Kapitel 38
Dynamische Entwicklung

Während der Besprechung meldete sich Dirk Junker aus Verden und teilte der OFA mit, dass die Bremer Polizei die Leiche eines älteren Herrn aus dem Achterdieksee in Bremen geborgen hatten.

Thorsten Büthe war verwundert und hinterfragte die Information fast zynisch. „Was willst du mir damit sagen, Dirk? Hatte der Rentner ein Brautkleid an oder warum ist das für uns interessant?“

„Der Tote hatte zwar kein Brautkleid an, war aber Kurierfahrer und wurde seit der Tatnacht des Fahrzeugbrandes vermisst. Sein letztes Handysignal war im Funkturm nahe von McDonald’s eingeloggt. Dämmert’s?“, recht­fertigte sich der Verdener Moko-Leiter fast genervt.

„Sorry, Dirk, war nicht so gemeint. Spannend für euren Fall, aber wo siehst du den Zusammenhang zu uns?“, blieb Thorsten interessiert, aber weiter zurückhaltend.

„Wir haben seinen Lieferwagen auf einem Parkplatz nahe am Bremer Hauptbahnhof gefunden. Der Tote wird ihn wohl nicht mehr gefahren haben. Im Fahrgastraum war großflächig Dieselkraftstoff verschüttet, und genau das ist der Grund meines Anrufes.“

Plötzlich wurde Thorsten hellhörig. „Ihr vermutet also, dass euer Täter in dem Transporter mit dem Kurierfahrer vom Tatort geflüchtet ist, ihn getötet und in den See geworfen hat? Dann ist er mit dem Lieferwagen bis zum Abstellort gefahren, hat seine Spuren mit dem Dieselkraftstoff überdeckt und dann mit der Bahn Bremen verlassen. Ist das eure Theorie?“, wollte sich Thorsten versichern und hakte nach: „Habt ihr schon eine Todesursache?“, blieb Thorsten jetzt am Ball.

„Das ist ja gerade ungewöhnlich. Er starb an Herzversagen“, stellte Dirk Junker fest.

„Keinen Hinweis auf einen gewaltsamen Tod? Keine Abwehrverletzungen? Nichts?“, fragte Thorsten verwundert.

„Nichts!“, bestätigte der Verdener Moko-Leiter.

„Okay, wo ist der Transporter jetzt?“

„Der ist in der KTU-Halle bei den Bremer Kollegen und wird gerade auf links gedreht. Ein Team fährt momentan die mutmaßliche Fahrtstrecke ab und checkt Videokameras und Blitzer“, erklärte Dirk Junker.

„Wäre das für euch okay, Dirk, wenn wir uns mit einklinken und uns in Bremen treffen?“, bat der OFA-Leiter.

„Das habe ich eh erwartet und kann es sowieso nicht verhindern“, bemerkte Dirk Junker ironisch.

„Sollen wir dich in Verden einsammeln? Wir würden auch gern noch mal die Strecke von McDonald’s zum Achterdieksee und von da aus zum Abstellort des Transporters abfahren. Dann schauen wir uns den Leichenablageort an und würden uns mit dem Obduzenten der Bremer Rechtsmedizin treffen. Kannst du das anschieben?“, bat Thorsten.

„Gern, dann bis nachher“, verabschiedete sich der Verdener Kollege.

„Ach, Dirk, eines noch. Danke! Die mögliche Verbindung zu unserem Täter hätten die wenigsten verknüpft“, lobte Thorsten seinen Kollegen.

Thorsten briefte sein Team und setzte Iris Höppner über die neue Spur und spontane Einsatzfahrt nach Bremen in Kenntnis.

Das komplette OFA-Team hatte sich für Tatortbesichtigungen in der Soko Pelikan einen VW T6 reserviert, mit dem sie den Verdener Moko-Leiter abholten und die mutmaßlichen Streckenvariationen des Kurierfahrers abfuhren. Die Verdener Ermittler konnten über den Arbeitgeber des Kuriers die Zeitspanne der Aufnahme von den auszuliefernden Zeitungen und den nun bekannten Handydaten nachvollziehen. Dieser Strecke folgten sie zu dem betroffenen McDrive, den der Fahrer unmittelbar passieren musste. Die bekannten Zeitfenster bestätigten diesen Streckenverlauf, wobei auch Kollegen der Kurierfirmen erklärten, dass sich Erwin regel­mäßig bei McDrive einen frischen Kaffee geholt hatte.

Als sie den McDrive an der Hamburger Straße in Richtung Autobahn passierten, fielen ihnen auf der Ausfallstraße unzählige geparkte VW Busse der Bereitschaftspolizei (BePo) sowie eine Vielzahl von Einsatzkräften auf einem bewaldeten Grünstreifen auf. „Ach ja, wir haben schon mal die BePo für die Absuche des Opferhandys angefordert. In diesem Bereich verlor sich das Signal. Vielleicht hat es der Täter vom Beifahrersitz aus dem Fenster geworfen. Die ziehen das bis zur Autobahn durch“, erklärte Dirk Junker, wobei ihm Kristin und Thorsten anerkennend zunickten.

Der Verdener Ermittler navigierte das OFA-Team von der Autobahn zum Achterdieksee. Hier waren die Profiler über die Abgelegenheit und die fast versteckte Zuwegung erstaunt. Sie zogen in Erwägung, dass der Täter diesen Bereich gut gekannt haben musste und diesen Weg gezielt ausgewählt hatte.

„Wer, glaubt ihr, ist gefahren? Täter oder Opfer?“, warf Kristin in die Runde.

„Die Zeit und das Risiko, vor der Autobahn anzuhalten, wäre für den Täter aufgrund der Sofortfahndung zu eng und zu groß gewesen. Ich gehe davon aus, er hat den Fahrer bedroht und musste erst mal weg“, schlug Maik vor.

„Da gehe ich mit, zumal der Täter den Fahrer auch hätte gleich beim Fahrerwechsel töten können. Er wird nicht gefahren sein und gleichzeitig den Beifahrer eingeschüchtert haben“, bestätigte Thomas diese These.

„Okay, gehen wir mal davon aus, der Täter bedroht den Fahrer und dirigiert ihn von der Autobahn nachts über diese Wege zu einem abgelegenen See. Was denkt dann der entführte Fahrer wohl?“, warf Nina Bachmann ein.

„Er wird Todesangst haben und dürfte damit rechnen, hier und jetzt getötet zu werden. Es sei denn, der Täter bringt eine für den Fahrer nachvollziehbare Begründung, warum er nachts an diesen Ort will. Das Entführungs­opfer ist eh schon traumatisiert. Der Täter hat vermutlich inzwischen dessen Handy aus dem Fenster geworfen. Warum sollte der Fahrer glauben, dass alles gut ausgehen würde? Ich habe keine Fantasie, was das für eine logische Erklärung sein kann“, brachte Carlotta ihre psychologische Betrachtung ein. „Haben wir Erkenntnisse zu kardiologischen Vorerkrankungen des Fahrers, Dirk?“, hakte sie nach.

„Das kann ich euch nicht sagen, klären wir aber ab. Der Jüngste war er nicht mehr und nachts als Rentner durch die Gegend zu fahren und sich mit Kaffee von McDonald’s wachzuhalten, ist nicht gerade gesundheitsfördernd“, stellte Dirk Junker fest.

„Puh, wollt ihr darauf hinaus, dass der Täter gar nicht töten musste?“, stellte Thorsten Büthe in den Raum.

„Das Sektionsgutachten sagt das so in etwa aus“, bemerkte Kristin.

„Okay, spinnen wir mal weiter“, führte Nina fort. „Der Fahrer stirbt an Herzversagen, unser Täter wirft ihn in den See, fährt zurück auf die Autobahn in Richtung Bremen. Dort besorgt er sich vermutlich an einer Tankstelle einen Reservekanister mit Dieselkraftstoff und stellt den Transporter auf einem Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs ab. Er verschüttet das Benzin im Innenraum des Fahrzeugs, verschließt es und verschwindet“, vermutete sie.

„Dann ab zum Bahnhof und weg aus Bremen“, ergänzte Thomas.

„Er könnte auch mit der Straßenbahn oder dem Bus sonst wohin gefahren sein. Wir wissen es nicht“, schränkte Nina ein.

„Dirk, wie sieht’s bei euch aus? Habt ihr Videoaufnahmen aus dem Bereich sichern können? Gibt es Zeugen?“, machte sich Thorsten Büthe Gedanken.

„Leider nein. Die Über­wachungsvideos am Bahnhof werden spätestens nach 72 Stunden gelöscht und die der Tankstellen meist nach 24 Stunden direkt überschrieben. Sieht nicht gut aus“, resignierte der Verdener Beamte.

Das Team fuhr über den Abstellort am Hauptbahnhof zur KTU-Halle im Bremer Polizeipräsidium. Der weiße Transporter war verschlossen und mit einem rot-weißen Polizeiflatterband abgesperrt. An allen Seiten des Fahrzeuges standen Warnschilder mit der Aufschrift ‚Achtung Spurensicherung – nicht an das Fahrzeug herantreten!‘

Die Tatortbeamten hatten die erste Untersuchung des Innenraumes abgeschlossen und im Fahrgastraum ein Gerät zur Cyanacrylat-Bedampfung installiert. So konnten latente daktyloskopische Fingerspuren sichtbar gemacht werden. Diese Dämpfe waren aber derart gesundheitsschädlich, dass den LKA-Beamten kein Blick in den Fahrgastraum gewährt werden konnte.

„Hier können wir nichts mehr ausrichten. Ich habe uns bei Professor Brinkhaus angekündigt, wir können direkt weiterfahren“, schlug Dirk Junker vor. Der LKA-Bulli setzte sich in Richtung des Klinikums Bremen Mitte in Bewegung, parkte in der Sankt-Jürgen-Straße und wurde im Eingangsbereich direkt vom Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts erwartet.

„Da bin ich aber mal gespannt, warum sich das LKA Niedersachsen für einen Leichnam in Bremen interessiert, der einem Herztod erlegen ist. Hoffentlich wird das nicht zur Mode“, begrüßte Professor Brinkhaus das OFA-Team zynisch.

„Hallo, Herr Professor, bei uns gibt es halt keine Leichen, die nach einem Herztod noch schwimmen gehen. Für diese Exoten müssen wir schon zu Ihnen nach Bremen kommen“, nahm Thorsten den Tonfall lachend auf. „Schön, dass wir uns mal wiedersehen“, begrüßte der OFA-Leiter den Institutschef. Beide kannten sich aus einem Fachforum, welches Professor Brinkhaus leitete und in dem Thorsten schon Vorträge über skurrile Fälle gehalten hatte.

Sie setzten sich in großer Runde im Besprechungsraum zusammen, und der Professor wies das Profilerteam und Dirk Junker anhand von Fotos in die Erkenntnisse der Obduktion ein.

„Wie Sie sehen, war der Leichnam durch die Liegezeit, im Wasser bedingt, bereits stark fäulnisverändert. Wir konnten keinerlei Hinweise auf eine Fremdeinwirkung erkennen.*(siehe rechts) Weder im Schädelbereich noch an den Extremitäten ließen sich Zeichen von stumpfer oder scharfer Gewalt feststellen. Keine Hautdefekte, keine Unterblutungen. Ebenso konnten wir eine Gewalt gegen den Hals negativ abgrenzen. Kehlkopf und Zungenbein waren intakt, keine Strangulationsmarke, keine Petechien. Als Todesursache haben wir ein Herzversagen, eine Art plötzlicher Herztod, diagnostiziert. Das Organ hatte auch schon entsprechende Vorschädigungen“, versuchte sich Professor Brinkhaus verständlich auszudrücken. „Ach ja, was wir ausschließen können, ist der Umstand, dass unser Verstorbener ertrunken ist. Eine Fremdeinwirkung ist daher allein aus rechtsmedizinscher Betrachtung nicht nachzuweisen, da müssen Sie sich jetzt weiter bemühen“, resümierte der Rechtsmediziner abschließend.

Nach ein paar freundlichen Abschiedsfloskeln philosophierten die Profiler und Dirk Junker, wie die heutigen Erkenntnisse zu bewerten waren.

„Wenn diese Entführung von Greta auch auf das Konto des Pelikan geht, haben wir ein noch viel größeres Problem. Wir müssen unseren Fokus geografisch bedeutend weiter ausdehnen und können uns bei der Opferauswahl nicht mehr nur auf Bräute und Brautkleider fixieren“, fürchtete Thorsten.

Das Handy des OFA-Leiters vibrierte in der Hosen­tasche, und als er auf das Display sah, schrie er plötzlich auf: „Oh nein, nicht schon wieder!“ Thorsten blickte genervt aus dem Heckfenster des Bullis und wurde von der Lichthupe eines Minis begrüßt.

*Gerade bei Wasserleichen, die Tage oder länger im Wasser liegen, ist die Haut derartig aufgedunsen und fäulnisverändert, dass solche Zeichen einfach nicht mehr zu diagnostizieren sind.