Kapitel 43
Eine hanseatische Geschichte

Astrid Wegner und Cord Brammer hatten in Bremen Kontakt mit den Kollegen der Vermisstenstelle und der Mordkommission aufgenommen, um sich nach den neuesten Ermittlungsergebnissen zu den verschwundenen Prostituierten zu erkundigen. Leider gab es dazu keine weiteren Erkenntnisse. In dem Gespräch erwähnten die Ermittler aus Niedersachsen den Bruder von Greta Holberg und erfragten Ansprechpartner in der Bremer Polizei.

„Das ist eigentlich topsecret“, erklärte einer der Bremer Mordermittler. Nach dem ungläubigen Blick der Soko Pelikan ergänzte der Bremer, dass Patrick Holberg seit frühester Jugend immer wieder Kontakt mit der Polizei hatte. Diebstähle, Drogen, Alkohol, Fahren ohne Fahrerlaubnis; er hatte alles mitgenommen. Im letzten Jahr hatte sein Vater die Reißleine gezogen und ihn in einem Internat in England untergebracht, um ihn aus seinem kriminellen Umfeld zu entziehen. „Zur Beerdigung von Greta ist er erst mal zurückgekehrt und bleibt wohl ein paar Wochen in Bremen“, brachte er Astrid und Cord auf Stand.

„Wir haben gehört, dass Patrick unter Personenschutz gestellt wurde. Ist das durch die Polizei oder seinen Vater veranlasst worden?“, fragte Astrid interessiert.

Der Bremer Kollege lachte. „Von uns, nie im Leben. Der Reeder hat eigene Bodyguards beauftragt, die auf ihn aufpassen sollen, damit er sich nicht gleich wieder in seine Szene begibt. Vielleicht hat er dabei auch ein bisschen Angst wegen Greta, aber ich glaube, das ist zweitrangig.“

Cord blieb am Ball. „Habt ihr ihn schon zu Gretas Tod vernommen?“

Der Mordermittler zog die Augenbrauen hoch. „Davon verspricht sich die Führung und die Staatsanwaltschaft nichts. Herr Holberg wünscht zudem nicht, dass sein Sohn in die Sache reingezogen wird. Das ist mit unserem Präsidenten so abgestimmt worden. Er hielt sich nachweislich zum Tatzeitpunkt in England auf, sodass wir auch keinen Bedarf sehen, dagegen anzukämpfen.“

Astrid musste schmunzeln. „Wir würden das Früchtchen gerne kennenlernen und möchten mit ihm sprechen. Müssen wir das mit euch abstimmen? Sonst fahren wir direkt zu ihm und klopfen einfach mal an“, kündigte die Beamtin der Soko Pelikan an.

„Am besten ist es wirklich, ihr lasst uns da ganz raus. Ein Anruf vom Alten an unseren Präsidenten und die Nummer ist durch. Wenn das LKA Niedersachsen bei Holbergs klingelt, wird es schon schwieriger. Versucht es, ich bin gespannt“, riet der Bremer Beamte.

Astrid und Cord machten sich auf den Weg in den Stadtteil Vahr und ließen sich in den Deliusweg am Golfplatz Zur Vahr navigieren. Sie passierten eine Villengegend mit riesigen Grundstücken und altem Baumbestand. Dann hielten sie vor einem Areal, das von außen kaum einsehbar war. Von der Straße aus ließ nur das Dach einer sanierten Gründerzeitvilla erahnen, was sich für ein Paradies hinter den Mauern verbarg. Das Team aus Hannover parkte seinen Mercedes C-Klasse am Straßenrand.

„Sollten wir das mit Iris noch kurz abstimmen, bevor wir hier eine Riesenwelle lostreten?“, war sich Astrid kurz unschlüssig.

„Quatsch, wir haben doch grünes Licht bekommen und den Kontakt angekündigt“, rechtfertigte Cord die Maßnahme.

„Da waren uns das sensible Thema und das schwarze Schaf der Familie aber noch nicht bekannt. Ganz ehrlich, ich kann Knut Holberg völlig verstehen“, schränkte Astrid ein.

„Hey, wir wollen nur mit ihm sprechen und ihn nicht festnehmen“, frotzelte Cord und stieg aus dem Dienstwagen. Trotz der Zweifel folgte die Oberkommissarin ihrem dynamischen Kollegen, denn er hatte ja recht. Sie standen vor einem großen doppelflügeligen Tor und einer Klingel mit Kameraüberwachung. Am Klingelschild war kein Name angebracht. Anscheinend wusste man, wer hier wohnt. Astrid drückte fast zaghaft den kupferfarbenen Knopf, als sie die LED-Beleuchtung der Kamera aktivierte und von einer freundlichen Frauenstimme „Ja bitte?“ begrüßt wurde. Beide setzten ihre Ermittlermiene auf und hielten ihre Dienstausweise in die Kamera. „Guten Tag. Kriminaloberkommissarin Wegner und Kriminalkommissar Brammer vom LKA Niedersachsen. Wir würden gern mit Patrick Holberg sprechen. Es ist wichtig.“

Stille. Erst nach mehreren Sekunden meldete sich jetzt eine tiefe männliche Stimme. „Mein Sohn ist in England, sie können ihn leider nicht mehr antreffen. Auf Wieder­sehen.“ Das musste der Reeder persönlich sein.

„Herr Holberg, verzeihen Sie die Störung. Es tut uns sehr leid, Sie gerade in dieser belastenden Situation belästigen zu müssen, aber wir glauben, dass uns Patrick helfen kann, den Mörder Ihrer Tochter zu überführen. Wir wissen außerdem, dass er in Bremen ist“, versuchte Astrid, den Reeder zu überzeugen. „Mein Sohn ist schon wieder abgereist. Sie kommen leider zu spät“, rechtfertigte er seine abweisende Art.

„Schade, würden Sie uns dann bitte die postalische Anschrift des Internates geben. Wir werden die förmliche Vorladung direkt über die englische Polizei an die Leitung dieser Einrichtung schicken“, bluffte Cord frech, wobei Astrid schon die Augen verdrehte, dann aber verwundert feststellte, dass sich das elektrische Doppeltor öffnete und Herr Holberg das Ermittlerteam hereinbat. „Bitte treten Sie ein und folgen Sie dem Weg bis zum Eingang des Hauses. Ich erwarte sie dort.“

Der Gang vom Eingangsportal durch den Park bis zu der hellen Villa betrug locker 300 Meter. „Soll ich nicht lieber den Wagen holen? Das ist ja fast ein Kilometer Fußweg“, übertrieb Cord. Astrid musste über seine forsche Art schmunzeln. Im Eingangsbereich kam ihnen Knut Holberg entgegen. Er besaß eine stattliche Figur, war vom Alter her kaum einschätzbar, wobei die beiden Ermittler recherchiert hatten, dass er 78 Jahre alt war, jedoch deutlich agiler und jünger wirkte. Er verfügte über volles, fast weißes Haar und war ein Hanseat durch und durch. Er begrüßte die Beamten höflich, aber distanziert und ließ sich die Dienstausweise zeigen, die er gründlich prüfte. Astrid übernahm die Wortführung, bevor Cord wieder über das Ziel hinausschoss. Beide kondolierten höflich und erklärten dem Reeder, warum sich die Soko Pelikan für seinen Sohn interessierte. Für die Kommissare überraschend, bat der Hanseat sie in das Kaminzimmer des Hauses und ließ ihnen von seiner Hausdame Tee und Gebäck bringen.

„Bevor Sie mit Patrick sprechen, möchte ich Ihnen gegenüber aufrichtig sein und muss Ihnen einige Dinge erklären“, eröffnete der Reeder sympathisch das inzwischen angenehme Gespräch. Knut Holberg legte die gesamte Familiengeschichte offen, indem er berichtete, dass er seine gesamte Zeit und Energie in die Reederei seines Vaters gesteckt hatte. Für Familie und seine Frau war wenig Zeit geblieben. So hatten sich damals beide gefreut, als ihr erstes gemeinsames Kind Greta geboren wurde und dadurch die Familie zusammengewachsen war. Herr Holberg hatte sich bewusst mehr Zeit für seine Frau und Greta genommen, wobei er die Reederei zwar weitergeführt, aber seinen Schwerpunkt nunmehr auf seine Familie gelegt hatte. Nach einer schweren und überstandenen Krankheit seiner Frau konnten sie kein zweites Kind bekommen und hatten Patrick im Alter von zwei Jahren erst als Pflegekind übernommen und drei Jahre später adoptiert. Patrick hatte in Greta stets eine Konkurrenz gesehen, was er sie spüren ließ. Greta hingegen liebte ihren kleinen Bruder bedingungslos und hatte ihn erst recht ins Herz geschlossen. Sie hätten wohl viele Fehler begangen und ihrem Adoptivsohn alles ermöglicht, was er sich wünschte. Sich Dinge aus eigener Kraft zu erarbeiten, hatte er nie gelernt. Schon mit 14 Jahren hatte Patrick Kontakt in die Drogenszene gehabt und kokettierte mit seinem reichen Vater, sodass er ein gern gesehener und solventer Kunde wurde. Es folgten Diebstähle von Bargeld und Wertgegenständen aus dem gemeinsamen Haushalt. Es blieb der Familie nichts erspart. Mit 15 Jahren war Patrick heroinabhängig und brauchte täglich seine Rationen. Holbergs wollten sich nicht vorwerfen lassen, dass ihr eigener Sohn Menschen überfiel, um seine Drogensucht zu finanzieren, und unterstützten ihn weiter mit hohen Geldbeträgen. Greta versuchte stets, ihren kleinen Bruder durch Schwesternliebe aus dem Dreck zu ziehen. Aber Patrick hatte sie nur ausgenutzt und für seine Zwecke missbraucht. Während eines Termins beim Wirtschaftssenator hatte ihr Sohn in ihrem Haus eine Riesenparty veranstaltet, sodass sie im Anschluss komplett renovieren mussten. Fast amüsiert erwähnte der Reeder weiter, dass die drogenabhängigen Gäste selbst einen 800 Euro teuren Whiskey mit Cola gemischt und seinen erlesenen Weinkeller fast leer gesoffen hatten. Im Drogenrausch hatte Patrick dann seinen roten Jaguar E-Type, Baujahr 1969, samt Fahrzeugbrief für 5.000 Euro an einen Dealer verkauft. Bevor er ihn juristisch zurückfordern konnte, war das Einzelstück an der Schlachte in der Weser versenkt worden. Patrick hatte ab sofort Hausverbot und musste sich künftig im Gästehaus einrichten. Herr Holberg hätte ihn am liebsten rausgeschmissen, was er auf Flehen seiner Frau dann aber doch unterlassen hatte. Seiner einzigen Bedingung, Patrick fernab von Bremen einer Entziehungskur zu unterziehen, um ihn anschließend in ein Internat in England zu schicken, hatten dann letztendlich alle Familienmitglieder zugestimmt. Gerade erst hatte sich die Familie wieder regeneriert, da wurden sie über den schrecklichen Tod von Greta informiert. Holbergs Frau befand sich seitdem in einer psychiatrischen Klinik am Bodensee zur Behandlung, und Knut Holberg versuchte händeringend, nicht noch weiteren Schaden an die restliche Familie heranzulassen.

„Wir müssen Patrick wieder auf den richtigen Weg führen, er ist jetzt der einzige Nachkomme. Denn er wird meine Nachfolge und das Familienerbe antreten. Das waren die Worte meiner Frau, und ich hätte kotzen können. Entschuldigung, aber manchmal muss ich einfach deutliche Worte wählen. So, jetzt sind Sie im Bilde und können Patrick und vielleicht auch seine Antworten auf Ihre Fragen einordnen“, schloss der Reeder den intimen Familienvortrag.

Astrid war betroffen und gleichzeitig angenehm überrascht von der Offenheit des eigentlich stolzen Hanseaten. „Vielen Dank für Ihr Vertrauen uns gegenüber, Herr Holberg. Das hatten wir nicht erwartet“, gab sie authentisch zu.

„Darf ich ehrlich sein? Ich auch nicht. Mir hat Ihre unverfrorene und eigentlich freche und mir gegenüber auch unfreundliche Art gefallen. Das bin ich nicht gewohnt. Herr Holberg hier, Herr Holberg da. In Bremen sagt mir niemand, was ich nicht hören will. Das war mal wieder erfrischend, junger Mann“, sagte er und schlug Cord kräftig auf die Schulter.

„Herr Holberg, ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir weiter so offen miteinander umgehen könnten. Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Greta bewusst als Ihre Tochter entführt worden ist? Hat jemand im Vorfeld Kontakt zu Ihnen aufgenommen? Gab oder gibt es in diesem Kontext Forderungen in Ihre Richtung?“, platzte es aus Astrid heraus.

„Die Antwort ist einfach nur: Nein! Es gab weder Drohungen noch Kontakte vor oder nach dem Tod von Greta“, antwortete Knut Holberg knapp und ehrlich.

„Wir haben erfahren, dass Sie Ihren Sohn schützen lassen. Falls das richtig ist, vor wem? Wovor haben Sie denn dann Angst?“, versuchte Astrid in Erfahrung zu bringen.

„Wir haben gerade Aufrichtigkeit vereinbart. Kann ich mich auch auf Ihre Diskretion verlassen?“, mit dieser Frage streckte er den beiden Ermittlern seine Hanseatenhand entgegen.

„Soweit wir das rechtlich vertreten können, ja“, bestätigte Astrid für das Team.

„Okay, ich habe Angst vor ihm und um ihn. Ich bin nicht naiv. Er hängt weder an meiner Frau noch an mir. Wenn er die Chance hat, uns zu verkaufen, wird er es tun. So habe ich noch eine gewisse Kontrolle, was natürlich keine Gewähr ist“, gab er beklommen zu und schaute erwartungsvoll auf die Beamten. „Und nun nehme ich Sie beim Wort und vertraue auf Ihre Offenheit. Glauben Sie, dass Patrick etwas mit Gretas Tod zu tun hat? Warum, glauben Sie, kann er zur Aufklärung etwas beitragen und was soll das bitte schön sein?“, forderte der Reeder deutlich.

Beide Kommissare stellten plötzlich fest, dass sie schlecht vorbereitet waren. Das hier war kein üblicher Small Talk, es ging an die Substanz. Astrid versuchte auszuweichen. „Herr Holberg, bei aller Offenheit sollten wir erst mal mit Patrick sprechen und schauen, was er dazu zu sagen hat. Wäre das ein Weg?“

Herr Holberg wurde distanzierter und schlug vor: „Okay, versuchen Sie es. Denken Sie daran: Er mag keine Bullen. Sie können das Gästehaus gar nicht übersehen. Gehen Sie über die Terrasse am Pool vorbei. Sie werden von den Sicherheitsleuten schon angesprochen. Viel Erfolg.“

Der Hanseat drehte sich um und zog sich über die breite Treppe in die erste Etage der Villa zurück.

Astrid und Cord traten aus dem großzügigen Poolbereich der Gründerzeitvilla auf das Gästehaus zu, welches allein die Dimension eines normalen Einfamilienhauses hatte. Zwei gestählte, tätowierte Bodyguards kamen den Ermittlern entgegen und fragten, ob sie helfen könnten. Nach einer kurzen Vorstellung blieb einer der beiden bei den Beamten, während der andere im Haus verschwand und von dort deutlich zu hören war.

„Patrick, zwei Bullen für dich. Soll ich sie reinlassen?“ Eine piepsige Stimme antwortete feist: „Ich habe keine Bullen bestellt. Wenn man sie braucht, ist keiner da. Will man keinen sehen, gehen sie einem auf die Nüsse. Schick sie weg, Alter.“ Der Bodyguard wusste aber mit Patrick umzugehen. „Mach dir keinen Stress. Die Bullette ist eine ganz süße. Ich würde zumindest kurz ,Hallo‘ sagen“, riet er. Augenzwinkernd kam er zurück. „Patrick ist begeistert und freut sich auf euch.“

Dann schritt das Früchtchen aus seinem Palast. Astrid und Cord mussten sich das Lachen verkneifen. Patrick sah aus wie ein schlechter Gangsterrapper mit einer goldenen Baseball-Cap, einem Football-Blouson und einer megaweiten Jeans, für die es in der Szene bestimmt einen Fachbegriff gab. Am lächerlichsten waren die dicke Goldkette bis zum Bauchnabel und die quer um die Brust gehängte Gürteltasche von Louis Vuitton. Der Gang ähnelte dem von Arnold Schwarzenegger aus den ersten Terminator-Filmen. Nur war der Gangsterrapper maximal 165 Zentimeter groß, 50 Kilogramm schwer und hatte Oberarme wie Trommelstöcke, was das picklige Teenager­gesicht noch untermalte.

Die Ermittler hatten sofort den gleichen Gedanken. Dieser Typ sollte der Nachfolger des hanseatischen Reeders Knut Holberg sein? Grotesk. Egal, sie ließen sich nichts anmerken und sprachen ihn gleich richtig an. Diesmal übernahm Cord die Gesprächsführung. „Hey, Patrick. Das ist Astrid Wegner und ich bin Cord Brammer. Wir sind vom Landeskriminalamt Niedersachsen und sind wegen des Mordes an Greta bei dir, weil wir glauben, dass du uns helfen kannst.“

Patrick wurde unsicher. „Mein Vater hat mir versichert, dass ich nicht mehr mit euch Bullen sprechen muss, was also soll das?“, schnauzte er das junge Ermittlerteam an. Cord blieb genauso cool. „Das wollte uns dein Vater auch sagen. Doch wir sind nicht irgendwelche Bullen, sondern die vom LKA Niedersachsen und uns ist völlig scheißegal, was dein Vater für eine Nummer in Bremen ist oder welche beschissene Gangsterrappernummer du vor uns abziehen willst. Entweder quatschst du hier mit uns oder wir nehmen dich mit nach Hannover, stellen deine Klamotten sicher, ziehen dir einen grünen Polizeitrainingsanzug an und quatschen dann. Zu Ausbildungszwecken laden wir dann noch 30 Polizeischülerinnen ein, die den coolsten Rapper aus Bremen im grünen Trainingsanzug sehen wollen. Irgendeiner dreht bestimmt ein Video, was sich dann parallel deine Kumpels im Internat reinziehen können. Du bist dran. Hier oder in Hannover?“

Patrick wurde noch kleiner und knickte ein. „Na, dann kommt rein.“

Als seine Bodyguards in die gleiche Richtung gingen, fuhr Astrid sie an: „Allein wegen der Bullette bleibt ihr draußen, oder glaubt ihr, wir bringen den Kleinen um?“

Patrick nickte und bestätigte: „Ist schon okay.“

Sie spielten die knallharten Ermittler und klärten Patrick auf, dass sie den Mord an seiner Halbschwester aufklären würden und dabei seine Hilfe bräuchten. Sie ließen ihn die Geschichte aus der eigenen Perspektive erzählen, die sich mit der seines Pflegevaters deutlich ähnelte, nur waren bei ihm stets die anderen schuld an seiner Misere. Auch die Schilderungen seiner Hausparty und des Verkauf des Jaguar E-Type waren viel blumiger als die seines Adoptivvaters. Im Kontrast zu seinem Outfit wirkten die Tränen, die Patrick vergoss, insbesondere während er über Greta sprach, authentischer. Er hatte seine große Schwester geliebt und zu ihr aufgeschaut. Ihr Tod hatte ihn total aus der Bahn geworfen, zumal es nun niemanden mehr in der Familie gab, der zu ihm hielt. Seine Adoptivmutter war zwar fürsorglich, aber wenn es hart auf hart ging, hielt sie immer zu dem präsenten Patriarchen. Es kam heraus, dass sich der Bekanntenkreis von Greta und Patrick völlig unterschiedlich gestaltete und es auch keine Überschneidungen gab. Patrick war zur Tatzeit im Internat in England gewesen und hatte dort auch mit keinem Menschen über Greta oder auch seine Familie in Bremen gesprochen. Auf die Frage von Astrid, ob es im Internat jemand gab, der die finanzielle Situation seines Adoptivvaters ausnutzen wollte, lachte er laut auf.

„Im Vergleich zu den Eltern meiner Mitschüler im Internat bin ich ein Sozialhilfeempfänger. Da sind Kinder von hohen Politikern, Wirtschaftsbossen und Scheichs. Als wir uns vorstellten und ich erwähnte, dass mein Vater ein angesehener Reeder in Bremen ist, hat ein Junge aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gefragt, wo sich denn diese Stadt befände. Er ging bei dem Reichtum seines Vaters davon aus, dass ihm Bremen gehörte. In diesen Kreisen spielen die paar Millionen meiner Familie wirklich keine Rolle.“

Vermutlich waren sowohl die Ermittler und der Befragte als auch Knut Holberg überrascht, dass sie mit Patrick über zwei Stunden ein nicht unangenehmes Gespräch führen konnten, nachdem sie seine Fassade geknackt hatten. Es gelang ihnen sogar, einen gegenseitigen Handykontakt auszutauschen, falls sich weitere Fragen ergeben sollten. Zur Aufklärung des Mordes an Greta konnte ihr Halbbruder allerdings nicht wesentlich beitragen. Sie verabschiedeten sich szenetypisch mit der Ghettofaust und fuhren mit sehr viel neuen Eindrücken nach Hannover zurück.

„Und, Cord, bist du jetzt schlauer geworden, oder glaubst du immer noch an eine beabsichtigte Entführung?“, war Astrid interessiert.

„Mir ist so einiges klarer geworden, auch das vertrauensvolle Gespräch mit Patrick fand ich total interessant. Allerdings glaube ich, dass er mehr weiß und werde ihn auf alle Fälle im Blick behalten.“