Das OFA-Team machte sich erst tagsüber und schließlich in der Nacht ein Bild von den örtlichen Verhältnissen des Wohngebietes, in dem Greta gefeiert hatte. Nach den bisherigen Resultaten der Bremer Ermittlungsgruppe war Gretas Abschied von der Party von außen kaum kalkulierbar. Die junge Frau hatte sich sogar dermaßen verquatscht, dass sie nachts keine Chance hatte, mit Öffis nach Hause zu kommen.
Sie hätte von einem Partygast nach Hause gefahren worden sein können, wofür es aber keinen Hinweis gab. Die Taxizentralen waren überprüft worden, von ihrem Handy ging nach Verlassen der Party außerdem kein Anruf raus. Über die Daten hatte man festgestellt, dass Greta die Funkzelle des Hauses um 1.03 Uhr verlassen und sich in die nächste Funkzelle am Osterdeich begeben hatte.
Die Login-Daten waren auf 1.11 Uhr datiert. „Okay, das spricht eher für einen Fußmarsch. Wäre sie mit einem Fahrzeug mitgenommen worden, wäre sie schneller gewesen“, begann Nina mit der ersten Hypothese.
„Es sei denn, es hatte einen Grund, dass das Fahrzeug so langsam fuhr oder mehr Zeit brauchte. Reinziehen, fesseln und in den Kofferraum bringen“, schränkte Thomas ein.
„In einem Wohngebiet? Glaube ich nicht. Die Gefahr ist zu groß“, konterte Maik.
„Okay, ich spiele mal den Entführer und weiß von der Party. Ich observiere das Haus und hoffe, dass Greta alleine rauskommt und weder begleitet noch von einem Partygast nach Hause gefahren wird. Dann verlässt sie tatsächlich allein die Party, ich schnappe sie mir, verbringe sie in den Kofferraum und fessele oder knebele sie in einer Wohnsiedlung?“, bot Kristin ihre Version an.
„Fesseln kannst du sie später. Hauptsache, du bekommst sie ohne großes Geschrei in den Kofferraum, und das ist doch wohl kein Problem oder?“, warf Carlotta ein.
„Alles richtig, ich habe nur mal wieder dieses berühmte Zufallsproblem. Ich habe die Tochter eines reichen Reeders im Visier, du suchst mir eine Entführungszeit und einen Entführungsort aus, den das Opfer bestimmt und nicht der Entführer. Schläft sie dort, wird sie begleitet oder nach Hause gefahren, habe ich Pech gehabt. Kommt mir ein Hundehalter entgegen, als ich sie gerade abgreifen will, habe ich Pech gehabt. Kann ich sie nicht so schnell unter Kontrolle bringen, sie schreit oder wehrt sich, habe ich wieder Pech gehabt.
Von Zeugen und Anrufen bei der Polizei spreche ich gar nicht. Bei einer geplanten Entführung der Tochter eines Multimillionärs mit anschließender Lösegelderpressung erwarte ich einen vernünftigen Plan und eher auch einen zweiten Täter. Einer fährt, einer bringt und hält sie unter Kontrolle. Dieser Typ hätte hier einfach nur Glück gehabt“, versuchte Thorsten zu begründen.
„Und genau diese Täter haben wir ja nun mal auch. Das kannst du nicht ausschließen“, warf Kristin ein.
Nina fuhr fort: „Ich würde gern an Thorstens Version anknüpfen. Ich war oft in ähnlichen Situationen und musste sehen, wie ich nachts nach Hause kam. Stellen wir uns vor: Bis zum Osterdeich gab es gar keinen Entführer und die Zeitspanne erklärt sich einfach mit Gretas Fußweg zu einer Hauptstraße, auf der um diese Zeit überhaupt noch Verkehr ist. Die Chance, ein Taxi zu finden oder auch per Anhalter mitgenommen zu werden, ist hier am wahrscheinlichsten.“
Thomas hinterfragte völlig berechtigt: „Ist in den Medien überhaupt ein Zeugenaufruf erfolgt, der nach einer möglichen Anhalterin auf dem Osterdeich gefragt hat?“
Kristin klärte die Runde auf: „Nein, und das ist der medialen Zurückhaltung geschuldet. Ich prognostiziere mal, dass ein solcher Aufruf auch nicht erfolgen wird.“
Maik brachte es auf den Punkt: „Dann haben wir unser Opfer als Anhalterin auf dem Osterdeich und somit eine vermutlich zufällige Begegnung von Täter und Opfer. Oder glaubt jetzt noch jemand an die gezielte Entführung einer Anhalterin? Vielleicht ein Taxi ohne Kenntnis irgendeiner Zentrale oder die ganz lapidare freiwillige Mitnahme einer Anhalterin, die froh war, bei Schietwetter doch noch nach Hause zu kommen. Denn um diese Zeit war die Auswahl nicht gerade groß, weder an potenziellen Opfern noch an solchen Tätern. Nur wusste der spätere Täter nicht, wen er da im Auto hatte.“
Thorsten versuchte die Dynamik wieder ein wenig einzubremsen und schränkte ein: „Okay, wir können beides noch nicht ausschließen, müssen aber diese Anhalterhypothese mitnehmen. Als Nächstes haben wir die letzte Handyortung um 1.27 Uhr am Vahrer See. Auf geht’s.“
Auf kürzestem Weg, vorbei am Bremer Polizeipräsidium und dann über die Richard-Boljahn-Allee, erreichte der VW Bulli des Fallanalyseteams die Abfahrt zum Vahrer See. „Versuch bitte so nah wie möglich heranzufahren, Thomas“, bat Thorsten den Fahrer.
„Hier hätte er Greta unter Kontrolle und in den Kofferraum bringen können. Die Handyortung ist in diesem Bereich abgebrochen. Wissen wir, warum? Ausgeschaltet, runtergefahren, plötzlicher Abbruch?“, fragte Carlotta ins Team.
„Das ist uns im Detail nicht bekannt. Wir sollten zudem veranlassen, dass die Funkzelle exakt vermessen wird, um sicherzugehen, dass wir uns hier nicht verrennen. Dennoch sollten wir eine Suche im See nach dem Handy oder auch anderen persönlichen Dingen des Opfers veranlassen“, schlug Kristin vor.
„Wenn wir berücksichtigen, dass Greta mit mindestens drei Kabelbindern gefesselt und sogar mit einer Art Schwamm zusätzlich geknebelt worden ist, hatte der Täter im Passat alles dabei, was er für eine solche Tat benötigen würde. Auch wenn Greta ein Zufallsopfer geworden ist, war unser Täter gut vorbereitet und latent tatbereit“, schloss Nina.
„Wie wir wissen, setzte der Täter seine Fahrt mit Greta auf der A 27 in Richtung Hannover fort, bevor er sich auf die Verfolgungsfahrt einlassen musste. Wo wollte er mit Greta hin und vor allem: Was hatte er mit ihr vor?“, setzte Maik weiter fort.
„Nach Angaben der Autobahnpolizei-Streife fuhr der Fahrer ruhig und wirkte selbst beim Überholen des Polizeifahrzeugs völlig abgeklärt. Die gezielte Kollision hatte genau den richtigen Punkt getroffen, um den schweren Mercedes außer Kontrolle zu bringen. Er hatte das winzige Zeitfenster für einen Vorsprung genutzt und zwei mitgeführte Reservekanister im Wagen über seinem Opfer ausgegossen und skrupellos in Brand gesteckt. Ganz bewusst war er davon ausgegangen, dass die junge Frau qualvoll lebendig verbrennt. Er hatte keinerlei Spuren hinterlassen und konnte trotz einer Großfahndung entkommen. Wie auch immer“, stellte Thorsten dar.
„Sind polnische VW-Passat-Modelle nicht eher Dieselfahrzeuge?“, hinterfragte Thomas skeptisch und sah im Laptop nach. „Tatsache! Der Passat war ein Diesel.“
„Ist das auch ein Zufall, oder hatte der Täter diese Spurenvernichtung mittels Benzin von vornherein geplant?“, warf Carlotta ein.
„Der Typ wird mir langsam unheimlich“, ergänzte die Psychologin.
Das Team startete in Verden von der Autobahn an und parkte in etwa der gleichen Position wie der Passat. „Warum wählt er ausgerechnet diesen McDonald’s-Parkplatz? Er hätte auf dem Weg von der Autobahn in zig Feldwege abbiegen können“, fragte Thomas in die Runde.
„Weil er im Wald ein Riesenproblem gehabt hätte“, versuchte Nina zu erklären. „Der Feuerschein hätte die Einsatzkräfte aufmerksam gemacht und der Bereich wäre abgesperrt worden. Da hätte er nicht mehr wegkommen können. Denken wir an Greta. Sie ist vermutlich dorthin gegangen, wo die Chance am größten war, mitgenommen zu werden. Was Besseres als einen McDrive, der 24 Stunden geöffnet hat, findest du in ganz Verden nicht. Der Typ ist richtig gut“, gab sie fast bewundernd zu, schränkte aber auch ein: „Nur hat er uns in der Soko Pelikan nicht weitergebracht – oder sieht einer von euch irgendeinen Ansatz auf einen möglichen Tatzusammenhang?“
„Gibt es hier keine Kamera beim Drive-in-Schalter? Fehlt das Auto eines Pendlers oder gibt es Hinweise auf Vermisstenfälle?“, fragte Maik.
„Das geht aus den Akten nicht hervor. Die Fahndungsmaßnahmen waren alle negativ. Selbst ein Hubschrauber war schnell im Einsatz. Ein Ring fünf stand sieben Minuten nach Brandentdeckung. Ach ja, die Kamera war defekt“, musste Kristin passen.
„Okay, das war schon mal sehr produktiv, vielen Dank, Leute. Dann bringen wir das alles zu Papier, und ich werde morgen Dirk Junker damit konfrontieren. Er wird sicher nicht begeistert sein. Dann war es halt ein kleiner Exkurs unserer Soko. Auch das ist ein Ergebnis. Fahren wir heim“, schloss Thorsten den anstrengenden, aber erfolgreichen Tag ab.