19. KAPITEL

Bei allen mageren Hageren!

Als ich wieder allein war, nahm ich meine Kuchen und ging zu der hinteren Zellenmauer. Ich entschied, dass meine einzige echte Fluchtmöglichkeit war, einen Tunnel zu graben, und zwar je eher, desto besser. Ich kratzte also gerade mit meiner großen Zehenkralle am Mörtel herum, als eine heisere Stimme links von mir ertönte.

»Sag mal … würdest du mir vielleicht einen abgeben?«

Da flippte ich aus. Ich sprang ungefähr einen Meter in die Höhe und mein Fell stand komplett zu Berge. Es kann sein, dass ich loskreischte wie eine Zischeidechse, aber zum Glück gibt es keine Videoaufzeichnungen von besagtem Schrei.

Ich wich in die hinterste Ecke zurück, während mein Herz in meiner Brust wütete wie ein Speedodrache, der zu viel Red Bull gekippt hat.

Ich kniff die Augen zusammen und suchte nach der Herkunft der Stimme. Aber ich konnte nur diese blöden gefälschten Totenschädel und die Vogelscheuche an der Wand erkennen.

»Wer ist da? Wer hat das gesagt?« (Troll-Kwon-Do gibt es eigentlich gar nicht, aber ich war außer mir vor Angst, klar?)

Einen Moment lang war alles still, dann sah ich, dass sich der Kopf der Vogelscheuche bewegte. Und merkte gleichzeitig, wie sich mein ganzer Körper mit Drachenhaut überzog. (Falls ihr nur Gänsehaut kennt: Drachenhaut frisst Gänsehaut zum Frühstück!)

Leise raschelnd ruckte der Kopf der Vogelscheuche aufwärts, bis ich ein Paar sehr echter Augen sah, die mich anblickten.

Ein trauriges Grinsen glitt über das Gesicht, das allerdings größtenteils von einem verdreckten, struppigen Bart bedeckt war.

»Ich … ich hab seit Tagen nichts mehr gegessen«, krächzte der Vogelscheuchenmann.

»Du bist …«, stammelte ich, »… du bist echt?« Mein Herz galoppierte wie ein königliches Pony, als ich mich ihm näherte. Ich streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. Er war warm. »Ganz echt«, krächzte er, was zu einem furchtbaren Hustenanfall führte, der seinen Körper erzittern und die Ketten klirren ließ. Meine Familie hatte im Laufe der Jahre teils harte Zeiten durchmachen müssen und so war mir das Elend des Hungerns nur allzu vertraut. Ich zog schnell einen Kuchen aus meiner Tasche und hielt ihn an seinen Mund. Er verschlang ihn gierig und grunzte vor Vergnügen wie … na ja, wie ein Typ, der ganz schön lange ohne Essen an die Wand gekettet gewesen ist.

Er bat mich, ihm ein wenig Wasser aus einer flachen Pfütze auf der anderen Seite der Zelle zu bringen. Ich schaffte es, gerade genug mit meinen Pfoten zu schöpfen, dass er den Kuchen damit hinunterspülen konnte.

Unappetitlich, aber wirkungsvoll.

Es ist seltsam – als ich zusah, wie er den Kuchen hinunterschluckte, fühlte ich mich … richtig gut. Ich stellte mir vor, wie Gramps sagte: »Die Belfords helfen immer«, und war einen Moment lang richtig stolz auf mich.

»Ich«, sagte der Gefangene und ließ den Kopf wieder hängen, »stehe für immer zu Euren Diensten, mein Herr. Wie werdet Ihr genannt?«

»Ich bin George. Ich kann Euch gar nicht genug danken, Herr Spotz.«

»Einfach nur Spotz«, sagte ich und fischte einen weiteren zerquetschten Kuchen aus der Tasche. »Möchtest du noch einen?« »Ach, wie gern, werter Spotz, aber ich fürchte, ich könnte mir daran den Magen verderben. Ich habe seit langer Zeit nur wenige Bissen bekommen.«

Ich stopfte den Kuchen wieder in meine Tasche und kehrte zu meiner Stelle an der Mauer zurück.

»Warum haben sie dich denn eingebuchtet?«, fragte ich und musste ein nervöses Lachen unterdrücken. Das klang doch wie eine Frage aus einem Film! Die ganze Kiste hier kam mir vor wie im Kino.

»Sagen wir in aller Kürze, ich habe mich mit der Obrigkeit überworfen «, antwortete George.

Ich erzählte ihm von meinen Zusammenstößen mit Prinz (jetzt König) Roquefort. George wirkte ernsthaft besorgt, als er von König Kastanius’ Verschwinden hörte.

»Das ist ja furchtbar! Er ist ein wunderbarer König.«

Das haute mich ziemlich um. »Moment mal. Hat er dich hier nicht reingeworfen?«

»Aber der König doch nicht! Ich habe jeden Grund zu der Annahme, dass der König gar nicht weiß, dass ich hier unten in diesem Loch verschmachte. Ich glaube sogar, verehrter Spotz, er hält mich für tot.«

»Er ist doch der König!«, rief ich. »Sollte er da nicht wissen, wer in seinen Kerkern verfault?«

»Nun, er hat Taten vollbracht, von denen weiß nur ich. Ganz zu schweigen von den großartigen Dingen, die er für dich und die anderen Trolle getan hat, wie du sicher vernommen hast. Glaube mir daher, wenn ich dir sage, dass er ein guter Mann ist. Der beste sogar. Wenn er nicht mehr da ist, dann fürchte ich wahrhaftig um die Zukunft unseres Königreiches.«

Ich stellte mir ein dauerhaft von Roquefort regiertes Niegelungen vor und mir wurde schlecht.

Wir redeten noch eine Weile, bis ich dachte, er sei eingeschlafen. Dann griff ich zu einem von Joes Comics und versuchte, vor einem der Lichtspalte zu lesen, als George plötzlich wieder etwas sagte. Seine Stimme war so heiser, dass ich sie fast nicht gehört hätte. »Was hast du denn da?«

Ich ging zu ihm und hielt ihm den Comic unter die Nase.

Da stieß der Gefangene ein heiseres, trauriges Lachen aus, das zu einem weiteren Hustenanfall führte. Als er sich beruhigt hatte, glaubte ich, ihn ganz leise sagen zu hören: »Das ist … einfach fantastisch!«

Einige Stunden später biss ich in Mrs. Lockes letzten Kuchen – und das tat in etwa so weh wie ein Biss in einen Hochspannungsdraht.

In dem Kuchen steckte etwas Hammerhartes. Wieso ich mir nicht die Zähne oder den Kiefer daran brach, weiß ich bis heute nicht. Ich griff mir in den Mund und zog einen kleinen Schlüssel heraus. Es tat noch immer so weh, dass ich im ersten Moment einfach nur wütend auf die achtlose Mrs. Locke war, der mal eben ein Schlüssel in ihren Kuchenteig plumpste. (Wie schon gesagt, wir Trolle sind nicht gerade die schärfsten Schwerter im Waffenschuppen.) Als der Schmerz zu einem dumpfen Pochen abebbte, fielen mir Mrs. Lockes seltsame Reden bei unserem Abschied ein. Das Getriebe in meinem blöden Trollhirn erwachte endlich zum Leben, und mir ging auf, was ich da in der Hand hielt. Wenn das kein ganz gemeiner Witz war, musste es doch der Zellenschlüssel sein! Ich hüpfte in die Höhe und zeigte George meinen Fund und sein Gesicht leuchtete auf wie ein Stück Glühgold aus den Glimmerbergwerken.

»Oh. Oh, lieber Spotz. Kannst du den an meinen Ketten ausprobieren? «

Ich war eine Sekunde lang verlegen, als ich bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte.

»Klar!« Ich wollte ihn gleich losschließen und stellte mich so, dass der Wachtposten uns nicht sehen konnte. Doch dann hielt ich inne. »Moment mal. Du bist doch nicht irgendein Irrer, der mich umbringen wird, sobald du frei bist, oder?«

»Gut«, sagte ich und schob den Schlüssel in das Schloss an einem seiner Handgelenke. Aber ich konnte ihn drehen, soviel ich wollte, der Schlüssel bewegte sich einfach nicht. »Der ist sicher für die Zellentür.«

Wie besiegt ließ Georg den Kopf sinken und ich fühlte mich elend hoch drei. Ich machte ein paar Schritte Richtung Tür, blieb aber gleich wieder stehen.

Ich ging zurück, packte eine von Georges Fesseln mit beiden Pfoten und stemmte sie auf. Das rostige Metall stöhnte, und George fiel von der Wand, jetzt nur noch an einem Arm gehalten.

»Trollkraft«, erklärte ich.

Ich öffnete auch die andere Fessel und George sank zu Boden.

»Manchmal denke ich gar nicht daran, dass ich die habe«, murmelte ich entschuldigend.

George hatte so lange an der Wand gehangen, dass er nicht allein aufstehen konnte. Deshalb packte ich ihn unter den Achseln und zog ihn hoch. Ich lehnte ihn, so gut ich konnte, gegen die Mauer, und er schloss die Augen und stieß den längsten Seufzer aus, den ich je gehört hatte.

Ich hielt inne und dachte, dass ich vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben die Wörter »wunderbar« und »Troll« in einem Satz gehört hatte. Irgendwie mochte ich dieses haarige Skelett.