26. KAPITEL

Vorwärts marsch!

Der nächste Tag verging ohne verrückte Vorkommnisse. Einmal fanden wir ein zusammengeknülltes, vertrocknetes Schnupfwieseltaschentuch, und das überzeugte uns davon, dass wir auf dem richtigen Weg waren. (Schnupfwiesel sind ja bekannt für ihre schrecklichen Allergien.)

Nachmittags wuschen wir uns gerade die Gesichter in einem kleinen Tümpel, als wir auf eine Familie stießen, die in der Gegend wohnte. Nach einigen Diskussionen untereinander luden sie uns zu einem kleinen Abendimbiss und zum Übernachten zu sich ein. Das Essen und das Haus waren richtig schön, abgesehen von dem jüngsten Sohn der Familie, der alle zwanzig oder dreißig Minuten aus voller Kehle »DER WOLF KOMMT!« schrie. Aus naheliegenden Gründen kam das bei Kevin gar nicht gut an.

Die Eltern versicherten uns, das sei nur ein angeborener Tic des Jungen, aber es war wirklich hart für die Nerven des armen Kevin. Und kaum hatte sich sein Herz einigermaßen beruhigt und schlug wieder im normalen Tempo, da brüllte der Kleine schon wieder:

Nach dem Essen gestand die Familie, dass es ihr lieber sei, wenn ich mich draußen schlafen legte – so als Troll und überhaupt. Ich wünschte, ich könnte behaupten, das hätte mich zutiefst beleidigt, aber ihr müsst verstehen, dass ich schon mein ganzes Leben lang mit solchen Problemen zu tun habe. Und ich war einfach zu müde, um deshalb ein großes Geschrei zu machen. Während also Joe und Kevin flauschige Schlafsäcke vor den Kamin gelegt bekamen, wurde ich zu einer rostigen Schubkarre mit einem Sack voll Bohnen als Kissen geführt.

Joe und Kevin protestierten und sagten, sie würden mit mir draußen schlafen, doch ich bestand darauf, dass sie sich vors Feuer legten. Dann würden wenigstens zwei von uns morgen ausgeschlafen sein.

Aber dann bekam keiner von uns ausreichend Nachtruhe. Der Junge schrie im Schlaf ungefähr jede Stunde einmal »Der Wolf kommt!« und Kevin sprang jedes Mal an die Decke. Wenn Joe ihn dann endlich beruhigt hatte, passierte es schon wieder.

Als wir am nächsten Morgen weiterzogen, war Kevin vermutlich in schlechterer Verfassung, als wenn er mit mir zusammen im Freien übernachtet hätte.

Später am Tag bahnten wir uns vorsichtig einen Weg durch ein besonders gemeines Dickicht aus lila- und orangefarbenem Schniggeldorn, als plötzlich mein Handy klingelte.

Wir blieben stehen und ich fischte mein Telefon aus der Tasche (und holte mir dabei einige fiese Kratzer). Es war eine Nummer, die ich nicht kannte. Zuerst dachte ich, da wäre niemand am anderen Ende, und wollte das Gespräch schon wegklicken, als ich Geraschel und unterdrücktes Gemurmel hörte.

»Hallo?«

Nun konnte ich zwei Stimmen ausmachen, verstand jedoch kein Wort.

Dann wurde die Verbindung klarer, und ich hörte, wie sich eine vertraute Stimme beklagte: »… ein für alle Mal, dass ich eine neue Sorte Strumpfhosen brauche. Diese kriecht dauernd an meinem Hintern hoch und zieht an meinem Schlüpfer, ich kann das einfach nicht mehr ertragen!«

Voller Begeisterung drehte ich mich zu Joe und Kevin um. »Es ist Roquefort! Sein Handy hat offenbar versehentlich meine Nummer gewählt.«

Das tat ich, und wir grinsten alle drei wie die Trottel, als wir Lord Krumpelhose lauschten, während sein Telefon in seiner Tasche herumraschelte.

»Ganz zu schweigen davon«, quäkte Roquefort weiter, »dass sie total zerfetzt und zerrissen ist von diesem Schniggeldorndickicht, durch das wir vorhin gekrochen sind.«

Wir schauten uns an. Joe zupfte einen königlich pupsbeerroten Fetzen Stoff von einem Busch und hielt ihn für uns hoch.

Nun sprach eines der Leibungeheuer, aber wir konnten nicht verstehen, was es sagte. Es wurde weiter herumgeraschelt, und dann ertönte aus dem Lautsprecher ein Knurren, bei dem uns das Blut in den Adern gefror.

Ich hörte deutlich, wie eins der Ungeheuer brüllte: »WEG HIER!!!« Eine andere Stimme schrie etwas, das sehr nach »BÄREN!« klang, wenn auch ziemlich erstickt. Wir hörten noch mehr Geknurre und das hektische Reiben von Stoff gegen Roqueforts Telefon. Jemand schrie noch einmal und dann war die Leitung plötzlich tot. Wir waren einen Moment lang stumm vor Entsetzen.

»Hat er ›Bären‹ gesagt?« Ich hoffte, mich verhört zu haben.

Joe schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich bin ziemlich sicher, dass er ›Beeren‹ gesagt hat.«

»Warum sollte er ›Beeren‹ schreien?«, fragte Kevin. »Und was für Beeren knurren denn so?«

Kevin war totenbleich geworden. »Nein. Das waren Bären.«

Wir starrten einander einen Augenblick lang an, dann sagte Joe: »Meinetwegen!« Er schaute auf seine Hände. »Ein bisschen Schwund ist immer, wie ich zu sagen pflege. Vielleicht kann der König ja einen neuen Prinzen besorgen.«

»Vielleicht einen sympathischeren«, murmelte Kevin.

»Jungs …« Ich rieb mir das Gesicht mit den Pfoten, schloss die Augen und seufzte. »Sie haben noch eine Chance.«

Joe sah mich entgeistert an. »Was …? Echt? Du willst denen helfen? Roquefort hat dich in den Kerker geworfen, Spotz! Der wollte dich da verrotten lassen!«

»Richtig«, sagte ich. »Und wenn ich ihn niemals wiedersehen müsste, wäre das immer noch zu früh. Aber ich kann nicht einfach hier herumstehen und zusehen, wie Bären ihm und seinen Ungeheuern das Fleisch von ihren widerlichen kleinen Knochen rupfen. Oder Beeren.«

Ich hatte den Jungs von dem Gespräch mit Gramps erzählt.

»Dein Opa hat aber kein Wort über die Kleinschwein-Kiste gesagt «, rief Kevin, und in seiner Stimme lag Panik. »Ich bin ein vollblütiges Schweinchen, und es ist Zeit für mich, jetzt oink oink oink nach Hause zu laufen.«

»Na los, Leute!«

Ich konnte es fast selbst nicht glauben. Wollte ich wirklich, dass wir für diese Idioten unser Leben aufs Spiel setzten?

»Es tut mir ja sehr leid, euch darauf aufmerksam machen zu müssen «, sagte ich, »aber wenn wir ihnen nicht helfen … sind wir auch nicht besser als sie.«

Das gab den beiden zu denken.

»Na gut!« Joe sah hin- und hergerissen aus. »Ich verstehe, was du meinst, aber gut finde ich das nicht.«

Wir sahen Kevin fragend an.

Also begannen wir erneut, uns durch das Dickicht zu kämpfen.

»Glaubt mir«, ächzte Joe, wenn er nicht gerade schnaubte und schnaufte, »es sind bestimmt Beeren!«