Kapitel 27
Umdisponieren

Der Pelikan hatte die Pressekonferenz ebenso live verfolgt und war amüsiert. Da sind die Experten ja auf dem richtigen Weg, schmunzelte er. Er servierte seinen Hausschweinen Trockenfutter, die das Angebot mit einem beleidigenden Grunzen kommentierten. Obwohl der Pelikan sie mit frischen Innereien versaut hatte, schlangen sie es nach erster Verweigerung gierig herunter. Dann betrat er den Raum mit den nackten und gefrorenen Körpern seiner Bräute, die kopfüber an Fleischerhaken hingen und nach je einem Klaps auf den Po hin- und herschwangen. Nach Verlassen des Kühlraumes verharrte er kurz an einer Garderobe, an der neben seiner Schlachterschürze drei nummerierte Brautkleider geschützt in Klarsichthüllen hingen. Das waren noch viel zu wenige, dachte er sich. Nur konnte er nicht so weitermachen wie bisher. Die Soko sollte sich ruhig erst mit den Zuhältern beschäftigen. Er musste umdisponieren, was ihm aber nicht schwerfallen würde.

Dem Pelikan war ein sehr exklusives Brautmoden­geschäft in Minden an der Bundesstraße 65 bekannt. Ein großer Vorteil, denn Minden lag schon in Nordrhein-Westfalen, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Soko von einem Einbruch in einem anderen Bundesland erfahren und das mit den Entführungen in Verbindung bringen würde, erschien ihm äußerst unwahrscheinlich.

Auf der informativen Homepage hatte sich der Pelikan schon super im Laden orientieren können. Die Kleider waren nach Größen geordnet, sodass er nicht lange suchen musste.

Er stellte sich abends mit seinem Motorrad verdeckt dem Geschäft gegenüber in die Hartungstraße und beobachtete die Beleuchtungssituation. Das Schaufensterlicht wurde Punkt 22 Uhr automatisch abgeschaltet. In den Geschäftsräumen war lediglich eine Art Notbeleuchtung aktiviert. Wie bei älteren Gebäuden auf dem Land durchaus noch üblich, war ein externer Stromkasten draußen am Haus angebracht.

Nach mehrmaligem Ausbaldowern fuhr er nachts gegen 2.30 Uhr mit seinem Transporter an die Lieferantenrampe des Brautmodengeschäftes. Dann schlich er sich an den Stromkasten, öffnete ihn mittels eines großen Schraubendrehers und verursachte einen Kurzschluss. Anschließend vergewisserte er sich, dass nicht nur die Notbeleuchtung von der Störung betroffen war, sondern auch die Lichtschranke der Lieferantentür und drang mit einer Brechstange, einem Kuhfuß, in das Geschäft ein. Gezielt ging er auf die Rollständer der Brautkleider in Größe 36/38 zu und schob zwei komplette Kleiderständer über die Rampe direkt in den weißen Transporter. Er konnte nicht widerstehen, als er an den dunklen Herrenanzügen in Größe 52/54 vorbeikam und gleich zwei davon ergriff. Müsste passen, wägte er ab und hatte zumindest einen der späteren Träger vor Augen. Das wird erst mal reichen, dachte er sich und fuhr gemütlich Richtung Schwarmstedt zurück über die niedersächsische Landesgrenze.

Auf dem Hof drapierte der Pelikan seine Brautkleider akribisch, zog die transparente Schutzfolie darüber und setzte die Nummerierung von vier an weiter fort. Er war zuversichtlich, damit zwanzig geeignete Bräute einkleiden zu können.

Der Pelikan hatte sich für seine Streifzüge noch einen schwarzen VW Passat Variant zugelegt und mit einer polnischen Kennzeichendoublette versehen. Unerkannt durchstreifte er den Bremer und Hamburger Straßenstrich. Daraufhin entschloss er sich, seinen Bedarf zeitnah mit jungen, zierlichen, ausländischen drogenabhängigen Prostituierten zu decken. Die soziale Kontrolle war in dieser Szene nicht allzu sehr ausgeprägt, und wenn er dazu noch die Bundesländer wechselte, dürfte die Häufung, wenn überhaupt, erst spät auffallen.

Ab 0.30 Uhr pendelte der Pelikan in seinem unauffälligen Passat zwischen Holzhafen und Steintor, um eine geeignete Braut zu finden. Er hatte die Szene eine Weile beobachtet und feststellen können, dass die Professionellen untereinander organisiert waren. Entweder notierten sich Beschützer oder Kolleginnen Autokennzeichen oder schossen sogar Handyfotos von den Freiern und deren Autos. Das konnte er gar nicht brauchen.

Sein Beuteschema waren die abgewrackten Drogenprostis, die für den nächsten Schuss alles taten und sich nicht auf die anderen Mädels oder gar die Freier konzentrieren konnten. Für seine Zwecke war ihm der körperliche Zustand seiner Bräute völlig egal. Er musste nur aufpassen, sich nicht mit irgendeiner Krankheit anzustecken.

Plötzlich hatte der Pelikan seine Beute ausgemacht: Eine junge Osteuropäerin mit weißen Stiefeln kam aus der Helenenstraße und bog rechts am Steintor ab. Sie war so zugedröhnt, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Als sie nach rechts in die Grundstraße schwankte, überholte er sie, fuhr an den Fahrbahnrand und sprach sie an: „Blasen für zwanzig? Bist du dabei?“ Die Prostituierte lehnte sich durch das offene Beifahrerfenster und lallte: „Dreißig mit Gummi“, worauf der Freier nickte und sie aufforderte einzusteigen.

Der Pelikan musste ein wenig aus dem Zentrum fahren, was aber kein Problem war, denn sein Opfer schlief fast ein und war alles andere als argwöhnisch. Er steuerte den Passat sicher und unauffällig in Richtung Hafen, als er im Rückspiegel bemerkte, dass ihm ein alter 3er BMW mit Bremer Kennzeichen folgte. Für eine Zivilstreife war die Karre viel zu aufgemotzt. Er konnte jetzt kein Risiko eingehen und sich auf einen Streit mit irgendwelchen Zuhältern oder Dealern einlassen. Also fuhr er einen Bogen zurück ins Steintorviertel, gab der Drogenprosti 30 Euro und ließ sie unter Protest aussteigen. Als er wieder anfuhr, hielten die Typen bei ihr an und rissen ihr die Kohle aus der Hand. Er war froh, dass sie ihn nicht weiter verfolgten, und entschloss sich, für heute abzubrechen und nach Hause zu fahren. Man musste auch mal verlieren können, was ihm allerdings nicht leichtgefallen war.

Als er seinen Passat über den Osterdeich in Richtung BAB 27 lenkte, fing es gerade an stark zu regnen. Am Straßenrand bemerkte er in Höhe des Weserstadions eine junge Anhalterin. Es war schon nach 1.10 Uhr, sein Passat schien das einzige Fahrzeug in diesem Bereich zu sein. Weit und breit war keine Menschenseele unterwegs. Der Pelikan bremste ab, fuhr rückwärts und hielt in Höhe der jugendlichen Person an. „Da haben Sie sich aber ein Schiet­wetter zum Trampen ausgesucht. Wo soll es denn hingehen?“, sprach der Pelikan das Mädchen an.

„Wo müssen Sie denn hin? Ich wohne in Vahr im Deliusweg, das ist direkt beim Golfclub Zur Vahr“, erklärte sie.

„Das passt doch. Ich muss nach Ritterhude und würde eh in Vahr auf die Autobahn fahren. Ich nehme Sie gern mit, bevor Sie komplett pitschnass sind“, bot der Pelikan freundlich an.

Der Anhalterin war zwar nicht wohl dabei, aber sie hatte um diese Zeit und dann noch bei Dauerregen vielleicht keine weitere Chance. Außerdem war der Fahrer sehr sympathisch und musste sowieso in ihre Richtung. Es wird schon kein Serienmörder sein, dachte sie.

„Hallo, ich bin Greta, vielen Dank“, stellte sie sich dem netten Chauffeur vor. Erst jetzt sah der Pelikan, dass sie eine äußerst attraktive junge Frau Anfang zwanzig war, deren schulter­lange braune Haare sich durch die Nässe niedlich kräuselten.

„Was macht eine so hübsche, junge Frau um diese Zeit in dieser Gegend? Haben Sie keine Angst, an den Falschen zu geraten?“, fragte der höfliche Fahrer völlig zu Recht.

„Ich war bei Kommilitonen auf einer Party, und es ist etwas ausgeufert. Ich wollte noch den letzten Bus nehmen, hatte aber die Zeit völlig aus den Augen verloren. Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben“, klärte sie ihn freimütig auf.

Sie fuhren über die Julius-Brecht-Allee nach links direkt am Bremer Polizeipräsidium und einer McDonald’s-Filiale vorbei. An der Ampelkreuzung In der Vahr/Richard-Boljahn-Allee mussten sie während einer Rotphase halten, als der Mann triumphierend nach rechts hinten auf das Polizeigebäude wies: „Schauen Sie mal! Und das direkt vor den Augen der Polizei.“

Greta blickte aus dem Beifahrerfenster zurück zum Präsidium und konnte die Aussage des sympathischen Fahrers überhaupt nicht einordnen, als sie an der linken Halsseite nur noch einen extremen Schlag wahrnahm und sofort im Beifahrersitz zusammensackte.

Der Pelikan steuerte den Passat kurz auf die Richard-­Boljahn-Allee in Richtung BAB 27, die er aber an der Otto-Suhr-Straße rasch verließ. Dann parkte er kurz am Vahrer See und lagerte die hübsche Greta in den geräumigen Koffer­raum des Passats um. Ein weiteres Mal löste seinen Elektroschocker aus, um sicherzugehen, dass sie bewusstlos blieb. Anschließend fesselte er sein neues, spontanes Opfer an Händen und Füßen mit den vorbereiteten Kabelbindern und fixierte wie immer einen Haushaltsschwamm im Mund des Opfers. Das Handy aus der Handtasche der Anhalterin warf er im hohen Bogen in den Vahrer See. Nachdem er das bewusstlose Opfer mit einer Plane abgedeckt hatte, setzte er seine Fahrt über die BAB 27 in Richtung Schwarmstedt fort. Auf der Rückfahrt legte er seine Heavy-Metal-CD ein und war mit seinem spontanen Beutezug äußerst zufrieden.

In dieser Nacht war die Autobahn relativ wenig frequentiert. Der Pelikan fuhr mit 140 Stundenkilometern zügig, aber ohne Hektik und passierte die Raststätte Goldbach Süd, als er im Rückspiegel sah, dass sich eine Streife der Autobahnpolizei Langwedel von der Raststätte in gleicher Geschwindigkeit hinter ihn setzte.

Der Pelikan veränderte seine Geschwindigkeit bewusst nicht und hoffte, dass sie ihn nicht kontrollieren würden. Als ihn die Streife vor der Abfahrt Verden-Nord langsam überholte und beide Autobahnpolizisten prüfend zu ihm herüberschauten, war klar, was kommen musste. Der Beifahrer war über vierzig Jahre alt und machte einen sehr erfahrenen Eindruck. Den Fahrer schätzte der Pelikan auf Mitte zwanzig. Allein seinem Blick war der aktivierte Jagdinstinkt anzusehen. Freundlich blickte der Pelikan zur Streife hinüber. Seine Baseballcap hatte er tief ins Gesicht gezogen. Es nutzte nichts, der silber­blaue Mercedes postierte sich vor den Passat, die Beamten aktivierten die Aufforderung „Polizei – Bitte folgen“ und fuhren rechts auf den Fahrstreifen der Ausfahrt Verden-Nord. Notgedrungen bestätigte der Pelikan das Ersuchen mit dem erhobenen Okay-Daumen und folgte dem Streifenwagen, dessen Beifahrer seine Reaktion über den zweiten Rückspiegel beobachtete.

Der Passat hatte immer noch ein polnisches Kennzeichen. Schon bei der Kontrolle zu den Ausweispapieren des Pelikans hätte es Unstimmigkeiten gegeben. Eine Durchsicht des Kofferraumes mit Blick unter die Decke wären obligatorisch, sodass er sich dieser Inspektion unbedingt entziehen musste.

Eine Flucht vor einem hochmotorisierten Mercedes war aussichtslos, zumal die Beamten sofort Verstärkung von der nahe gelegenen Autobahnwache angefordert hätten. Ihm war bewusst, dass es jetzt nur darum ging, einige Minuten Vorsprung zu erhalten, mehr war nicht drin.

Er ließ den Motor des Passats aufheulen und beschleunigte zurück nach links auf die Autobahn. Da ihn der Beifahrer der Streife die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, war der Pelikan nicht überrascht, dass sich der Mercedes direkt vor ihn setzte, um seinen Wagen zu blockieren. Der Pelikan ging aufs Ganze und rammte die Polizeistreife an der Ecke des linken Hecks, was zur Folge hatte, dass der Mercedes um die eigene Achse schleuderte und in den Grünstreifen der Autobahnabfahrt krachte.

Diese Chance nutzte der Pelikan. Er verließ die Autobahn, gab Gas und schoss mit 120 Stunden­kilometern über die Hamburger Straße in Richtung der Verdener Innenstadt. Vor einem Kreisel musste er abbremsen und war beruhigt, dass ihm noch keine Polizeistreife folgte. Er wusste aber auch, dass hier gleich die Hölle los war. Direkt hinter dem Kreisel sah er ein geöffnetes McDonald’s-Restaurant mit einem McDrive-Schalter. Er fuhr auf den Parkplatz hinter das Restaurant und stellte den Passat an großen Müllcontainern ab. Dann holte er aus dem Kofferraum zwei Reservekanister mit Benzin und goss den kompletten Inhalt über die Decke mit der gefesselten Anhalterin sowie den Fahrerbereich, zündete den Treibstoff an und sprintete zum McDrive-Schalter.

Als er zurückblickte, stand der Passat im Vollbrand.

Am McDrive-Schalter wurde gerade ein BMW mit vier Personen bedient. Der Pelikan hielt sich verborgen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Im Restaurant wurde es hektisch, selbst die Bedienung des Außenschalters lief in den Restaurantbereich, von dem aus man den Fahrzeugbrand besser sehen konnte. Plötzlich wurden in Verden die Sirenen für die freiwillige Feuerwehr aktiviert, und es waren die ersten Martinshörner aus Richtung der Autobahn zu hören. Ein Fiat Ducato fuhr auf den Schalter zu, der aktuell nicht besetzt war. Als er hielt, sprang der Pelikan über die Beifahrertür in den Wagen, bedrohte den Mann mit einem Messer und schrie ihn an: „Fahr los oder ich steche dich ab!“

Der ältere Herr war erstarrt und nicht in der Lage zu reagieren. Erst als der Täter ihm das Messer direkt an den Hals hielt, fuhr er los.

Die ersten Polizeifahrzeuge fuhren hektisch auf den Parkplatz. Mit einem Blick auf den Feuerball konnte man erkennen, dass hier nichts mehr zu löschen war. Der Pelikan befahl dem Fahrer, links in Richtung Autobahn abzubiegen, und versuchte ihn zu beruhigen.

„Ich muss hier nur weg und brauche dich als Taxi. Verhalte dich unauffällig, und ich muss dir nichts tun. Was hast du auf der Ladefläche?“, fragte der Bewaffnete.

„Ich liefere die Zeitungen für die Zusteller aus“, erklärte der Ältere.

„Wird das Fahrzeug per GPS überwacht?“, hakte der Täter nach.

„Guck dir die Karre doch mal an, nicht mal das Radio funktioniert“, rechtfertigte sich der Kurier.

„Gib mir dein Handy!“, forderte der Pelikan, worauf der Fahrer ihm ein älteres Samsung S4 aushändigte. Der Täter entnahm die SIM-Karte samt Akku und warf das Gerät weit aus dem Beifahrerfenster.

„Jetzt auf die Bahn in Richtung Bremen. Du fährst einfach 140 und dir passiert nichts.“ Auf der Hamburger Straße kamen ihnen unzählige Feuerwehr- und Polizeifahrzeuge mit Blaulicht entgegen. Auf den Fiat Ducato achtete allerdings niemand.