkommissar Andreas Basler, kann seine Verfolgungsfahrten nur auf seinem E-Bike vornehmen. Lediglich Feuerwehr und Rettungskräfte verfügen hier über entsprechende Fahrzeuge.
So hatte der Feuerwehrchef seinen knallroten VW Amarok am Fähranleger geparkt, um das Soko-Team samt Gepäck zu transportieren. Kristin zog eine Augenbraue hoch und schlug das Angebot zum Teil aus. „Das ist lieb gemeint, Christian, aber wir wollen uns erst mal unauffällig auf der Insel bewegen, da wäre eine Show auf der Ladefläche des knallroten Gefährts ein wenig too much. Wenn du das Gepäck rüberfahren könntest, wären wir dir total dankbar“.
Christian reagierte ein wenig eingeschnappt. „War ja nur ein Angebot. Mir sagt hier doch keiner was. Aber wenn ihr nicht auffallen wollt, ist das okay. Dann sehen wir uns in einer halben Stunde mit Andreas im Gerätehaus. Bis gleich.“
Die OFA hatte den Inselsheriff, wie ihn die knapp 750 Insulaner gern nannten, vor drei Jahren auf Spiekeroog kennengelernt. Damals war das Profilerteam bei einer Tathergangsrekonstruktion auf der Insel von der äußerst kompetenten Tatortaufnahme des Polizeihauptkommissars Andreas Basler positiv überrascht gewesen. Er hatte vorher in Hannover seine Arbeit beim Verkehrsunfalldienst verrichtet und daher den Tatort aufgenommen wie einen schweren Verkehrsunfall – wirklich gut.
Andreas war der einzige Polizist auf Spiekeroog und konnte auf kein Team zurückgreifen, auch nicht, wenn es mal brenzlig wurde. Dann musste die freiwillige Feuerwehr aushelfen. Den Polizeidienst auf einer Nordseeinsel konnte man mit dem Stress auf dem Festland überhaupt nicht vergleichen. Einerseits hatte der Inselpolizist keine festen Dienstzeiten und war rund um die Uhr ansprechbar, andererseits galt er auch als feste Komponente der Insel, wobei die Einheimischen und auch er sich niemals als Insulaner sehen würden. Dennoch war er ein Teil von ihnen und musste sich den örtlichen Gepflogenheiten und Ritualen auf der Insel langsam anpassen, was ihm und seiner Frau, die das Inselkino betrieb, aber nicht schwerfiel.
Als sich die Festlandpolizisten mit dem Inselsheriff und dem Feuerwehrchef im Besprechungsraum des Gerätehauses trafen, nahm Kristin den Inselpolizisten zur Seite. „Dein Feuerwehrkollege ist ein total netter Kerl, aber was wir hier zu besprechen haben, ist und bleibt Polizeisache. Sagst du es ihm oder soll ich das machen?“
Der Inselsheriff lächelte die Profilerin an. „Das mag bei euch in der großen Stadt klappen, hier nicht. Wenn wir Christian ausschließen, bekommen wir kein Bein an die Erde. Ich habe drei Jahre gebraucht, um mir das Vertrauen auf dieser Insel zu erarbeiten und Christian hat mir nicht nur einmal den Arsch gerettet. Das lasse ich mir nicht kaputtmachen. Wenn einer weiß, was auf der Insel los ist, dann er. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer und, egal was hier in den nächsten Tagen passiert, wir brauchen ihn und ihr schon lange“.
Kristin sah in die zustimmenden Gesichter der Kollegen und nickte. „Du hast vermutlich recht. Hol ihn bitte dazu.“
Kristin begrüßte die kleine Runde, zu der sich einige junge Kollegen der Observationskräfte aus Aurich dazugesetzt hatten.
Nach Einweisung in den aktuellen Ermittlungsstand eröffnete Kristin dem Inselsheriff und Leiter der Feuerwehr, dass vor Kurzem im Inseldorf eine kleine Kneipe „Watt nu“ eröffnet hatte, die von einer jungen Frau aus Norden geleitet wurde. Diese Susi Hansen hatte Kontakte ins Drogenmilieu, aber die echten Inhaber und Investoren sollten Vanja Radov und Boris Kalandev sein. Es wird daher vermutet, dass über das „Watt nu“ Drogen auf der Insel in Verkehr gebracht werden könnten und vielleicht auch die Prostitution gefördert werden soll.
Der Feuerwehrchef lachte laut auf und schlug sich auf die Schenkel. „Prostituierte auf Spiekeroog? Was meint ihr, was Erna mit Hinnerk macht, wenn er im Inseldorf in den Puff geht. Ich kann nicht ausschließen, dass unsere Touristen auch mal einen Joint rauchen, aber Drogendealer auf unserer Insel? Das geht mir zu weit.“ Die Augen der Beteiligten richteten sich auf den Inselsheriff, der sich berufen fühlte, die Meinung seines Vertrauten zu bestätigen. „Wir haben keinerlei Ansatz, so etwas zu vermuten. Wenn die Insulaner das mitkriegen, würden sie die Dealer kopfüber ins Watt stecken. Hier haben wir so was nicht.“
„Willkommen in der heilen Welt, oder wie? Überall um euch rum passieren solche Dinge, nur auf eurer Insel nicht? Wo lebt ihr eigentlich?“, entfuhr es Kristin.
„Wir sitzen hier zusammen, um genau das aufzuklären, und können uns dann Gedanken machen, wie wir und vor allem ihr dann damit umgeht. Wir müssen primär eine Serie von Entführungsfällen aufklären und hoffen, dass die vermissten Frauen noch am Leben sind. Wir haben also nicht viel Zeit und die sollten wir jetzt vernünftig nutzen“, ergänzte Maik Holzner.
„Okay“, lenkte der Inselsheriff ein, „Christian, kennst du diese Susi Hansen aus Norden? Hattet ihr schon einmal Kontakt? Ist sie vom Fach?“, hakte Andreas Basler nach.
Der Feuerwehrchef war ebenso Inhaber eines Restaurants und einer Pension, sodass er die Gastronomieszene auf der Insel sehr gut kannte.
„Diese Susi ist eine junge blonde Puppe Mitte zwanzig. Sie hat im Norden gekellnert, hatte aber sicher noch nie einen eigenen Laden. Woher sollte sie auch die Kohle haben, um hier auf der Insel zu investieren. Mit den Abstandszahlungen an den alten Inhaber und den Renovierungsarbeiten kommt sie mit Sicherheit auf locker 200.000 Euro. Ihr habt ja recht. Das macht selbst mich stutzig“, gab der echte Insulaner zu. „Okay, ich werde mal unauffällig Augen und Ohren öffnen“, versprach er.
So teilte sich das Ermittlerteam die Arbeit und machte sich auf den Weg in die Kneipenszene des Inseldorfes, wobei das berüchtigte „Old Laramie“ in den Dünen am Westend auch nicht fehlen durfte.