Das Team aus Kühlungsborn nahm die erste Fähre um 7.10 Uhr und wurde vom Feuerwehrchef mit dem roten Amarok am Anleger empfangen. Christian begrüßte den OFA-Leiter mit den Worten: „Hallo, Thorsten, das hätte ich auch nicht gedacht, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen. Steig vorne mit ein, die anderen Kollegen bitte auf die Ladefläche. Macht schnell, ihr seid schon im Fokus der Kameras.“ Es waren unzählige Fernsehteams auf dem Weg, die allerdings auch erst jetzt mit der ersten Fähre übersetzen konnten. Spiekeroog war nicht nur autofrei, sondern auch die einzige bewohnte ostfriesische Insel ohne eigenen Flugplatz. Wohl aber gab es für Notfälle einen Hubschrauberlandeplatz am Hafen, jedoch hatten die anfragenden Fernsehsender keine Landegenehmigung erhalten. Sie war lediglich nur Rettungs- und Polizeihubschraubern vorbehalten.
Die Einsatzkräfte der Auricher Mordkommission, der Spurensicherung und zwei Rechtsmediziner aus Oldenburg waren mit einem Polizeihubschrauber auf die Insel geflogen worden und hatten bereits ihre Arbeit vor Ort aufgenommen.
Das „Watt nu“ war für die Polizei fachlich ein Mordtatort. Hier waren zwei Menschen durch Schüsse aus einer Polizeipistole zu Tode gekommen, was objektiv wie jedes andere Tötungsdelikt behandelt wurde. Es lag in der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ob hier bloß ein Todesermittlungsverfahren oder ebenfalls ein Strafverfahren wegen eines Tötungsdeliktes gegen Cord Brammer eingeleitet werden sollte. Seine Dienstpistole wurde als mutmaßliche Tatwaffe sichergestellt. Entsprechende Vergleichsuntersuchungen der Projektile aus den Körpern der Toten mussten mit Munition und Dienstwaffe gegenübergestellt werden, um zu prüfen, ob die Bulgaren tatsächlich mit der Polizeipistole erschossen worden waren. Nach den Ermittlungen der Mordkommission und der juristischen Bewertung der Staatsanwaltschaft konnte entschieden werden, ob gegen den Kriminalbeamten Anklage erhoben werden würde oder ob er sich auf eine Notwehr- oder Nothilfesituation berufen konnte. War die Schussabgabe auf die Bulgaren unabdingbar gewesen, um eine Lebensgefahr für ihn oder die eingesetzten Kollegen abzuwenden, rechtfertigte das einen Schusswaffeneinsatz, was die ersten Befragungen der Einsatzkräfte auch so ergeben hatten.
Das war allerdings nur die juristische Betrachtung. Cord Brammer hatte eine lebensbedrohliche Extremsituation aushalten und in Sekundenbruchteilen über das Leben seiner Angreifer entscheiden müssen. Eine solche traumatische Erfahrung geht an niemandem spurlos vorbei. Gerade bei Spezialeinheiten werden solche Situationen einstudiert, um schnell reagieren zu können. Der psychische Umgang nach einem solchen Erlebnis lässt sich jedoch nicht trainieren. Jetzt wurden eine Nachsorge dieses Ereignisses und entsprechende Betreuungsmechanismen angeschoben, die mit Cord Brammer abzustimmen waren.
Mit seinem Chef, Steffen Lange, war noch in der Nacht vereinbart worden, dass Cord von seiner Kollegin Astrid Wegner aufs Festland begleitet werden sollte. In Neuharlingersiel würden die Celler Kollegen beide am frühen Morgen abholen.
Auf diese Weise war Cord erst mal aus der Schusslinie und konnte entsprechend betreut werden.
Im Besprechungsraum der Feuerwehr traf Thorstens Team auf die Beamten der Mordkommission Aurich und das zweite Team seiner Kollegin Bäumer, die den Anwesenden den Ablauf des gestrigen Abends schilderten.
Nachdem alle im Bilde waren, reihten sich die beiden Oldenburger Rechtsmediziner Doktor Sandra Asthoff und Doktor Andreas Hallmann in die Runde ein und stellten den Ermittlern und dem OFA-Team das erste Ergebnis der rechtsmedizinischen Leichenschau am Tatort vor.
Vanja Radov war durch einen Schuss in die Stirn und Boris Kalandev durch zwei Einschüsse in den Oberkörper getötet worden, wobei sie bei Letzterem auch noch eine Schusswunde im linken Oberschenkel feststellen konnten.
Die Leichen wurden in die Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover – Außenstelle Oldenburg – gebracht. Die Obduktion war für 13 Uhr angesetzt worden.
Thorsten richtete seine Aufmerksamkeit auf Kristin und schlug seiner Kollegin vor, an der Sektion teilzunehmen und sie fotografisch zu dokumentieren. Als sich Thorstens und Maiks Blicke trafen, musste der OFA-Leiter über den Dackelblick seines Kollegen schmunzeln und ergänzte: „Maik, du könntest Kristin ja begleiten“, was dieser mit einem Strahlen und dem erhobenen Daumen gut gelaunt kommentierte.
Maik war in seiner wenigen Freizeit Bandleader einer bekannten Rockband in Hannover und hatte die gleiche Affinität auch bei Doktor Sandra Asthoff entdeckt, die mit ihrer Band auch mal im Arztkittel auf der Bühne rockte. So hatten sie zumindest am Rande oder nach der Obduktion noch ein angenehmeres Thema, was insbesondere für einen weiteren fachlichen Austausch untereinander nicht abträglich war.
Auch Doktor Andreas Hallmann kannte das OFA-Team bereits aus der MHH in Hannover, wo er zuvor gearbeitet hatte.
Die Tatortbeamten hatten noch lange im „Watt nu“ zu tun und werteten über die Lage der Hülsen und die Einschüsse in die Theke sowie die Schussverletzungen der Bulgaren die möglichen Schussrichtungen und -entfernungen aus, um den Ablauf exakt rekonstruieren zu können.
Barbetreiberin Susi bestätigte bei ihrer Vernehmung die Vermutung, dass die Bulgaren jugendliche Besucher in der Hochsaison über das „Watt nu“ mit Drogen versorgen wollten. Von Entführungen junger Frauen oder gar Bräuten hatte sie nie etwas gehört. Sie wusste, dass die Bulgaren auch an mehreren Bordellen und Laufhäusern beteiligt gewesen waren, aber dass sie Frauen entführt haben sollten, um sie dann auf den Strich zu schicken, konnte sich Susi überhaupt nicht vorstellen.
In Windeseile hatte sich bei der Pressemeute herumgesprochen, dass die Einsatzzentrale im Feuerwehrgerätehaus untergebracht war, welches infolgedessen komplett belagert wurde.
Die Ermittler hatten keine Chance, dort unbehelligt herauszukommen.
Thorsten versuchte auszubrechen. „Christian, wie viele Ausgänge gibt es hier?“, sprach er den Feuerwehrchef an. Der runzelte die Stirn. „Insgesamt vier. Den Haupteingang, den ich euch im Moment nicht empfehlen würde. Die Tore für die Einsatzfahrzeuge, die machen beim Aufziehen einen Riesenkrach, und zudem werden die Warnlichter aktiviert. Mit dem Hintereingang rechnet die Meute eh. Ich würde euch die Feuertreppe aus dem Obergeschoss empfehlen. Ihr kommt dann an der Seite in den Dünen raus und müsst nur noch einen Bogen schlagen. Das könnte klappen“, empfahl der Insider.
Thorsten hatte einen Plan. „Okay, folgender Vorschlag: Andreas, du als zuständiger Inselsheriff und der Leiter der Mordkommission Aurich gebt am Haupteingang ein Statement zu einem Drogeneinsatz im „Watt nu“, in dem zwei Dealer durch Spezialeinsatzkräfte tödlich verletzt worden sind. Die Lage ist geklärt, niemand auf der Insel muss sich weitere Sorgen machen. Auf keinen Fall darf das mit unserem Fall und den Brautentführungen in Zusammenhang gebracht werden. Auch unsere Anwesenheit muss dabei komplett rausgehalten werden. Während ihr in die Kameras sprecht, machen wir uns über die Nottreppe und die Dünen aus dem Staub. Ist das in Ordnung für euch?“ Die angesprochenen Kollegen nickten und wünschten Thorsten und seinem Team viel Erfolg.
Als zuerst der uniformierte Inselpolizist vor dem Leiter der Mordkommission Aurich nach draußen trat und eine Stellungnahme signalisierte, kamen die Reporter und Kameraleute zusammen, um die ersten Informationen abzufangen. Das OFA-Team nutzte die Phase, um sich unentdeckt über die Nottreppe aus dem Obergeschoss abzusetzen. Sie blickten nach draußen, die Luft war rein.
Unten angekommen, hörte Thorsten verzweifelt eine ihm nicht unbekannte Stimme. „Hallo, Herr Büthe, wie gut, dass ich Sie schon kennengelernt habe. Ich kann immerhin Ihre Gedanken lesen und könnte doch eigentlich bei Ihnen mitarbeiten, oder?“, dabei grinste Marina Swodicz triumphierend, als hätte man ihr gerade den Medienoskar verliehen. Ihr Kameramann hielt diese Szene überflüssigerweise auch noch fest. Jetzt war allerdings weder Zeit für Diskussionen noch Erklärungen vor Ort. „Frau Swodicz! Kamera aus und mitkommen!“, fuhr er sie an. Die Reporterin gab ihrem Kameramann ein kurzes Zeichen, und beide beteiligten sich an der Flucht des OFA-Teams.
Sie schlugen einen Haken, überquerten die Noordertün in Richtung Inseldorf und gingen über den Noorderpad zum Café Teetied, in dem Thorsten die Klatschreporterin bei einem leckeren Friesentee mit Kluntje auf den aktuellen Ermittlungsstand brachte, den er vertreten konnte. Thorsten setzte weiterhin auf die Vertrauenszusage, die sie ihm noch in Hannover gegeben hatte. Marina Swodicz zwinkerte Thorsten an. „Geht klar, wenn Sie mich nicht wieder vergessen, wie hier auf der Insel.“ Feist, aber sie hat’s drauf, dachte Thorsten.
Das Profilerteam setzte mit der nächsten Fähre aufs Festland über, wobei Kristin und Maik direkt nach Oldenburg in die Rechtsmedizin fuhren.