Kapitel 3
Ein neuer Fall?

Das Team der Zentralstelle Gewalt im LKA, zu dem auch die Vermisstenstelle und die Fallanalytiker der OFA zählen, wertet jeden Morgen sämtliche Tötungs-/Sexualdelikte und Vermisstenfälle aus.

In Fuhrberg bei Celle hatte jemand seine 26-jährige Frau als vermisst gemeldet. Als der Ehemann abends nach Hause kam, steckte der Schlüssel von außen in der unverschlossenen Tür; das Handy und Portemonnaie der jungen Frau lagen im Wohnzimmer. Im Haus war alles unauffällig, es schien nichts durchsucht worden zu sein, alle Wertgegenstände wirkten unangetastet.

Die OFA konnte landesweit aktuelle Ermittlungsvorgänge einsehen, sodass sich Nina Bachmann die Befragung des Ehemannes ansah.

„Kommt ihr bitte mal rüber!“, bat sie das Team in ihr Büro. „Wie lange ist die Entführung der Braut im Sheraton her?“, fragte Nina in die Runde.

„Das war vor sechs Wochen, Mitte Dezember“, reagierte Kristin Bäumer als Erste.

„Dann hört euch das mal an: Gestern meldete Herr Thiel, dass seine Ehefrau nicht zu Hause war, als er abends von der Arbeit kam. Auffällig war, dass der Haustürschlüssel von außen steckte und Licht in der Küche brannte. Das Handy und Portemonnaie lagen unangetastet im Wohnzimmer. Ihm fiel nur auf, dass die Hausschuhe fehlten, sodass er annahm, sie sei bei ihren befreundeten Nachbarn, was allerdings nicht der Fall war. Als er sich drüben nach seiner Frau erkundigen wollte, vermutete die Nachbarin, dass Frau Thiel anscheinend ein Hermes-Paket angenommen und dem rechtmäßigen Besitzer gebracht hatte.

Ein Hermes-Bote parkte vor etwa zwei Stunden ein paar Minuten direkt vor dem Haus. Als Herr Thiel sie auch bei den anderen Nachbarn nicht antreffen konnte, schaute er in ihr Handy und sah zwei Anrufe am Nachmittag, einen um 15.08 Uhr und einen um 16.02 Uhr. Eine Nummer wurde allerdings nicht übertragen.

Er rief bei allen Familienangehörigen und Freunden an, bevor er sich an die Polizei wendete. Am Abend bekam Herr Thiel dann einen Anruf von einer Frau, die sich für das Brautkleid bei eBay-Kleinanzeigen interessierte, welches Frau Thiel nach der Hochzeit im letzten Sommer inseriert hatte. Er bat die Anruferin, sich morgen noch einmal zu melden, und sah im Ankleidezimmer nach dem Brautkleid. Es war nicht mehr da!“, schloss sie ihren Bericht.

Stille.

Thorsten griff zum Telefon und rief den Leiter des Fachkommissariats 1 in Celle, Steffen Lange, an.

„Hallo, Steffen, es geht um den Vermisstenfall Thiel. Wir müssen reden. Passt es euch in einer Stunde?“, kündigte Thorsten das OFA-Team an. Steffen Lange stimmte zu.

Die Fallanalytiker aus Hannover hatten schon oft mit den Celler Kollegen zusammengearbeitet, eine gegen­seitige Vorstellung erübrigte sich daher, sodass sie gleich zur Sache kamen.

„Euer Fall in Fuhrberg könnte etwas mit der Brautentführung aus dem Pelikanviertel in Hannover zu tun haben. Wie ist die gegenwärtige Sachlage?“, eröffnete Thorsten fragend das Gespräch.

Steffen Lange stellte den aktuellen Ermittlungsstand dar und war auch schnell fertig, sie hatten nämlich kaum Ansätze.

Ein Team der Celler Ermittler befand sich in der Hermes­-Zentrale in Langenhagen und prüfte die Auslieferungen in Fuhrberg.

Die Nachbarschaftsbefragungen hatten nur Hinweise auf den Transporter ergeben, kein Kennzeichen, keine Personenbeschreibung, nichts. Der Ehemann wurde gerade nebenan vernommen und das familiäre und soziale Umfeld gecheckt. Parallel liefen die Auswertungen der Mobilfunkdaten, der Verkehrsüberwachungskameras und der Blitzeranlagen.

„Wann genau und wo haben die Eheleute Thiel geheiratet? Habt ihr das schon in Erfahrung gebracht?“, warf Kristin Bäumer mit Blick auf Steffen Lange in die Runde.

„Das kann ich euch nicht sagen“, antwortete der Kommissariatsleiter achselzuckend. „Ihr könnt ihn selbst fragen, er sitzt nebenan“, schlug er vor.

Gemeinsam mit Steffen Lange gingen Kristin und Thorsten in den Vernehmungsraum, entschuldigten sich für die Störung und baten das Celler Vernehmungsteam, sich einbringen zu dürfen. Eine junge Kollegin, die sich als Astrid Wegner vorstellte, sowie ein Beamter namens Cord Brammer nickten und machten Thiel mit dem Fall­analytiker vom LKA bekannt.

Matthias Thiel war ein hochgewachsener, attraktiver Mann um die dreißig und trug ein modisches Business­outfit.

Er wunderte sich über den hohen personellen Aufwand, nahm die Situation nicht ganz ernst und rechnete jede Sekunde mit der Rückkehr seiner Frau, die sich in der Nachbarschaft festgequatscht hatte.

Kristin nahm den Ball empathisch auf. „Das hoffen wir auch, Herr Thiel. Dennoch müssen wir sicherheitshalber abklären, ob es auch andere Gründe geben kann, dass sich Ihre Frau bislang nicht gemeldet hat. Okay?“ Matthias Thiel nickte unsicher.

„Herr Thiel, was machen Sie beruflich?“, versuchte Kristin sich heranzutasten.

„Ich bin Analyst für Schiffsfinanzierungen bei der Nord/LB“, antwortete er leise.

„Und Ihre Frau?“, setzte Kristin fort.

„Inet arbeitet bei Exon Mobil in Celle in der Personalabteilung“, entgegnete er fast wie in Trance.

„Wann und wo haben Sie geheiratet, Herr Thiel?“, blieb Kristin am Ball.

„Am 1. August letzten Jahres. Standesamt im Celler Schloss, Kirche am Französischen Garten und die Feier war im Fürstenhof. Aber was ...“

Kristin hob eine Hand. „Ich will es Ihnen gleich erklären, bitte antworten Sie. Gab es bei der Trauung oder auf der Feier irgendwelche Situationen oder Begegnungen, mit denen Sie oder Ihre Frau nicht gerechnet haben?“, fragte Kristin weiter.

„Nein, verdammt noch mal, was hat das alles mit dem Verschwinden meiner Frau zu tun?“, brüllte Matthias Thiel die Beamten an. Er war nun hellwach und außer sich.

Thorsten legte die Karten auf den Tisch. „Herr Thiel, vor sechs Wochen ist in Hannover eine Braut während der Feier entführt worden, und wir müssen überprüfen, ob das mit der gegenwärtigen Situation Ihrer Frau zusammenhängen könnte.“

„Unsere Hochzeit ist über ein halbes Jahr her, wie soll das zusammenhängen?“, fragte Matthias Thiel verständnislos.

„Wann hat Inet ihr Brautkleid inseriert?“, sprang Kristin ein.

„Vor ein bis zwei Tagen. Ich weiß es nicht genau. Sie wollte es erst aufheben, dann haben wir uns zum Verkauf entschlossen“, antwortete er jetzt ruhiger, aber völlig verunsichert.

„Haben Sie Zugriff auf die Anzeige, Herr Thiel?“, setzte Thorsten ein. Matthias Thiel betätigte sein Smartphone und händigte es Thorsten aus mit den Worten: „Wir haben einen gemeinsamen Account bei ebay-Kleinanzeigen.“

„Biete ein Designerbrautkleid in Creme, Größe 38, an. Es hat keinerlei Beschädigungen, ist frisch gereinigt und einfach wunderschön. Preis VB.“

In der Anzeige waren zudem sechs Fotos der Braut veröffentlicht, wobei das Gesicht jeweils gepixelt und nicht zu erkennen war. Als Kontaktmöglichkeit waren eine Handy­nummer und E-Mail-Adresse angegeben.

„Herr Thiel, würden Sie uns die Zugangsdaten zu diesem Account überlassen, um zu überprüfen, wer sich darauf gemeldet hat?“, bat Thorsten. Matthias Thiel nickte nur.

Ihnen fiel sofort eine E-Mail auf, die Inet Thiel offensichtlich mit: „Hallo, das Kleid ist noch da. Gegen 17.00 Uhr bin ich zu Hause. Sie können es gern anschauen, aber auch direkt von Hermes abholen lassen. Ich wusste gar nicht, dass die auch so etwas machen und auch noch direkt die Barzahlung anbieten. Toller Service. Meine Adresse lautet: 30900 Fuhrberg, Alte Burgwedeler Straße 187a. Ich freue mich, bis gleich“, beantwortet hatte.