Astrid und Cord arbeiteten schon mehrere Jahre zusammen und hatten sich auch private Baustellen anvertraut.
Nach seiner gescheiterten Eheschließung hatte Astrid ihm langsam wieder auf die Beine geholfen, wobei zwischen ihnen nie mehr gelaufen war.
Sie saßen auf dem Oberdeck der Fähre nach Neuharlingersiel, und der sonst so selbstbewusste und toughe Cord starrte wortlos auf das Wattenmeer.
„Du hast alles richtig gemacht. Wer weiß, wen die beiden noch verletzt oder gar getötet hätten, wenn du nicht geschossen hättest“, versuchte Astrid das Schweigen zu durchbrechen. Keine Reaktion.
Astrid ließ nicht nach. „Dir wird niemand einen Vorwurf machen. Die Ermittlungen werden bestätigen, dass du handeln musstest und gar keine andere Wahl hattest als zu schießen.“
„Im Moment bin ich Beschuldigter von zwei Tötungsdelikten. Meine Waffe ist als Tatwaffe sichergestellt, und ich werde bestimmt aus der Soko fliegen, vielleicht auch aus der Mordkommission. Ich kann mir schon die Sprüche der Kollegen vorstellen: Da war unser Rambo mal wieder überengagiert und so weiter“, vermutete Cord. „Und das Schlimmste ist, dass wir dadurch nicht einmal erfahren, was mit den entführten Bräuten passiert ist und wo wir sie finden. Wie wollen wir jetzt wissen, ob sie überhaupt noch leben?“, resignierte er.
Astrid versuchte weiter ihren Kollegen aufzubauen. „Cord, wir haben die Entführungstäter gestellt und dadurch weitere Opfer verhindert. Wir müssen jetzt gemeinsam am Ball bleiben und mögliche Orte ermitteln, an denen die Bulgaren die Bräute festgehalten haben. Lass uns auf der Rückfahrt mit Steffen reden. Ich glaube nicht, dass er dich aus der Moko werfen wird. Wir brauchen dich im Team.“ Unterstützend nahm Astrid ihren Kollegen fürsorglich in den Arm, der seinen Blick aber weiter auf das Wattenmeer richtete. „Das ist zwar lieb von dir und das traue ich Steffen auch nicht zu. Nur wird er diese Entscheidung nicht treffen, sondern die hohe Führung, die vermutlich auch ein politisches Zeichen setzen will. Das kennen wir doch“, fürchtete Cord.
Bei der Einfahrt in den Hafen konnte Astrid ihren Chef, den Leiter der Mordkommission Celle, Steffen Lange, schon erkennen. Er lehnte lässig an der Motorhaube des BMW Touring und winkte seinen beiden Mitarbeitern zu, wobei nur Astrid den Gruß erwiderte, Cord starrte ins Leere.
Am Anleger umarmte Steffen Lange erst Cord, dann Astrid wortlos, bevor er beide erleichtert begrüßte: „Was bin ich froh, dass ich euch gesund in die Arme schließen kann. Was haltet ihr erst mal von einem heißen Kaffee, dann könnt ihr mir in Ruhe alles erzählen?“
Astrid schüttelte den Kopf: „Ich glaube, es ist besser, wir fahren gleich los“, und blickte zu Cord, der weiter in sich gekehrt war.
Steffen Lange hielt Cord die Beifahrertür auf und bat Astrid, hinten einzusteigen.
Im Dienstwagen eröffnete der Kommissariatsleiter einfühlsam das Gespräch. „Cord, um eines vorwegzunehmen, ich habe bereits mit den Kollegen vor Ort und unserer Inspektionsleitung und auch dem Polizeipräsidenten gesprochen. Wir müssen sicher erst die Ermittlungen abschließen, aber derzeit macht dir niemand einen Vorwurf, und ich gehe davon aus, dass es keinen Anlass geben wird, das zu ändern. Kannst du mir aus deiner Perspektive einen Ablauf des Einsatzes schildern? Wäre das okay für dich?“
Cord war hin- und hergerissen. „Fragst du mich das jetzt als kollegialer Freund oder wird das eine Beschuldigtenvernehmung als Dienstvorgesetzter?“, hinterfragte er, was völlig gerechtfertigt war.
Derartige Gespräche müssten unter Wahrnehmung sämtlicher Rechte und Pflichten eines Beschuldigten und des vernehmenden Kriminalbeamten geführt und auch so protokolliert werden. Genau in diesen Rollen waren Cord und sein Chef aktuell. Die offiziellen Ermittlungen wurden allein aus Objektivitätsgründen nicht durch die Dienststelle des betroffenen Beamten geführt, zumal die Mordkommission Aurich auch noch örtlich auf Spiekeroog zuständig war. So viel zur juristischen Theorie.
„Cord, du weißt, dass mir mein Team sehr am Herzen liegt und ich für jeden meine Hand ins Feuer lege. Ich habe im Moment nicht den Ansatz, von dir etwas anderes zu denken, sodass ich dich bitten möchte, mir einfach zu vertrauen“, bat Steffen Lange. Astrid legte Cord eine Hand auf die Schulter und nickte ihm von der Rückbank aufmunternd zu, als er sich zu ihr umdrehte.
Cord bedankte sich für das Vertrauen und schilderte den Einsatz sowie die Schussabgaben aus seiner Sicht. Sein Chef legte ihm eine Hand auf den Unterarm, bedankte sich bei seinem Mitarbeiter für seine Offenheit und sagte: „Cord, du erhältst von mir und dem Team sämtliche Unterstützung, die du brauchst, um das Ereignis zu verarbeiten. Wenn du ein paar Tage oder Wochen eine Auszeit benötigst, nimm sie dir und gib uns ein Signal, wann du bei uns wieder einsteigen willst. Okay?“
Cord war erleichtert und einigte sich mit dem Kommissariatsleiter, zwei Wochen abzuschalten, um dann ins Team zurückkehren zu können.
Steffen Lange klärte alles mit seinen Vorgesetzten, die nach Vorlage der Ermittlungsergebnisse dieser umsichtigen Verfahrensweise bedingungslos zustimmten. Auch die Staatsanwaltschaft in Aurich schloss das Todesermittlungsverfahren ohne jeglichen Vorwurf gegen Cord Brammer ab. Er hatte rechtmäßig von seiner Schusswaffe Gebrauch gemacht, um eine gegenwärtige Lebensgefahr von sich und den eingesetzten Kollegen abzuwenden.