Der Wald war genauso dunkel und unheimlich, wie ich es erwartet hatte, und es dauerte ewig, den Wagen über die vielen Baumwurzeln zu bugsieren. Aber wir kämpften uns vorwärts. Einmal blieb Joe mit seinem Hemd an einem Zweig hängen und es folgten einige Momente mit albernem Herumschreien und im Kreis Rennen.
Ich fürchte, wir gaben Joe schon verloren.
Baumfutter eben.
Aber dann war es zum Glück doch nur ein ganz normaler Zweig.
Manchmal stimmten wir ein Lied an, um uns die Zeit zu vertreiben, aber dann hörten wir irgendein Geräusch im Wald und verstummten gleich wieder.
Einige Zeit später kamen wir an eine kleine Lichtung, auf der ein Häuschen stand – aber ein solches Haus hatte ich noch nie gesehen. Das ganze Ding, von den Fensterläden bis zu den Mauern, von den Büschen an der Hauswand bis zu dem kleinen Schornstein ganz oben, bestand rein aus Zuckerzeug und Schokolade. Wirklich, das soll kein Witz sein!
Wir blieben einen Moment stehen und mussten uns erst einmal sammeln.
Endlich räusperte sich Joe. »Äh … kennt ihr den? Hat zwei Daumen und isst gern Süßigkeiten?«
Ich stöhnte lautlos auf. Der Witz hatte einen tierischen Bart, aber ich wollte ihn Joe nicht verderben.
»Wer denn?«, fragte ich also.
Joe lehnte sich zurück und brüllte aus voller Kehle:
Und dann rannte er auf das Häuschen zu und lachte sich fast scheckig. Kevin stürzte hinterher in einer Art Zuckertrance.
Hattet ihr je das Gefühl, dass ihr euch an etwas erinnern müsstet, aber es fällt euch einfach nicht ein? Wie wenn ihr auf ein bestimmtes Wort nicht kommt, obwohl ihr ganz nah dran seid?
Genau so fühlte ich mich. Ein Häuschen aus Zuckerzeug. Ganz tief im Wald. Irgendwie kam mir das bekannt vor.
Joe und Kevin sahen mich empört an. »Wieso?«
»Kommt euch das nicht komisch vor? Bei mir klingelt das ganze Alarmsystem!«
Joe riss die Türglocke ab und stopfte sie sich in den Mund. »Spotz«, sagte er wie zu einem Kind, »das hier sind Süßigkeiten. Süßes, köstliches, unschuldiges Zuckerzeug!« Er zupfte ein Blatt von einem Weingummistrauch und biss ein großes Stück ab.
»Na, wir sollten zumindest mal nachsehen, ob jemand zu Hause ist, ehe wir allzu viel davon essen«, fand ich und klopfte vorsichtig an die Schokoladentür. Sie öffnete sich mit leisem Quietschen.
Vorsichtig betrat ich das kleine dunkle Haus. Es bestand eigentlich nur aus einem Zimmer. In einer Ecke stand ein ungemachtes Bett und in der Mitte ein ramponierter alter Tisch. Das restliche Zimmer wurde von einer beeindruckenden Küche beherrscht. An einer Wand befanden sich zwei riesige Backöfen.
Abermals hatte ich dieses bohrende Gefühl, dass mich das alles an etwas erinnern sollte. Ich ging nach draußen, wo Kevin und Joe sich noch immer die Bäuche vollschlugen.
Kevin, dessen Familie ja im Baugewerbe tätig war, geriet außer sich vor Begeisterung. »Ich bin wirklich hin und weg von der strukturalen Integrität. Das müssen tragende Zuckerbalken sein. Absolut beeindruckend.«
Ich riss ein paar Schokokringel ab, die zur Dekoration dienten, und stopfte sie mir lustlos in den Mund.
»Jungs. Irgendwas ist hier total seltsam, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihr jemandem sein Haus zerstört.«
Kevin kaute an einem riesigen Karamellbrocken. »Normalerweise bin ich ja hier das Nervenbündel«, nuschelte er, »aber ich finde, gerade führst du dich auf wie eine Drama-Queen!«
»Okay, okay. Aber ich denke wirklich …« Und dann sah ich eine dunkle Gestalt durch den Wald auf uns zukommen. Es fiel nicht allzu viel Licht durch die Bäume, aber doch genug, dass ich die unverwechselbare Form eines Hexenhutes erkennen konnte.
Plötzlich fügten sich alle Puzzleteile in meinem Kopf zusammen wie in einem überdimensionalen Tetris-Spiel. Das konnte ich alles gar nicht so schnell aussprechen, wie ich es dachte, und die Wörter verhedderten sich bei dem Versuch:
»Das ist … FALLE!«, zischte ich, so leise und so laut wie ich nur konnte.
Kevin schaute in die Richtung, in die ich wies, und war sauer über die Störung.
»Was faselst du da? Du meinst Hänsel und Gretel?« Dann sperrte er jedoch die Augen auf. Er sprang hoch und schnaubte, und davon musste er so heftig husten, dass ein dicker, klebriger Karamellklumpen wie eine Rakete aus seinem Rüssel schoss und Joe am Ohr traf.
Die Geschichte von Hänsel und Gretel kannten wir alle nur zu gut. Die beiden gingen inzwischen auf die Uni, aber die Story, wie sie fast Hexenfraß geworden wären, war als eine so spannende Nachmittagsserie verfilmt worden, dass ich noch immer eine Gänsehaut davon bekam. Einen Moment lang herrschte vollständiges Chaos. Dann aber holten unsere Füße unser Gehirn ein und wir rannten davon.
Ich war immer schon stolz auf meine Fähigkeiten beim Versteckspielen gewesen. Einmal hatte ich mich einen ganzen Nachmittag lang hinter einem kleinen Baum versteckt, der nicht dicker war als eine Salzstange.
Ich bin davon überzeugt, dass Verstecken eine Willensfrage ist. Wenn ihr mit jeder Faser eurer Seele glaubt, dass ihr unsichtbar seid, dann werdet ihr auch unsichtbar. (Es ist aber genauso gut möglich, dass die Kinder, mit denen ich an jenem Tag gespielt habe, mich einfach austricksen wollten. Das ist sogar sehr gut möglich.)
Als wir uns ein Versteck suchten, redete ich mir jedenfalls ein, stärker an meine Unsichtbarkeit zu glauben als je zuvor in meinem Leben. Ich hatte nämlich keinerlei Interesse daran, hier als Trolltoast zu enden.
Ich duckte mich in eine hohle Baumwurzel und beobachtete, wie Joe und Kevin sich hinter einen Dornbusch fallen ließen. Danach habe ich wohl ungefähr fünf Minuten lang nicht mehr geatmet, glaube ich.
Ich dachte gerade erleichtert, dass wir so gerade noch mit dem Leben davongekommen waren, als ich ganz in meiner Nähe einen Zweig knacken hörte.
»Spotz?«
Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich hielt es doch für klüger, mich weiterhin nicht zu rühren.
Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Hast du vollkommen den Verstand verloren?«
Langsam öffnete ich ein Auge und nun durchströmte eine gewaltige Erleichterung meinen Körper.
Es war Mrs. Locke und ich bin wohl in meinem ganzen Leben noch nicht so glücklich über den Anblick unserer Mensafrau gewesen.
Meine Erleichterung brauchte ungefähr zwei Sekunden, um in Verärgerung umzuschlagen. »Wieso schleichen Sie hier mit einem Hexenhut durch die Gegend?«
»Äh, entschuldige?« Goldie ließ sich so leicht nicht anpöbeln. »Wer futtert denn hier anderen Leuten das Haus auf, du kleiner Spinner, hm?« Und damit riss sie mich in eine gewaltige Umarmung.
JJetzt kamen Kevin und Joe aus dem Gebüsch gekrochen und zogen sich spitze Dornen aus Hosen und Haaren. Mrs. Locke drehte sich zu ihnen um. »Und ihr Halbirren, was macht ihr hier draußen? Ich weiß, der dort flieht vor dem Gesetz, aber was habt ihr für eine Entschuldigung?«
»Auch egal. Gehen wir rein, damit wir euch sauber machen können. Diese Schniggeldornkratzer können sich ganz schnell richtig fies entzünden.« Sie scheuchte uns vor sich her in das Knusperhäuschen.
Auf dem Weg plapperte ich ununterbrochen vor mich hin, wie dankbar ich ihr war, dass sie mir den Schlüssel in den Kerker geschmuggelt hatte.
Sie winkte einfach ab und sagte: »Kein Thema!«
Als wir uns alle um den großen Küchentisch versammelt hatten, holte sie mehrere Tupperdosen herbei und stellte sie vor uns hin. »Gut, dass ich rechtzeitig gekommen bin, sonst hättet ihr kleinen Schakale mein Haus sicher bis auf die Grundmauern abgenagt – hab ich recht?«
Betreten senkten wir die Köpfe.
Kevin, der noch immer ein bisschen zitterte, stellte schließlich die Frage, die uns allen unter den Nägeln brannte:
»Hmmm?« Sie hantierte in der Küche herum.
»Sind Sie – und bitte entschuldigen Sie die Frage –, sind Sie zufällig die Hexe, die Hänsel und Gretel auffressen wollte?«
Mrs. Locke verharrte in der Bewegung und glotzte Kevin an. Etwas Zimtporridge klatschte aus der Holzschüssel in ihrer Hand auf den Tisch. Dann brach sie in ihr lautestes Goldie-Gelächter aus, das die Dachbalken aus Schokoriegeln erbeben ließ und uns in tiefe Verwirrung stürzte.
»Ach, du meine Güte, nein«, antwortete sie schließlich und musste sich setzen, um ihre Fassung wiederzufinden. Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Hattet ihr kleinen Grunzer deshalb solche Angst? Das ist ja zum Schreien!«
Kevin seufzte laut auf und ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken.
Joe sagte, den Mund voller Porridge: »Na ja, Sie haben schließlich einen Hexenhut getragen. Das ist doch komisch.«
Sie kicherte. »Ich setz dieses alte Ding im Wald immer auf, wegen der Baumfrettchen. Ich hatte es satt, dass sie mir dauernd Eicheln an den Kopf warfen. Die kullern jetzt einfach herunter.«
»Ich fand den Hut, als ich das Haus vor einigen Jahren seiner früheren Besitzerin abgekauft habe«, fuhr Mrs. Locke fort. »Ich kann euch sagen, das war vielleicht eine! Miese, zänkische alte Hexe. Nach der Sache mit Hänsel und Gretel ist sie runter nach Cabo gezogen und hat dort eine Tiki-Bar aufgemacht, soviel ich weiß.«
Mrs. Locke lehnte sich zurück und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. »Das hier ist mein Wochenendhäuschen. Ich hatte Glück und hab es für 'nen Appel und 'n Ei kaufen können.« Sie zwinkerte uns zu. »Versucht mal, euch von einem Mensalohn einen Zweitwohnsitz zuzulegen!«
Joe griff nach den Yamswurzeln und sagte: »Also … die Leute in der Schule glauben jedenfalls, Sie hätten sich zum Hexentum bekehrt oder so.«
Mrs. Lockes Miene verzog sich zu einem listigen Grinsen. »Ach, das gefällt mir … Sollen die Dussel das doch meinetwegen weiter denken!«
Wir durften die Nacht in Schlafsäcken unter Goldies Küchentisch verbringen.
Am nächsten Morgen wurden wir mit einem umwerfenden Frühstück geweckt, das aus Rührei, Speck (Kevin setzte eine Runde aus), frisch gebackenen Porridgekeksen, gebratenen Champignons und riesigen Gläsern voll eisgekühltem Flatschfruchtsaft bestand.
Endlich hatten wir uns mit all diesen Köstlichkeiten so vollgestopft, dass wir kaum noch laufen konnten, und packten unsere Sachen. Goldie brachte uns hinaus.
»Es widerspricht jeder Faser meines Wesens, euch Idioten weiterziehen zu lassen. Aber ich sehe ja, man kann euch nicht aufhalten. «
Ich umarmte sie ganz schnell. »Danke, Mrs. Locke. Und Sie schauen mal nach dem Edelritter, ja?«
»Bin schon fast unterwegs. Macht euch um den keine Sorgen.« Als wir den Wald erreichten, rief sie hinter uns her: