Kapitel 47
Die Hintergründe

Als Knut Holberg am nächsten Morgen aufstand, drehte er wie immer seine Runde durch den Park und sah bei seinem Pflegesohn vorbei. Um diese Zeit schlief dieser in der Regel noch, also erkundigte sich der Reeder normalerweise bei einem seiner Begleiter, ob alles in Ordnung war. Doch jetzt parkte weder der Mercedes der Bodyguards auf dem Grundstück noch befand sich irgendjemand im Gästehaus. Er hatte die Personenschützer selbst eingestellt und versuchte sie per Handy zu erreichen. Bei beiden war lediglich die Mailbox geschaltet, auf welcher er mit der Bitte um sofortigen Rückruf eine Nachricht hinterließ. Auch zu Patrick konnte er keine Verbindung bekommen. Hier lief nicht einmal die Mailbox. Er hatte seinen Pflegesohn einfach nicht unter Kontrolle.

Ein Jogger nutzte den nahe gelegenen Rhododendron-Park für seine morgendliche Runde. In einem Seitenweg stand plötzlich ein dunkler Mercedes mit Bremer Kennzeichen vor ihm, der ihm den Weg versperrte. Die Fahrertür stand weit offen, sodass der Jogger nicht einmal ausweichen konnte. Das Fenster war zersplittert. Beim Herantreten an den Pkw fielen ihm sofort die massiven Blutspuren auf den hellen Ledersitzen auf. Erst dann entdeckte er den blutüberströmten Beifahrer, wobei er deutlich sah, dass man ihm nicht mehr helfen konnte. Nach dem Notruf folgte das Riesenaufgebot an Kriminalpolizei, Spurensicherung und Rechtsmedizin. Über das Kennzeichen und die Halter­feststellung konnte Kevin Münch, der Tote auf dem Asphalt, identifiziert werden. Auch der getötete Beifahrer trug eine ballistische Weste und ein leeres Gürtelholster. Im Mercedes waren allerdings weder Waffen noch Ausweise oder Geldbörsen gefunden worden. Entsprechende Überprüfungen von Kevin Münch ergaben, dass er kein unbeschriebenes Blatt war, sich in der Bremer Türsteherszene tummelte und Geschäftsführer einer kleinen Firma für Objekt- und Personenschutz war. Sein Beifahrer und Mitarbeiter, Stefan Müller, konnte anhand von Fotos aus dem Umfeld der Sicherheitsfirma identifiziert werden. Beide waren Anfang dreißig, absolut fit und trainiert. Ein Beamter konnte sich den Spruch nicht verkneifen: „Sind die eine Milieustreife gefahren, oder was wollten die hier?“

Die Beamten der Mordkommission waren gerade eingetroffen und reagierten prompt, als sie die Personalien der Opfer erfahren hatten. „So, Leute, weg vom Fahrzeug. Großräumige Absperrung, und ich will in hundert Metern Entfernung keinen Pressefritzen sehen!“, ordnete der Leiter der Bremer Mordkommission, der Erste Kriminalhauptkommissar Erich Wittich, an. Er rief sein Team sowie den Leiter der Tatortgruppe zu sich und klärte sie in einem ruhigen, aber spannungsgeladenen Ton auf, um wen es sich bei den Opfern handelte. „Hört zu. Das sind die Aufpasser des Holberg-Sohnes. Wir können davon ausgehen, dass der Junge entweder auch entführt oder schon getötet worden ist. Wir fahren jetzt den großen Bahnhof und können uns hier nicht den kleinsten Fehler leisten. Das ist eine politische Atombombe. Weder die Presse noch die anderen Kollegen dürfen vorerst etwas erfahren. Ist das angekommen?“ Die Runde nickte ehrfürchtig. „Der Einzige, der hier am Tatort telefoniert, bin ich, oder ich bitte jemanden von euch zu telefonieren. So lange will ich hier kein Handy sehen. Ich werde jetzt den Polizeipräsidenten und das LKA informieren. Dann sehen wir weiter“, endete er.

Erich Wittich ließ sich direkt mit dem Büro des Polizeipräsidenten verbinden und erklärte ihm die Situation vor Ort. Der Präsident, Helmut Pape, versprach, sofort zum Tatort zu kommen, und bestand darauf, dass er dem Reeder diese Nachricht als Freund der Familie Holberg persönlich überbringen wollte. Die Beratergruppe des LKA sowie der zuständige Abteilungsleiter erschienen ebenfalls, um sich politisch sensibel abzustimmen. Gleichzeitig wurde der Innensenator in Kenntnis gesetzt. Er bat darum, stets auf dem aktuellem Stand gehalten zu werden.

Mittendrin klingelte das Handy des Polizeipräsidenten, der unter Dauerstress stand, seinem Display keine Beachtung schenkte und ins Telefon brüllte: „Was ist denn!“ Die unsichere Stimme am anderen Ende ließ ihn erschauern. „Hallo, Helmut, ich bin es, Knut. Tut mir leid, dass mein Anruf ungelegen kommt, aber ich habe ein Problem. Patrick ist verschwunden“, bat er flehend um Hilfe.

„Bist du zu Hause, Knut? Ich bin sofort bei dir. Gehe nicht ans Telefon und öffne niemandem die Tür, nur mir. Bis gleich“, forderte der Polizeipräsident und kündigte seinen Besuch an.

Der Anruf

In der Regionalredaktion der BILD drehte sich heute alles nur um die gestrige Schießerei. Aktuell kam rein, dass eine weitere Leiche in einem Mercedes im Rhododendron-Park gefunden worden war. Sämtliche Lokalreporter befanden sich auf dem Weg in das edle Wohnviertel, als das Telefon des Chefredakteurs klingelte. „Hören Sie bitte gut zu. Ich gebe Ihnen eine ergänzende Info zu der Schießerei von gestern Abend. Raten Sie mal, warum beide Opfer bewaffnet waren und Schutzwesten trugen? Sie waren die Bodyguards von Patrick Holberg.“ Dann legte der Anrufer auf. Der Chefredakteur witterte eine Topstory, informierte sofort sein Team vor Ort und schickte sie direkt zu Knut Holberg.

Als sich der Polizeipräsident vor das Tor seines Freundes Knut chauffieren ließ, musste er sich völlig verärgert den Weg durch eine Gasse von Reportern und Kameraleuten bahnen. „Herr Polizeipräsident! Ist es richtig, dass die Opfer für den Schutz von Patrick Holberg zuständig waren? Ist der Junge jetzt ebenfalls entführt worden? Gibt es einen Tatzusammenhang zu dem Mord an Greta Holberg?“ Sie hielten ihm Mikrofone an die Seitenscheibe, aus der er nur rief: „Kein Kommentar, lassen Sie mich bitte durch.“ Nachdem der Dienstwagen des Präsidenten das Zufahrtstor passiert hatte, vergewisserte er sich, dass die Reporter das Grundstück nicht stürmten.

Knut Holberg öffnete völlig irritiert. „Was ist denn da draußen los? Was wollen die alle hier?“, fragte er seinen Freund. „Können wir uns setzen, Knut?“, schlug Helmut Pape vor. „Ist was mit Patrick?“, ahnte der Reeder. „Das wissen wir noch nicht, Knut. Gestern Abend haben wir an der Marcusallee Kevin Münch erschossen aufgefunden. Von dem Mercedes, Patrick und seinem Mitarbeiter Stefan Müller fehlte jede Spur. Heute Morgen fand ein Jogger den Mercedes im Rhodopark. Stefan Müller lag erschossen auf dem Beifahrersitz. Von Patrick fehlt jede Spur. Hat dich schon jemand kontaktiert, Knut?“ Der Reeder schüttelte den Kopf.

Es klopfte und die Haushälterin trat herein. „Herr Holberg, das LKA steht vor der Tür und bittet, mit den Fahrzeugen hereingelassen zu werden. Ich hatte sie gebeten, draußen zu parken, aber die bestehen drauf“, trug sie vor. „Sind die aus Bremen oder Niedersachsen?“, wollte Holberg von seiner Hausdame wissen. „Sie haben nur LKA gesagt, welches Bundesland, weiß ich doch nicht“, antwortete sie leicht schnippisch. „Öffnen Sie und bitten Sie die Herrschaften gleich herein“, wies der Hausherr an.

„Was sollte das LKA Niedersachsen von dir wollen?“, der Bremer Polizeipräsident war überrascht.

„Vor etwa zwei Wochen suchten mich zwei sehr sympathische Beamte auf und haben sich intensiv mit mir und auch mit Patrick unterhalten“, klärte der Reeder seinen Freund auf.

„Worüber?“, fragte der Präsident erstaunt.

„Über unsere Familiengeschichte, über Greta und unser Problemkind Patrick“, schilderte Holberg weiter.

„Warum weiß ich davon nichts?“, wunderte sich Helmut Pape.

„Erfahre ich von dir alles, was du weißt?“, konterte der Hanseat.

Nach erneutem Klopfen der Hausdame ließ sie sechs dynamische Frauen und Männer ein, die sich gegenüber Knut Holberg als Beratergruppe des LKA Bremen für Entführungen und Geiselnahmen vorstellten. Den Polizeipräsidenten begrüßten sie persönlich, man kannte sich. Der Leiter der Expertengruppe, Kriminalhauptkommissar Jan Focke, klärte Holberg kurz über die erforderlichen Maßnahmen auf, die im Falle einer Kontaktaufnahme durch die Entführer zu treffen waren.

Ohne die Zustimmung des Reeders abzuwarten, teilte er seine Leute ein, die die großzügige Wohnhalle mit modernster Überwachungstechnik auf links drehten. Jan Focke kam erneut mit zwei Beamten auf den Hausherrn zu und machte ihn mit Thea Böttcher und Nils Finke bekannt, die ihm als Angehörigenbetreuer zur Seite stehen sollten. „Gibt es für die Kollegen hier im Haus eine Übernachtungsmöglichkeit? Sie werden rund um die Uhr ansprechbar sein. Im Außenbereich wird die Schutzpolizei dafür sorgen, dass kein Unberechtigter ins Haus hineingelangt“, setzte er fest. Knut Holberg bat die Hausdame, zwei Gästezimmer herzurichten.

Von einer Stunde zur anderen verwandelte sich die Idylle der Gründerzeitvilla in eine bewachte Festung.

Jetzt mussten sich nur noch die Entführer melden und ihre Forderungen stellen.