Kapitel 1
Die zeugenschaftliche Vernehmung

Anja Wilkens saß im Gang des Fachkommissariates für Tötungs- und Sexualdelikte in Hannover. Sie wurde von Kriminaloberkommissarin Patricia Vogt mit einem freundlichen Lächeln begrüßt und ins Büro gebeten. Den angebotenen Kaffee sowie eine Flasche Mineralwasser nahm Anja dankend an, beides konnte sie jetzt gut gebrauchen.

In dem modernen, aber zweckmäßigen und recht kleinen Büro stapelten sich rote Aktenberge. An den Magnetwänden waren Tabellen und Zeitleisten sichtbar. Außerdem fielen ihr Fotos von zwei hübschen Frauen auf, und sie wunderte sich erst, warum weitere Aufnahmen darunter wohl bewusst verdeckt worden waren.

Als ob Oberkommissarin Vogt ihre Gedanken erahnte, erwähnte sie fast emotional: „Diese Fotos konnte ich Ihnen nicht zumuten.“

Anja nahm an, dass es sich um dieselben Frauen handelte, aber sie sich von den geschmackvollen Fotos darüber offensichtlich stark unterschieden.

Die Kriminalbeamtin stellte sich inzwischen kurz vor und versuchte bewusst, Anja zu beruhigen, um eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Sie erklärte ihr weiter in einem nun doch offizielleren Tonfall, dass sie Zeugin eines Verbrechens war und dass sie nun eine sogenannte zeugenschaftliche Vernehmung durchführen würde. Die Aussage sei freiwillig, wobei sie aber die Wahrheit sagen müsse. Soweit okay. Anja müsse sich nicht selbst belasten und könne zudem die Aussage verweigern, wenn sie mit dem Täter direkt verwandt oder auch verschwägert sei.

Anjas irritierter Blick veranlasste Kriminaloberkommissarin Vogt nun doch, das typische Beamtendeutsch zu übersetzen, was Anja auch für nötig erachtete. Solche Formulierungen kannte sie nur aus spannungslosen Krimis.

Warum sollte sie sich selbst belasten? Wieso sollte ich mit diesem Typen verwandt sein? Aber wahrscheinlich waren diese Belehrungen nur die übliche Vorgehensweise.

Anja spürte, dass sich jetzt auch die Beamtin wohler fühlte, als sie den formellen Teil hinter sich hatte.

„Ich würde Sie gerne näher kennenlernen“, begann Patricia Vogt, „erzählen Sie doch bitte über sich.“

Anja Wilkens ertappte sich dabei, dass sie kurz und knapp ihren Lebenslauf herunterrasselte wie in einem Vorstellungsgespräch. Sie ergänzte, dass sie derzeit als Softwareentwicklerin für ihre Firma auf der CeBIT, der weltgrößten Computermesse, in Hannover arbeite, und beschrieb ihren aktuellen Tagesablauf.

Anja Wilkens war verheiratet, Mutter zweier Jungen im Teenageralter und wohnte mit ihrer Familie in Schwerin. Sie war während der Messe mit ihren Kollegen im Hotel am Stadtpark untergebracht und hatte heute einige freie Stunden, die sie für einen Lauf durch die Eilenriede genutzt hatte.

Patricia Vogt war froh, dass ein Diktiergerät die Gespräche aufzeichnete. Kein Mensch hätte in der Geschwindigkeit mitschreiben können.

Durch die aktive Mimik und Gestik der Beamtin erkannte Anja eine geschulte und aufmerksame Gesprächspartnerin, mit der man auch einen interessanten Abend bei einem leckeren Essen und einem Glas Rotwein verbringen könnte. Patricia Vogt war etwa 40 Jahre alt und wirkte fast attraktiv, wäre da nicht das streng zusammengebundene blonde Haar und das dienstliche Umfeld mit vermutlich nur schrecklichen Themen gewesen.

Und genau dazu kam die Oberkommissarin nun. Die Warm-up-Phase war beendet.

Die Beamtin stieg in die Vernehmung ein. „Kommen wir nun zu Ihrem Entspannungslauf. Erzählen Sie einfach mal. Bitte auch die Dinge, von denen Sie glauben, sie seien nicht wichtig. Sie dürfen auch Ihre Emotionen schildern, insbesondere bei der Begegnung mit der männlichen Person. Beschränken Sie sich aber bitte auf echte Wahrnehmungen.“

Kriminaloberkommissarin Vogt ließ Anja frei erzählen und machte sich nebenbei einige Notizen, was aber nicht störte.

Anja, die sich im Alltag und besonders im Berufsleben als absolut tough bezeichnen würde, war überrascht, dass sie keine Worte fand, als sie erst den Mann und dann auch die verletzte Frau beschreiben wollte. Patricia Vogt legte eine Hand auf die zusammengepressten Finger der Zeugin. Ihr einfühlsamer Blick ließ sie schließlich weitersprechen.

Anja beantwortete noch einige Nachfragen, soweit sie konnte, und war völlig durchgeschwitzt, als sie erleichtert einen stärkeren Druck auf ihren Händen spürte und die Kommissarin sie lobte: „Anja, das haben Sie wirklich gut gemacht!“

Dann goss Patricia Vogt frischen Kaffee nach und reichte ihr ein neues Glas Mineralwasser. Anja fühlte sich bei Patricia gut aufgehoben und ernst genommen. Auch sie spürte ein echtes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Kriminalbeamtin, die sie erst seit zwei Stunden kannte, fast geduzt hätte.

Kommissarin Vogt telefonierte kurz und erwähnte, dass der Phantombildzeichner des LKA Niedersachsen eingetroffen sei. „Kann ich Ihnen zumuten, ihm die Person zu beschreiben, der Sie begegnet sind? Je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr, dass sich Ihre Erinnerungen beeinflussen lassen.“

Anja war eigentlich völlig fertig. Sie wollte nur unter die Dusche und nach dem letzten Messetag nach Hause. Pa­tricia Vogt hatte sie jedoch so respekt- und vertrauensvoll behandelt; jetzt abzusagen, wäre einfach nicht fair gewesen, zumal der Aufwand später auch viel größer gewesen wäre, wieder hierherzukommen. Sie war einverstanden.