21. KAPITEL

Troll Schutzgebiet

Es ging schon auf Mitternacht zu, als wir am Baumhaus ankamen, und ich war in Schweiß gebadet. Ich legte George so vorsichtig wie möglich auf den Boden und fing an, ihn auszurollen. Die Bewegung weckte den Wunschbaum, der sofort mit Wünschen loslegte.

»Ich wünschte, ich könnte tiefer schlafen!« – »Ich wünschte, ich hätte einen kleinen Mitternachtsimbiss!«

Ich sank zu Boden und blieb vielleicht eine Stunde dort liegen. Dabei brauchte ich keine Angst davor zu haben, dass ich vielleicht einschlafen könnte – meine Gedanken rasten pro Minute eine Meile. Oder, wie Gramps sagen würde: »Meine Gehirnhamster turnen wie die Blöden.«

Nach einer Weile stand ich auf und sagte George, ich müsste ein paar Dinge erledigen.

»Ich lege ein paar Blätter und Zweige und so was auf dich, damit du nicht so leicht entdeckt wirst. Vor Sonnenaufgang bin ich wieder da, in Ordnung?«

George lächelte. »Tarn du nur drauflos. Ich seh derzeit ohnehin aus wie ein langer, behaarter Stock.«

Am nächsten Morgen wurde ich davon geweckt, dass George meinen Namen rief. Die Sonne war offenbar schon vor einer ganzen Weile aufgegangen. Ich war seeeeehr müde und meine Augen fühlten sich an wie zwei geschwollene Sandkröten.

»Spotz! SPOTZ!«, rief er mit gedämpfter Stimme. »Da kommt jemand!«

Sofort war ich hellwach. Ich hatte im Baumhaus geschlafen, aber weil George zu schwach zum Klettern war, hatte er unten bleiben müssen – unter freiem Himmel, wo jeder ihn sehen konnte. Ich schnappte mir das Fernglas und robbte an den Rand des Baumhauses, um mir einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen.

Ich hörte die Räder von Kevins altem rotem Karren quietschen, noch ehe ich jemanden sah. Dann bogen Joe und Kevin um ein Gestrüpp. Kevin zog das viel zu voll geladene Wägelchen und schaute sich immer wieder um. Joe hielt zwei große Tüten in den Armen, winkte mir aber trotzdem begeistert zu, als er mich entdeckte. Die Jungs wollten zu uns, und wie es aussah, kamen sie nicht mit leeren Händen.

»Schon gut, George«, sagte ich, schwang mich die Strickleiter herunter und kam ungeschickt auf dem Boden auf. »Das sind meine Freunde. Sie wollen uns helfen.«

Ich hatte in der Nacht versucht, zu meiner Familie zu gelangen, doch unser Haus wurde von mehreren Ungeheuern aus Roqueforts Leibgarde bewacht. Sie hatten sich als Büsche verkleidet, aber ich entdeckte sie rechtzeitig.

Daher war ich zu Kevin gegangen – er bekam fast einen Panikanfall, als ich einen Stein gegen sein Fenster warf – und hatte die Jungs um Hilfe gebeten.

Ich stellte den beiden George vor und sie waren durchaus freundlich zu ihm; aber natürlich bedachten sie dieses menschliche Chaos aus Haaren und Knochen mit einigen misstrauischen Blicken. Dann luden wir den Karren aus.

Kevin und Joe hatten für George und mich liebevoll ein kleines Festmahl zusammengestellt und wir machten uns umgehend darüber her.

Ich war ein bisschen schockiert, als George losspachtelte wie beim alljährlichen Drachen-Hund-Wettfressen auf dem Jahrmarkt von Scherwutz. Aber ich vermute, es ging ihm einfach schon ein bisschen besser.

Es gab eine Klumpenpastete, eine beeindruckende Auswahl von Früchten und stinkenden Käsen, eine Art Studentenfutter mit Hammelfleisch (das kam natürlich von Kevin), einen Krug alkoholfreien Met und ausreichend Kekse für einen ganzen Lieferwagen.

Später fütterten wir den Baum mit einigen Stücken Käse, und er freute sich fast eine Minute lang, dann legte er wieder los.

Während George weiteraß, half ich, das Wägelchen vollends auszuladen. Joe hatte es geschafft, meinen Pullover und mein Handy aus der Asservatenkammer der Burg zu schmuggeln. Er sagte, das sei keine große Kunst gewesen, denn der fliegende Affe, der die Kammer bewache, schlafe sowieso fast die ganze Zeit.

Auch einen Spiegel und ein Rasiermesser für George hatten die Jungs mitgebracht, und ich nahm einen Eimer und schöpfte Wasser aus einem Bach, damit er sich rasieren konnte. Er versuchte zuerst, seine hoffnungslos verfilzten Haare zu kämmen, gab dann aber auf und widmete sich seinem Bart.

Kevin, Joe und ich saßen auf einem dicken Baumstamm und sahen zu, wie Georges Haartracht fiel. Schließlich drehte Joe sich zu mir um und stellte mit verlegener Miene die brennende Frage, die ihm keine Ruhe ließ.

»Hast du zufällig meine Edelritter-Comics eingesteckt, bevor du aus dem Kerker abgehauen bist?«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Nein, Joe, ich hatte andere Sorgen. Wenn mir eine zusätzliche Hand aus dem Hintern gewachsen wäre, hätte ich es vielleicht schaffen können, sie zu …«

In diesem Moment schnappte Kevin nach Luft. Ein lautes, scharfes Keuchen, wie damals, als er in seiner Socke einen Speichelwurm gefunden hatte.

Joe und ich fuhren herum, um zu sehen, was er da mit solchen Glupschaugen anglotzte.

George hatte sich inzwischen fast den kompletten Bart abrasiert, und was darunter zum Vorschein kam, ließ uns allen die Kinnlade herunterfallen.

Wer da erschöpft vor uns am Wunschbaum lehnte, war nicht etwa George, der Gefangene. Nicht mehr. Jetzt war klar, dass wir es mit George Edelherz zu tun hatten.

Mit DEM George Edelherz.

Dem Edelritter persönlich.

Der, von dem die Comics handelten. Wir hatten sein Bild so oft in den Heften gesehen, dass kein Irrtum möglich war.

»Du bist …«, krächzte ich, »du bist er! Er ist du!«

Der Edelritter grinste und spülte sein Rasiermesser im seifigen Eimerwasser aus.

»Na ja, der war ich jedenfalls einmal.«