Die Traurednerin war bei den persönlichen Worten angekommen, die an das Brautpaar gerichtet waren. Mit blumigen Formulierungen las sie die Vita von Cord vor, den man als mustergültigen Ehemann einfach lieben musste. Die Braut wurde komplett in den Dreck gezogen und ihr mangelndes Vertrauen vorgeworfen. Der Ton wurde aggressiver.
Thorsten versuchte Blickkontakt mit Marina Swodicz aufzunehmen. Sie hatte als einzige einen Radius, der es ihr ermöglichte, an den Bräutigam und seine Waffe am Boden zu gelangen. Marina war vorsichtig, erwiderte aber den Blick und blieb aufmerksam. Sie wusste nichts von den herannahenden Einsatzkräften und ahnte, dass die Nummer hier nicht gut ausgehen konnte. Alle würden etwas riskieren müssen, um hier einigermaßen heile rauszukommen.
Der Bräutigam erhob sich, hielt seine Traurede und beschimpfte seine Braut aufs Übelste. Sie schaute weiter zu Boden, und Cord redete sich in Rage. Mit einem Seitenblick sah Astrid resigniert zu Thorsten. Seine Mimik versuchte ihr deutlich zu machen: „Gib Obacht und kapituliere nicht!“ Da erwachte der Kämpfergeist in Astrid. Sie hatte begriffen, ihre Augen wurden wachsamer. Plötzlich hatte sie wieder einen Überlebenswillen. Marina hatte den wortlosen Kontakt verfolgt und nickte Thorsten leicht zu. Cord schrie seine Astrid nur noch an, sodass Thorsten seiner Tochter Emma zuflüstern konnte: „Wirf dich auf mein Zeichen einfach flach auf den Boden.“ Emma nickte unsicher, hatte aber verstanden.
Als die Traurednerin es wagte, ihre Zeremonie fortzuführen, um Cords Aggressivität einzudämmen, griff er blitzartig zur Machete und hielt sie der Traurednerin so dicht an den Hals, dass es blutete. Cord drohte: „Wage das nicht noch einmal!“ Er starrte mit wirrem Gesichtsausdruck zu Sissy von „Carry Me“ und flüsterte: „Jetzt das Ave-Maria bitte! Aber schön laut und klar. Reiß dich zusammen!“ Völlig überraschend schmetterte Sissy das Ave-Maria so kräftig und gefühlvoll, dass allen allein schon ohne diese angespannte Situation die Tränen kamen. Auch Cord heulte wie ein Schlosshund, während Sissy versuchte, Zeit zu schinden, und Strophen sang, die vermutlich zuvor noch niemand gehört hatte. Er rief mit erhobener Machete: „Stopp! Das reicht, Sissy.“ Dann flüsterte er wieder: „Das war sehr schön.“ Dann wieder unüberhörbar: „Jetzt die Trauzeremonie bitte!“
Die Traurednerin begann mit zitternder Stimme: „Willst du, Astrid Wegner, den dir Anvertrauten, Cord Brammer, zu deinem Mann annehmen und ihn lieben, bis dass der Tod euch scheidet, so spreche: Ja, ich will!“ Astrid schluchzte und bekam kein Wort heraus. Der Bräutigam brüllte in die Kirche: „Ja, sie will! Habt ihr es alle gehört?“ Stille. „Mein Trauzeuge, hast du es gehört, du Arschloch?“ Dabei schnitt er ihm mit der Machete sein rechtes Ohr ab. Der Mann schrie vor Schmerzen. „Ein Ohr bleibt dir noch. Hast du es gehört? Dann sag: ja, sie will!“, was der Trauzeuge unter Qualen wiederholte. „Weiter!“, befahl der Pelikan der Traurednerin. „Willst du, Cord Brammer, die dir Anvertraute, Astrid Wegner, zu deiner Frau annehmen und sie lieben, bis dass der Tod euch scheidet, so spreche: ja, ich will!“
Thorsten bekam ein Foto von den SEK-Kräften vor dem Scheunentor auf seine Kamera. Jetzt musste alles passen.
Cord fuchtelte mit der Machete in der Luft: „Nie im Leben! Ich will die da!“, und zeigte auf das Gesicht seiner Ex-Braut Susanne. Als er die Machete in Astrid Wegners Richtung schwang, schrie Thorsten: „Astrid, lauf!“, worauf die Braut schlagartig hochschnellte und in kürzester Zeit nach hinten den Mittelgang entlangsprintete. Brammer drehte sich kurz genervt zu Thorsten um und wollte die Pistole aufnehmen. Doch der Profiler warf seine neue, schwere Kamera in Richtung der Waffe und katapultierte die Pistole so den Treppenabsatz herunter. Cord ging mit erhobener Machete einen Schritt auf Thorsten zu, als dieser seiner Tochter Emma zurief: „Runter!“ Dabei betrat der Täter den Aktionsraum von Marina Swodicz, die ihren ganzen Mut mit einem wütenden Schrei zusammennahm und ihm den massiven Kerzenständer gegen die Knie schlug, den sie vom Altar genommen hatte. Noch im Fallen versuchte der Pelikan mit seiner Waffe auf Thorsten einzuschlagen, doch plötzlich brach Cord im Altarraum zusammen. Er war von hinten durch zwei Kugeln in die Brust getroffen worden. Das SEK stürmte die Kapelle, konnte aber keine weiteren Täter ausmachen.
Die Überlebenden weinten hemmungslos und schrien die Anspannung der letzten Stunden in Todesangst regelrecht heraus. Nachdem die Geiseln von den Ketten befreit worden waren, lagen sich alle in den Armen. Thorsten bedankte sich bei der couragierten Reporterin. „Auch wenn Sie mir die ganze Zeit echt auf die Nerven gegangen sind, war das ein kräftiger Schlag im richtigen Moment. Danke.“ Die Journalistin war noch außer Atem, aber total erleichtert. „Puuh, das war haarscharf. Ich hatte zwischendurch wenig Hoffnung, dass wir aus dieser Nummer heile rauskommen, Herr Büthe.“ Dann umarmte sie Emma, die schluchzend kein Wort herausbekam.
„Ach, Herr Büthe“, wandte sich Frau Swodicz an den Profiler.
„Thorsten, bitte. Ich glaube, Lebensretter sollten sich duzen, außerdem spreche ich den Nachnamen sowieso immer falsch aus“, bot er an.
„Gern, Thorsten, meinst du, ich bekomme als Lebensretterin auch einfacher einen Interviewtermin?“, blieb sie gleich am Ball.
„Ich glaube, wir alle haben gerade so einiges aufzuarbeiten und sollten danach telefonieren. Außerdem wirst du bei deinen Kollegen eine begehrte Interviewpartnerin sein, bei dem, was du heute erlebt hast.“
Thorsten nahm seine Emma in den Arm und führte sie an den Bänken mit den toten Bräuten entlang ins Freie. Doch Emma löste sich plötzlich, zog Patrick Holberg an der enthaupteten Braut vorbei in den Mittelgang und begleitete ihn nach draußen, wo ihn sofort ein Notarzt übernahm.
Thorsten hakte Yvonne Schultheiß ein, die sich kaum von der Bank lösen wollte, und vertraute sie einem Rettungsteam an.
Unter Tränen liefen Vicci und Celina Emma der anderen Hälfte ihrer Familie entgegen und umklammerten die beiden erleichtert. Thorsten klatschte sich noch mit seinem OFA-Team und Iris Höppner ab, bevor sie ihre Arbeit in der Kapelle aufnahmen.
„Hey, Chef, kannst du uns drinnen mal auf Stand bringen, wenn du ausgekuschelt hast?“, frotzelte Kristin lächelnd. Thorsten streckte nur den Daumen nach oben, ohne sich von Vicci und seinen Töchtern zu lösen.