Iris Höppner und dem OFA-Team bot sich ein mehr als skurriles Bild – wie aus einem schlechten Zombiefilm. In Brautkleider gehüllte tote Frauen saßen aufrecht mit Blick zum Altar, als ob sie immer noch der Zeremonie folgen würden. Der Kopf einer Leiche lag direkt im Gang, und im Altarraum befand sich ihr ehemaliger Kollege Cord Brammer im Smoking. Auf dessen Rückenbereich hatte sich um die zwei Einschusslöcher herum ein Blutsaum gebildet. Der Leichnam hielt in seiner rechten Hand eine riesige Machete fest, die direkt auf die Figur des gekreuzigten Jesus Christus zeigte.
Eine Durchsuchung des ehemaligen Bauernhofes verlief negativ. Es konnten weder weitere Entführte noch Leichen gefunden werden. Im Innenhof hatten inzwischen drei Notärzte in fünf Rettungswagen die Versorgung der Verletzten oder unter Schock stehenden Geiseln übernommen. Vincent Lessing wurde mit Blaulicht in die Medizinische Hochschule Hannover gefahren. Die Rettungskräfte hatten sein abgetrenntes Ohr gekühlt, damit man in der plastischen Chirurgie versuchen konnte, es wieder anzunähen. Patrick Holberg war trotz der Vorräte stark dehydriert, hatte aber zumindest keine körperlichen Verletzungen. Yvonne Schultheiß mussten die erfrorenen Zehen amputiert und Teile der bereits kältebetroffenen Ohrmuschel abgenommen werden. Björn Olafson schloss sie glücklich in seine Arme und scherzte bei der Diagnose, dass sie die Bewerbung in die norwegische Damennationalmannschaft mit diesen Füßen wohl vergessen könne.
Der kleine Ort Grindau wurde schlagartig weltbekannt und von einer Armada an TV-Teams aufgesucht. Für weiterhin eintreffende Polizeikräfte musste eine Straße komplett freigehalten und der Bauernhof großräumig abgesperrt werden.
Das Knattern eines Polizeihubschraubers ließ alle Einsatzkräfte und Journalisten nach oben schauen. Nach der Landung auf einem Feld direkt am Rand des Bauernhofes stieg neben dem Bremer Polizeipräsidenten auch der Reeder Knut Holberg aus.
Die Soko-Leiterin ging den beiden entgegen und sprach den Adoptivvater direkt an: „Hallo, Herr Holberg, Patrick lebt. Er hat viel durchgemacht, ihm geht es körperlich aber recht gut und er wird gerade im Rettungswagen hier vorn links behandelt. Ich begleite Sie.“
Der Reeder hatte Tränen in den Augen und ergriff mit seinen beiden großen Händen den Arm von Iris Höppner. „Herzlichen Dank für alles!“
Der Bremer Polizeipräsident und die Kriminaloberrätin nickten sich wortlos zu. Als Iris Höppner später einen Blick in den Rettungswagen warf, sah sie Knut Holberg in den Armen seines Sohnes, der irgendein Fotoalbum innig umklammerte. Beide Männer hatten in dieser kurzen, schweren Zeit viel gelernt.
Thorsten ging auf die Gruppe zu, die sich mit Familie Büthe in einem Versorgungszelt der Feuerwehr zurückgezogen hatte. Hier saßen das Friseur- und Visagistenteam mit dem Gesangsduo „Carry Me“ und der Traurednerin zusammen und ließen das Ganze Revue passieren. Thorsten bedankte sich bei allen für ihre Courage, das Szenario in solchem Maß durchgezogen zu haben.
„Die Kollegen werden euch jetzt vorbei an den Presseleuten nach Hause bringen. Ich kann es nicht verbieten, aber bitte bleibt zurückhaltend, wenn die Reporter auf euch zukommen und Interviews führen wollen. Bitte sprecht vorher mit uns. Okay?“, versuchte der erfahrene Profiler die Betroffenen zu sensibilisieren.
Dann wandte er sich an seine Frau: „Vicci, nehmt ihr Emma bitte mit, ich muss die Kollegen über alles informieren, dann komme ich mit deinem Auto nach.“
Vicci zog eine Augenbraue hoch. „Geht’s danach gleich zum nächsten Fall?“
Thorsten lachte. „Ich kann ja meine Chefin um ein paar Tage Urlaub oder Nachermittlungen in Kühlungsborn bitten. Okay?“ Sie gaben sich einen innigen Kuss und verabschiedeten sich.
Thorsten sah einen riesigen Pulk an Journalisten. Hunderte Kameras und Mikrofone waren in die Mitte gerichtet. Wer gab denn da schon das erste Interview? Die Tatortgruppe des LKA hatte den großen Spurenkomplex auf dem Bauernhof übernommen. Eine Drohne nahm gerade die Übersichtsaufnahmen des Bauernhofes auf. Thorsten bat den Drohnenpiloten, direkt über die Ansammlung der Journalisten zu fliegen. Er staunte nicht schlecht, als Marina Swodicz die ganze Meute mit euphorischen Schilderungen unterhielt und er leider nur Gesprächsfetzen „... da griff ich mir den massiven Ständer der Taufkerze vom Altar und schlug ihm ...“ verstand. Immerhin musste die Presse dann keine anderen Opfer interviewen, und eine detailliertere Beschreibung als Marina Swodicz konnte keiner geben. Thorsten stutzte. Hatte ihr eigentlich jemand ihre Kamera mit den ganzen Fotos vom Ablauf der gruseligen Zeremonie abgenommen? Er vermutete allerdings, dass die Reporterin sie zumindest nicht freiwillig herausgegeben hätte.