Kapitel 55
Die böse Überraschung

Die Brautjungfern warteten das Ende des Feuerwerks ab und gaben ihrem Liebespaar noch ein paar innige Minuten für sich, bevor sie johlend zum Pavillon stürmten, um mit dem Brautpaar anzustoßen und den Rest des Abends ausgiebig zu feiern. Als sie den Bräutigam am Boden liegen sahen, schrien sie parallel: „Björn!“ Er war nicht ansprechbar. Dann riefen sie ihre Freundin, die sich aber in der näheren Umgebung des Pavillons nicht meldete. Bei dem Versuch, sie auf dem Handy zu erreichen, klingelte es unter dem gedeckten Tisch. „Wo soll Yvi ohne Handy sein? Scheiße, ist Björn wirklich schon so besoffen?“ Nachdem die Brautjungfern seine Mannschaftskameraden um Hilfe gebeten hatten, den Bräutigam wieder zum Schloss zu tragen, war der ebenfalls eingeladene Mannschaftsarzt zur Stelle und übernahm nach kurzer Untersuchung unmittelbar erste Wiederbelebungsmaßnahmen. „Wir brauchen einen Notarzt und einen Rettungswagen, schnell!“ Bei solch großen Veranstaltungen war eine Bereitstellung von Rettungskräften obligatorisch. Ein Krankenwagen hielt sich direkt am Schlosseingang für Notfälle bereit und raste quer durch den Barockgarten zum Bräutigam, um dessen Leben der Arzt der norwegischen Nationalmannschaft gerade kämpfte. Er blieb auch im Rettungs­wagen bei seinem Torwart und setzte die Maßnahmen bis zum Eintreffen in der Notaufnahme des nahen Nordstadtkrankenhauses weiter fort. Die Mannschaftskameraden organisierten mit dem Sicherheitspersonal und den Gästen die Suchmaßnahmen im Großen Garten, wobei sich die Security auf die Kontrolle des äußeren Graftufers konzentrierte. Dort konnte das schwarze Schlauchboot relativ schnell gefunden werden. Im Schein ihrer Taschenlampen entdeckten die Sicherheitskräfte das silberne Diadem der Braut auf dem Boden des aufblasbaren Kahns.

Thorsten und Vicci Büthe hatten einen wunderschönen Abend im Georgengarten verbracht und waren auf dem Heimweg gerade an der Stadtbahnhaltestelle ‚Herrenhäuser Gärten‘ angekommen, als ein Rettungswagen in den Nebeneingang quer durch den Barockgarten schoss. „Das werden die Gärtner aber gar nicht gerne sehen“, scherzte er und beobachtete, wie das reflektierende Blaulicht noch bis ans Ende des Gartens zu sehen war.

Als sich die Stadtbahn näherte und Hunderte Fahrgäste zu den Eingängen drängten, hielt Thorsten seine Vicci zurück. „Lass uns doch die nächste nehmen, das wird viel zu voll.“ Vicci verdrehte die Augen. „Du bist doch nur neugierig, wohin der Krankenwagen gefahren ist.“ Der Andrang war dann aber so stark, dass sie überhaupt nicht mehr in die Bahn kamen und tatsächlich warten mussten. Das Blaulicht kam wieder auf die Seitenzufahrt zu, die durch das Sicherheitspersonal schnell und hektisch geöffnet wurde. Dann schoss der Rettungswagen auf die Herrenhäuser Straße in Richtung des Nordstadtkrankenhauses und verschwand.

„Na, Profiler, ein Mord im Großen Garten? Der fehlt dir doch noch in der Sammlung, oder?“, provozierte Vicci ihren Ehemann, dem schon wieder tausend Dinge durch den Kopf schossen. „Für einen betrunkenen Hochzeitsgast war diese Raserei nicht gerechtfertigt“, vermutete er. Der OFA-Leiter fühlte sich in seinem Bauchgefühl bestätigt, als plötzlich aus allen Richtungen Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn zum Schlosseingang rasten. Vicci ahnte, was kommen musste. Thorsten griff zum Telefon und rief den leitenden Einsatzbeamten an. „Thorsten Büthe vom LKA, hallo. Was habt ihr für einen Einsatz im Schloss Herrenhausen? Ist es für die Soko Pelikan interessant?“

Der Beamte teilte mit, soeben schon Kriminaloberrätin Höppner informiert zu haben. Man habe den norwegischen Nationaltorwart schwer verletzt aufgefunden. Er werde im Nordstadtkrankenhaus notärztlich versorgt. Die Braut sei verschwunden, und man hätte ihr Diadem in einem Schlauchboot an der Graft aufgefunden.

„Wo genau?“, schrie der Profiler ins Telefon.

„Ich glaube, in Höhe des SV Odin, wieso?“, fragte der Einsatzleiter des Lagezentrums.

„Das kann ich jetzt nicht erklären. Veranlassen Sie bitte eine Sofortfahndung nach einem hellen Lieferwagen und lassen Sie den Westschnellweg und die Zufahrten zur A 2 und A 352 umgehend sperren. Das sind Erkenntnisse aus der Soko Pelikan, die ich im Moment nicht näher kommentieren möchte. Dann benötige ich umgehend den KDD und die Mordbereitschaft zum SV Odin. Rückfragen leiten Sie bitte sofort auf mein Handy. Danke.“ Er legte auf und rief hektisch seiner überraschten Frau zu. „Vicci, nimm dir ein Taxi und fahr nach Hause, ich bleibe hier.“ Thorstens Frau war schon einiges gewohnt, aber so hatte sie ihren Mann noch nicht erlebt. „Kannst du mir mal sagen, was los ist?“, fragte sie perplex.

„Mensch, Vicci, der Flaschensammler mit der Schubkarre war der Pelikan!“ Dann sprintete er wie von Sinnen die Graft entlang zurück zum Vereinsheim.

Thorstens Handy klingelte und Iris Höppner wollte ihn über die Lage in Herrenhausen aufklären. „Iris, ich bin vor Ort und habe ihn gesehen“, keuchte er während des Laufens in sein Handy.

„Wen hast du gesehen?“, wollte seine Chefin wissen.

„Den Pelikan! Die Braut ist vermutlich entführt worden. Man hat ein Schlauchboot in der Graft mit ihrem Diadem gefunden. Genau in dieser Höhe kam uns ein Flaschensammler mit einer gefüllten Schubkarre vom Ufer aus entgegen. Das muss er gewesen sein. Ich habe schon mit dem verantwortlichen Leiter gesprochen. Die Fahndung nach dem Lieferwagen geht raus. Wir treffen uns mit dem KDD und der Mordbereitsschaft hier am Vereinsheim. Fahr du mit einem Team direkt ins Schloss. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren. So nah waren wir noch nie dran. Bis gleich.“

Das Handy der Soko-Leiterin klingelte und der leitende Beamte vom Dienst (LBvD) erkundigte sich nach Thorsten Büthe. Er schilderte den soeben geführten Anruf und die Maßnahmen, die er sofort realisieren sollte. Er wollte sich nur vergewissern, ob das ernst gemeint oder doch nur ein Fake sei. Die Soko-Leiterin bestätigte die Forderungen des OFA-Leiters und drängte auf unmittelbare Umsetzung. Als Thorsten atemlos am Vereinsheim eintraf, schloss der Gastwirt gerade ab und wollte Feierabend machen. Der LKA-Beamte wies sich aus und fragte, ob ihm in der Nähe ein heller Lieferwagen aufgefallen sei. „Ja, hier in der Ecke parkte ein Transporter von einem Caterer, den ich aber nicht kannte. Ich hatte mich noch gewundert, denn bei uns war der nicht.“ Thorsten hakte aufgeregt nach. „Wie lange ist das her?“ Der Gastwirt war sich der Relevanz seiner Aussage nicht bewusst und schätzte: „’ne halbe oder Dreiviertelstunde ungefähr.“

Plötzlich schossen mehrere Zivilfahrzeuge mit Blaulicht auf den asphaltierten Parkplatz und der Pächter wusste nicht, wie ihm geschah. Thorsten rief den Kollegen des KDD zu: „Lasst dort den gesamten Bereich in der Ecke frei. Da stand vermutlich das Tatfahrzeug.“ Der OFA-Leiter wandte sich erneut dem Mann zu. „Könnten Sie uns das Vereinsheim wieder aufschließen, wir würden hier gern eine Einsatzzentrale einrichten und ihre Kaffee­maschine nutzen“, bat er. Der überraschte Wirt hatte keine Widerworte und ließ die Beamten ein.

Er wurde durch die Beamten des KDD vernommen, konnte bis auf seine bereits geschilderte Beobachtung aber keine weiteren Hinweise geben. Das Schlauchboot wurde sichergestellt und der Spurensicherung zugeführt. Die Tatortaufnahme beschränkte sich auf den mutmaßlichen Angriffsort, den Pavillon, der ausgeleuchtet war wie ein Stadion bei Flutlicht. Björn Olafson war außer Lebensgefahr, aber noch nicht vernehmungsfähig. Bei der rechtsmedizinischen Untersuchung im Krankenhaus konnten typische Hautveränderungen an beiden Halsseiten und an der linken Brust diagnostiziert werden, die auf die Einwirkung mit einem Elektro­schocker hindeuteten. Die Stromschläge schienen derartig stark gewesen zu sein, dass sie den durchtrainierten Leistungssportler fast getötet hätten. Ohne das schnelle Eingreifen des Mannschaftsarztes wäre der Nationaltorwart verstorben, urteilte der Rechtsmediziner.

Thorsten und später auch Vicci ließen sich von seinen Kollegen offiziell als Zeugen vernehmen. So konnte der OFA-Leiter einmal aus dieser Perspektive erleben, wie es war, eine Zeugenbeschreibung einer Situation abzugeben, die er nur beiläufig wahrgenommen hatte. Er befand sich plötzlich in der schwierigen Lage, eine möglichst objektive Beschreibung des Täters abzugeben und diesem Druck, dass alles davon abhängig sein könnte, standzuhalten. Die Angaben des Ehepaares glichen sich in etwa, wobei dazu noch Dunkelheit herrschte und sich der Täter bewusst unauffällig gekleidet und auch so verhalten hatte. Büthes waren sogar außerstande zu beurteilen, ob sein einziges Wort „Danke“ mit Akzent oder ohne ausgesprochen wurde. Auf die Frage des Vernehmungsbeamten, ob beide die Person wiedererkennen oder gar eine Phantomskizze anfertigen lassen könnten, mussten sie passen, was gerade dem OFA-Leiter nicht leicht fiel.

Aber immerhin hatten sie eine grobe Beschreibung. Der mutmaßliche Täter war etwa 25 bis 40 Jahre alt, um die 1,80 Meter groß, schlank und machte einen nicht unsportlichen Eindruck. Ihre Angaben widersprachen zumindest nicht den Videoaufnahmen vor Harry’s New York Bar.

Iris Höppner alarmierte alle Mitglieder der Soko Pelikan und ordnete an, schnellstmöglich zurück zur Dienststelle zu kommen, was auch für die Urlauber galt. Karl Münter brach seine Wohnmobiltour nach Skandinavien ab. Er reiste aus Dänemark an und sagte sein Erscheinen für den nächsten Tag zu. Astrid Wegner wurde ihr Mallorca-­Urlaub weiter gewährt, da das LKA sonst sämtliche Urlaubs- und Rückflugkosten übernehmen musste. Cord Brammer war so heiß, dass er seine Radtour in den Voralpen direkt abbrach und noch in der Nacht nach Hause fahren wollte. Für Mona Bogner war es kein Problem, ihren Garten noch ein wenig warten zu lassen.

Iris Höppner gab allen Urlaubern bis Montagmorgen Zeit. So musste sich keiner den Hals abfahren und konnte ausgeschlafen und fit wieder loslegen.