Kapitel 41
Das Pressemeeting

Auf politischer Ebene war entschieden worden, zu einer großen Pressekonferenz ins Bremer Polizeipräsidium einzuladen, um gerade der Familie von Greta Holberg gerecht zu werden. Die Dimension dieses Falles wurde allein durch die Besetzung der Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie der Anwesenheit des Bremer Innen­senators mehr als deutlich. Lediglich durch den Staatsanwalt Doktor Jessen und die Leiterin der Einheit, Kriminaloberrätin Iris Höppner, war die federführende Soko Pelikan vertreten. Das Medieninteresse war derart groß, dass sämtliche Printmedien und Fernsehsender anwesend waren und eine Liveübertragung durch den NDR, bei n-tv und Phoenix geschaltet war. Thorsten Büthe und der Medienprofi der OFA, Maik Holzner, hatten sich in der vorletzten Reihe inmitten der Journalisten platziert und hofften, nicht erkannt zu werden. Ein leichtes Tippen auf Büthes Schulter zerstörte diese Illusion allerdings schnell. Die Boulevard­reporterin, Marina Swodicz, hatte sich direkt hinter die Profiler gesetzt und sie mit einem schrillen „Guten Morgen, die Herren!“ begrüßt. Sie konnte sich ihren Spruch über die illustre Besetzung der Experten nicht verkneifen.

Der Pressesprecher des Polizeipräsidiums eröffnete die Konferenz mit einer Vorstellungsrunde und dem geplanten Ablauf. Dann stieg schon der Innensenator mit einem politischen Statement ein, die Polizei mit allen Mitteln zu unterstützen, um den schrecklichen Mord an der Tochter des Reeders Holberg aufzuklären. Der Polizeipräsident erläuterte die bislang bekannten Umstände der Entführung über die Verfolgungsfahrt auf der Autobahn bis hin zur Inbrandsetzung des Pkw. Er setzte seine Ausführungen mit der Flucht und der Geiselnahme des Zeitungskuriers, dessen Tötung und dem Abstellen des Kurierfahrzeuges am Bremer Hauptbahnhof fort. Leider stellte er, entgegen der eigentlichen Abstimmung, die nach seiner Meinung ungeklärte Motivlage des Täters dar, und infolgedessen sah er sich außerstande, eine gezielte Entführung der Reederstochter auszuschließen. Als erst Doktor Jessen und dann die Leiterin der Soko Pelikan den Part übernahmen, fiel es ihnen durch die irritierende Einleitung schwer, den Bogen zu den Entführungsfällen der Sonderkommission zu schlagen. Selbst die vermissten Prostituierten waren durch die Vorredner bislang nicht genannt worden. Die Hannoveraner hielten sich jedoch an die Absprachen, äußerten sich zu den Bremer Fällen nicht und verwiesen lediglich auf eine konstruktive Kooperation mit den Kollegen des Stadtstaates.

Anschließend gab der Pressesprecher die Fragerunde für die Journalisten frei. In Nullkommanichts flogen die Hände der Medienvertreter förmlich in die Höhe, und der Moderator gab sich alle Mühe, sie nacheinander abzuarbeiten.

„Herr Polizeipräsident, wie meine Kollegen und ich Sie verstanden haben, gehen Sie weiterhin von einer gezielten Entführung der Greta Holberg aus. Sie wurde getötet, als der Täter nach der Verfolgung durch die Polizei seine Tat abbrechen und flüchten musste. Ist das richtig?“, legte ein Journalist sofort den Finger in die Wunde. „Das können wir derzeit noch nicht ausschließen und wir werden auch weiter in diese Richtung ermitteln“, versuchte sich der Polizeipräsident zu rechtfertigen. Doch der Reporter ließ nicht locker: „Ziel einer Entführung ist ja üblicherweise eine darauf folgende Erpressung. Haben der oder die Entführer mit Familie Holberg Kontakt aufgenommen? Sind Forderungen gestellt oder Drohungen verfasst worden?“ Der Präsident wollte gerade Luft holen, als der Innensenator einschritt. „Meine Damen, meine Herren, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir Ihnen darüber aus ermittlungstaktischen Gründen keine Antwort geben können.“

Marina Swodicz rief, ohne aufgefordert worden zu sein, in die Runde: „Herr Senator, ich vermute, dass Sie die Frage, ob auch Sie von einer aktuellen Gefährdung der Familie Holberg ausgehen, ebenso nicht beantworten werden.“ Der Senator bestätigte das ohne weiteren Kommentar. Die hannoversche Journalistin setzte nach. „Ich und vermutlich auch meine Kollegen wundern sich nur, dass die Pressekonferenz gemeinsam mit der Soko Pelikan aus Niedersachsen stattfindet. Worin sehen Sie denn hier die Zusammenhänge zu dem Entführungsfall Holberg?“

Nach einer flüsternden Abstimmung mit dem Pressesprecher verwies dieser an Doktor Jessen von der Staatsanwaltschaft Hannover.

„Ich möchte kurz auf Ihre Frage eingehen, warum wir heute gemeinsam vor Ihnen sitzen. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat die Ermittlungen von mehreren Entführungsfällen junger Frauen in Niedersachsen zentral übernommen. Durch Recherchen zu anderen Vermissten­fällen sind zwei verschwundene Prostituierte aus dem Steintorviertel in den Fokus der Soko Pelikan geraten, sodass sich zwischen den Behörden eine Ermittlungskooperation ergeben hat. Aus Sicht der Sonderkommission ist es ebenso nicht ausgeschlossen, dass unser Täter in der Tatnacht eine Anhalterin aufgenommen hatte, wobei es sich zufällig um Greta Holberg gehandelt hat. Ob der Täter wusste, wie seine Anhalterin hieß und ob er mit dem Namen dann überhaupt etwas anfangen konnte, vermögen wir nicht zu beurteilen. Wir sind also noch in einer Überprüfungsphase, in der wir mehrere Ermittlungshypothesen verfolgen müssen“, klärte Doktor Jessen auf.

„Von wie vielen vermissten Frauen gehen Sie denn mittlerweile aus?“, fragte ein älterer Reporter.

Doktor Jessen blickte auf die Soko-Leiterin, die das Wort ergriff. „Wir sind uns bei drei Taten im Raum Hannover recht sicher und überprüfen derzeit weitere fünf Fälle in Bremen und Hamburg. Die verschwundenen Frauen aus dem Umland von Hannover konnten durch einen Hochzeitskontext zusammengeführt werden. Das heißt, sie hatten vor Kurzem geheiratet und ihr Brautkleid inseriert. Ein Opfer wollte heiraten und hatte gerade das Brautkleid auf einer Hochzeitsmesse gekauft. Derartige Verbindungen zu den anderen Vermisstenfällen ließen sich bislang nicht finden, was einen Vergleich auf einen Tatzusammenhang so schwierig macht“, musste die Kriminaloberrätin einschränken.

Marina Swodicz boxte Thorsten auf den Oberarm und stellte die fast provokante Frage: „Sie haben die Profiler des LKA Niedersachsen eingesetzt. Gibt es schon ein Täterprofil und falls ja, wie sieht es denn aus?“

Die Soko hatte sich auf die Pressekonferenz akribisch vorbereitet und insbesondere dieses Thema einkalkuliert.

„Ihre erste Frage kann ich klar bestätigen. Die OFA Niedersachsen ist von Anfang an in die Fälle involviert gewesen. Ein seriöses Täterprofil lässt sich nicht aus dem Hut zaubern. Es bedarf einer objektiven Spurenlage eines Tatortes, eines Opfers, welches befragt werden oder eines Leichnams, an dem die OFA Verletzungsmuster interpretieren kann. Auch wenn wir hoffnungsvoll bleiben, dass die vermissten Frauen noch leben, hat die OFA wenig Fakten, an denen sie sich orientieren kann. Darum haben wir gemeinsam mit den Ermittlern und der OFA sowie der LKA-Psychologin einen Fragenkatalog entworfen und bitten nun Sie, uns zu helfen, diese Fragen in Ihren Medien zu platzieren. Wir bieten zudem potenziellen Hinweisgebern an, sich per Mail anonym mit der Soko Pelikan in Verbindung zu setzen. Hat uns jemand etwas mitzuteilen und möchte seine Identität nicht preisgeben, können wir online kommunizieren. Wir haben keine Möglichkeit, die Personalien dieses Hinweisgebers zu ermitteln. Zudem hat der Staatsanwalt in Hannover eine Belohnung von 10.000 Euro ausgelobt, die aus privater Hand um dieselbe Summe erhöht wurde. Wir haben Ihnen dazu ein Handout vorbereitet, aus dem Sie alle Informationen und die Fragen der Soko Pelikan entnehmen können. Vielen Dank dafür!“, schloss die Leiterin der Ermittlungsgruppe ihr Kooperationsangebot.

Nach Ende der Pressekonferenz führten die Vertreter der TV-Medien einige Interviews mit der politischen Ebene und der Soko-Leitung. Iris Höppner offenbarte sich gegenüber den Journalisten als eine zugängliche und auf gegenseitige Kooperation geprägte Ansprechpartnerin.

Der OFA-Leiter und sein Medienprofi Maik Holzner verließen den Raum unauffällig durch eine Seitentür. Der Versuch von Marina Swodicz, diesmal ein Interview zu erhaschen, schlug wieder mal fehl. Doch wer sie kannte, ahnte, dass sie stets am Ball blieb und nicht auf Zufälle wartete.

Die Liveübertragung wurde nicht nur von der Soko Pelikan im OFA-Analyseraum, der Familie Holberg und vermutlich sämtlichen Angehörigen der Entführungsopfer verfolgt. Auch der Pelikan genoss seine Hauptrolle in diesem mittlerweile politisch hochsensiblen Mediendrama und beabsichtigte nicht, von seiner Rolle auch nur einen Millimeter weit abzuweichen.