Kapitel 58
Die Soko erwacht

Neben den LKA-Kollegen waren die spontanen Urlaubs­abbrecher unfreiwillig wieder eingetroffen und allesamt motiviert, die Arbeit in der Soko Pelikan fortzusetzen. Einzig Astrid Wegner weilte noch ein paar Tage auf Mallorca, um dann später wieder einzusteigen. Die Rückkehr in die Stammdienststellen war somit vom Tisch.

Als unmittelbar Beteiligter übernahm Thorsten Büthe die Einweisung in den Entführungsfall von Yvonne Schultheiß und schilderte beeindruckend seine vermutliche Begegnung mit dem Pelikan. Maik Holzner hatte nach Auswertung der Medien auch die Facebook- und Instagram-Accounts des Opfers und mit Einwilligung die der Brautjungfern überprüft und konnte folgende Feststellungen treffen: „Allein in den allgemein zugänglichen Medien sind viele Informationen, die der Täter für seine Vorbereitung genutzt haben dürfte, bekannt geworden. Ich bin sämtlichen neuen Freundschaftsanfragen der letzten Wochen auf Herkunft und Verknüpfung über Freundesfreunde nachgegangen. Dabei stieß ich auf eine wenige Tage alte Anfrage eines Profifußballers, den es so nicht gibt und der auch weder mit dem Bräutigam noch seinen Kontakten in Verbindung steht. Interessant ist zudem der Instagram-Account der besten Freundin der Braut, die an der Organisation des Pavillons maßgeblich beteiligt war. Hier hatte dieser angebliche Fußballer sich die Kontaktbestätigung über die Freundschaft zur Braut erschlichen und kam somit in die interne Community der Hochzeitsorganisation samt Feuerwerksüberraschung. Es war also nicht schwer, über diesen Weg an die vertraulichen Informationen zu gelangen. Kristin würde die Brautjungfer als unbewusste Komplizin beschreiben, Thomas“, führte der Medienprofi der OFA aus.

Thorsten stellte den Ermittlern das Ergebnis der Tathergangsrekonstruktion vor. „Wir haben in der Nacht auf Sonntag die Entführung vor Ort nachgestaltet und mussten uns eingestehen, dass unser Täter eine mehr als ausgeprägte Planungskompetenz hat, die er sicher einsetzt und mit Problemen lösungsorientiert und praktisch umgehen kann. Er lässt sich von einem ihm körperlich weitaus überlegenen Begleiter des Opfers überhaupt nicht beeindrucken und führt die Nummer durch wie die Militäroperation einer Spezialeinheit. Er ist ein Phantom, und wäre ich ihm nicht zufällig begegnet, hätten wir nichts. Im Gegensatz zu den bisherigen Einschätzungen zu einer eh schon kompetenten Täterpersönlichkeit schätzen wir ihn nunmehr schon fast als Profi ein, der genau weiß, wann er was zu tun und ein klares Ziel vor Augen hat. Leider wissen wir nicht, welches! Carlotta hat ihn als James Bond oder Ethan Hunt beschrieben, und ich halte das nicht für übertrieben“, stellte der OFA-Leiter fest.

„Na, dann lassen wir mal James Bond oder Ethan Hunt gegen das A-Team kämpfen. So schlecht sind wir ja nun auch nicht“, warf Cord Brammer ein.

„Ich stelle nur fest, dass wir es hier mit einem Kaliber zu tun haben, was wir in dieser Form bislang noch nicht kannten. Das sollten wir bei allen unseren Maßnahmen berücksichtigen. Ich warne vor Schnellschüssen oder gar Selbstüberschätzung, Cord“, mahnte Thorsten Büthe.

„Okay, lasst uns über neue Ermittlungsansätze sprechen. Feuer frei!“, forderte Iris Höppner ihre Mitarbeiter auf.

Thomas begann. „Was wissen wir über den Transporter? Gibt es eine Marke? Ein Kennzeichenfragment? Beschädigungen? Auffälligkeiten? Können uns die immer wieder verwendeten Aufschriften, vielleicht Magnettafeln, weiterhelfen? Ich könnte bei solchen Firmen anfragen, ob sie für einen Anbieter verschiedene Firmennamen anfertigen mussten“, schlug der jüngste Profiler vor.

„Gute Idee, Thomas. Ist notiert“, lobte die Soko-Leiterin.

Maik fuhr fort. „Ich könnte mich um die Pressefotos und TV-Videos kümmern sowie private Fotos und Videos der gestrigen Besucher anfordern. Ich würde eine Vorauswahl über ein Selektionsprogramm treffen und du könntest den Rest sichten und hoffen, dass du deine gestrige Begegnung wiedererkennst.“

Thorsten hob den Daumen. „Notiert, danke!“

„Ich könnte mich im Sinne des Täterprofils mit entlassenen Polizeibeamten aus Spezialeinheiten und durch meine Kontakte zur Bundeswehr mit entlassenen und auch traumatisierten Rückkehrern aus Krisengebieten befassen. Vielleicht strahlt wer aus diesem Bereich“, regte Carlotta an.

Thorsten kommentierte: „Super, habe ich.“

„Nina und ich würden versuchen, eine geografische Einschätzung abzugeben, wie weit vom Entführungsort unser Täter seine Opfer verbringt. Wir können mit Wahrscheinlichkeiten an Strecken, Entfernungen und Objektgrößen arbeiten, um mehrere Personen unauffällig unterzubringen.“

„Wir gehen mit dem neuen Blick noch mal alle, auch die bereits abgearbeiteten Spuren kritisch durch, vielleicht haben wir etwas übersehen“, schätzten Mona Bogner und Karl Münter selbstkritisch ein.

„Gute Idee und ist sinnvoll“, bestätigte Iris Höppner.

„Elke, Hans und Cord, kann ich das auch für euch anregen?“, schlug die Soko-Leiterin vor. Das Hannoveraner und Hildesheimer Team nickten.

Cord bot eine Alternative an: „Grundsätzlich okay, wobei ich das gern im Vieraugenprinzip angehen würde, wenn Astrid wieder an Bord ist. Ich glaube nach wie vor an das Potenzial der Bremer Fälle und würde gern ein weiteres Mal mit Knut Holberg sprechen, wenn das für euch okay ist. Sobald Astrid wieder da ist, beleuchten wir die alten Spuren noch einmal neu.“

Nach einem Blick zu Thorsten war Iris einverstanden. „In Bremen müssen wir nur total sensibel vorgehen, Cord. Aber du hattest ja einen guten Draht zu dem Reeder, oder?“, fragte Iris Höppner.

„Stimmt genau, er hat mir sein Herz ausgeschüttet. Wir kommen super klar“, klärte der junge dynamische Ermittler auf.

„Okay, dann haben alle erst mal genug um die Ohren. Viel Erfolg und passt auf euch auf.“ Mit diesen Arbeitsaufträgen schloss Kriminaloberrätin Höppner die Einsatzbesprechung.

Thomas Schulte ließ durch die Analysestelle eine Liste von Anbietern erstellen, die Werbung auf Magnettafeln vertrieben. Das war eine Anzahl von Herstellern, die deutlich im dreistelligen Bereich lag. Er formulierte seine Anfrage und bat um möglichst unmittelbare Antwort. Mehr konnte er derzeit nicht tun. In einer Matrix erstellte er eine Übersicht aller Angaben zu dem Tatfahrzeug „heller Lieferwagen“ und führte die Ergebnisse zusammen.

Maik Holzner stimmte sich mit der Pressestelle des LKA ab und verfasste eine Aufforderung in den Printmedien sowie den sozialen Netzwerken. Hier sollten Besucher auf und um die Hochzeit in Herrenhausen sämtliche an diesem Tag gefertigten Fotos und Videos an eine E-Mail-Adresse des LKA schicken. Anhand eines beim Anschlag auf den Marathon in Boston erstellten Computerprogramms konnte so eine Vorselektion bestimmter Personen erfolgen, die dann durch Zeugen wie Thorsten Büthe händisch ausgewertet werden mussten.

Carlotta Bayer-Westhold nutzte ihre psychologischen Kontakte, um traumatisierte und entlassene Spezialkräfte aus Polizei und Bundeswehr zu erfassen und mit dem Täterprofil und den Tatparametern abzugleichen.

Nina Bachmann und Kristin Bäumer nahmen sich jede einzelne Entführung erneut vor und grenzten den maximalen Aktionsradius des Täters individuell geografisch ein. In einer Matrix wurden mögliche Überschneidungen gekennzeichnet und geeignete Objekte, in denen man etwa zwanzig Geiseln festhalten könnte, in eine Überprüfung einbezogen.

Cord Brammer hatte es bewusst unterlassen, sich bei Knut Holberg telefonisch anzukündigen. Das hätte nur wieder zu Rückfragen und Beeinflussungen durch den Polizeipräsidenten geführt. Er klingelte an dem großen Tor und wurde von der Hausdame höflich nach dem Grund des Besuches gefragt.

„Richten Sie Herrn Holberg bitte aus, dass sich der ungehobelte junge Kriminalbeamte des LKA Niedersachsen noch einmal mit ihm unterhalten möchte.“

Die Hausdame bat: „Einen Moment, bitte.“ Die Gegensprechanlage wurde erneut aktiviert. „Hören Sie? Herr Holberg lässt ausrichten, dass der junge ungehobelte Beamte aus Hannover willkommen ist und eintreten möge.“

Das Tor öffnete sich und Cord Brammer trat den langen Spaziergang bis zum Wohnhaus an. Der Hanseat wartete schon vor der Eingangshalle. „Hallo, Herr Brammer, wo haben Sie Ihre charmante Kollegin gelassen?“, war der Reeder ein wenig enttäuscht.

„Die tankt noch frische Kraft auf Mallorca und lässt mich hier allein ackern“, beschwerte sich der junge Beamte.

„Dann führen wir ein Gespräch unter Männern, und ich hoffe, Sie haben gute Neuigkeiten für mich“, hoffte der Pflegevater von Patrick.

„Da muss ich Sie enttäuschen. Ich hatte eher gehofft, Sie können uns weiterhelfen“, musste Cord einschränken.

„Leider nein. Es hat sich nie jemand gemeldet. Keine Forderungen, keine Drohungen, einfach nichts. Was wollen die? Mich einfach nur fertigmachen?“ Der Reeder klang rat- und machtlos. In seiner Position konnte er nicht damit umgehen, Probleme, die es zu lösen galt, nicht mal greifen und angehen zu können.

„Ist Ihnen noch etwas zu Patrick eingefallen, was uns vielleicht auf seine Spur bringt?“

Der Reeder zuckte die Schultern. „Erst als es zu spät war, habe ich verstanden, dass ich viel zu wenig von meinem Sohn weiß, um überhaupt einschätzen zu können, wie es ihm gerade ergeht. Auch ich habe viele Fehler gemacht. Das ist mir jetzt klar geworden.“ Er war gedemütigt und gestraft.

„Wie geht es Ihrer Frau, Herr Holberg?“, versuchte der Beamte zu erfahren.

„Schlecht. Sie kann im Moment nicht hier sein und schon gar nicht mit mir zusammenleben. Sie wirft mir vor, für den Tod von Greta und die Entführung von Patrick verantwortlich zu sein, und ich kann ihr keine Argumente entgegenbringen, die das entkräften. Das macht mich einfach fertig“, gab Holberg zu. Vom aufrechten Hanseaten war keine Spur geblieben. Vor dem Beamten der Soko Pelikan stand ein gebrochener Mann, der keinen familiären Rückhalt mehr hatte und in seinem Reichtum vereinsamt war.

„Darf ich mir Patricks Gästehaus noch mal anschauen? Vielleicht finde ich etwas, was wichtig sein könnte“, bat der Kriminalkommissar.

„Gern. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich hierbleibe. Nehmen Sie den Schlüssel. Bis gleich.“

Cord Brammer hielt sich über eine Stunde in den großzügigen Räumlichkeiten auf, die Patrick allerdings völlig verdrecken ließ. Überrascht war Cord, als er unter der Matratze seines Bettes ein kleines Fotoalbum fand, in dem Patrick auf den Bildern etwa acht Jahre alt war. Es zeigte einen Urlaub am Gardasee, in dem er mit seiner älteren Schwester Greta am Strand spielte und mit seinen Pflegeeltern auf einem Motorboot über den See fuhr. Patrick saß auf dem Schoß von Knut Holberg, hatte eine Kapitänsmütze auf und hielt stolz das Steuerrad. Wenn man die Umstände nicht kannte, musste man hier von einer äußerst glücklichen Familie ausgehen. Cord Brammer steckte das Album ein, schloss das Gästehaus ab und ging zurück ins Haupthaus. „Haben Sie noch etwas gefunden, was Ihnen weiterhilft, Herr Brammer?“, wünschte Knut Holberg zu erfahren.

„Leider nein, Herr Holberg. Ich hoffe, ich habe Ihre wertvolle Zeit nicht zu lange in Anspruch genommen, und möchte mich verabschieden“, kündigte der Ermittler an.

„Ach wissen Sie, Herr Brammer, die Phase, als ich noch wertvolle Zeit hatte, ist längst vorbei. Sie sind immer willkommen. Vielen Dank für Ihren Besuch.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Reeder und ging langsam und kraftlos in seine Villa zurück. Cord Brammer hielt das Fotoalbum unter der Jacke fest in der Hoffnung, es noch einmal gebrauchen zu können. Dem Reeder sagte er aber davon nichts.

Sein Kollege Thomas Schulte stellte bei der Recherche nach den Anbietern von Magnettafeln fest, dass dieser Weg zumindest kurzfristig keinen Erfolg versprach. Die Hersteller aus Deutschland waren teilweise nicht bereit, freiwillig Kundendaten herauszugeben. Es war allerdings auch unmöglich, einen pauschalen richterlichen Beschluss zur Herausgabe der Daten zu erhalten. Die im Netz vorhandenen unzähligen Anbieter aus Fernost reagierten überhaupt nicht, sodass sie diese Ermittlungsrichtung vorerst aus ökonomischen Gründen vernachlässigten.

Die Bitte der Polizei um Zusendung angefertigter Fotos und Videos vom Tag der Hochzeit in den Herrenhäuser Gärten stieß auf eine enorme Resonanz. Selbst die Medien stellten entsprechende Dokumente großzügig zur Verfügung. Durch die Cybercrimeabteilung des LKA wurde das Material geprüft und für die automatische Aufbereitung herangezogen. Bis zur Vorbewertung und schließlich individuellen Prüfung waren allerdings noch Tage und vermutlich sogar Wochen erforderlich, um diese Massendaten zu verarbeiten.

Carlotta Bayer-Westhold hatte ihr Anliegen in den Personalabteilungen der infrage kommenden Dienststellen vorgebracht. Die Kooperationsbereitschaft hielt sich in Grenzen, da Persönlichkeitsrechte betroffener Menschen tangiert waren und die Zurückhaltung der Dienststellen durchaus gerechtfertigt war. Die Psychologin ließ sich ein Schreiben des Innenministeriums mit der Bitte um Unterstützung in einer absoluten Ausnahme- und aktuellen Gefahrensituation ausstellen, das zumindest ein internes Prüfverfahren in den Polizeibehörden zuließ. Leider war die Bundeswehr nicht im Ansatz bereit, Angaben über aktive oder ehemalige Angehörige von Spezialkräften herauszugeben, sagte aber eine interne Prüfung zu.

Nina Bachmann und Kristin Bäumer stiegen akribisch in die bisherigen Fälle ein. Sie prüften alle Ansatzpunkte, die sie zu einer Erkenntnis führen konnten, in welche Richtung sich der Entführer begeben hatte und welcher Radius um die Tatorte in einem wahrscheinlichen Rahmen liegen würde. Über die Kataster- und Grundbuchämter ließen sie sich Hofanlagen und insbesondere ländliche Objekte aufführen, die leer standen oder bei denen die Besitzverhältnisse ungeklärt waren. Entsprechende Immobilien wurden gekennzeichnet und mussten einer Überprüfung unterzogen werden.

Diese Verfahren waren insgesamt langwierig und ließen zumindest keinen schnellen Erfolg ewarten, den die Soko dringend benötigte. Die Standardmaßnahmen zur Fahndung nach dem hellen Transporter brachten auch kein Ergebnis. Es hatte sich niemand gemeldet, dem der Van aufgefallen war. Er war weder bei einer Geschwindigkeitskontrolle noch einem Rotlichtverstoß in Erscheinung getreten. Die Soko hatte sogar Tankstellenpächter aufgefordert, ihnen Videos von Tankvorgängen heller Transporter zuzusenden. Allein auf der A 7 waren es Tausende von Dateien, und das war kaum abzuarbeiten. Dazu kam ein Radius dieser Klein-Lkws von über 1.000 Kilometern mit einer Tankfüllung. Wie oft musste der Täter denn tanken? Egal, was die Soko veranlasste, es führte zu keinem Durchbruch.

Der Pelikan blieb ein Phantom.