Annie

Samstag, 2. September

Ich habe ein Date mit Tyler Brand. Dieser Satz zog in einer Endlosschleife durch meinen Kopf, während ich mich bemühte, mich auf das Stück vor mir zu konzentrieren: ein Halloweenmedley, das wir zum Besuchswochenende im Oktober spielen wollten. Ich habe ein Date mit Tyler Brand.

Zugegeben, es war vielleicht kein richtiges Date, aber irgendwie doch. Er hatte mich zur ersten Party seiner Verbindung eingeladen, zur Blauen Party – weil alle Blau tragen sollten –, auf der eine beliebte hiesige Band namens Something McGee spielen würde. Von der hatte ich allerdings noch nie gehört, also sah ich sie mir erst mal auf YouTube an, als Tyler mir davon schrieb, um nicht zu lügen, wenn ich ihm mit dem Applaus-Emoji antwortete.

Der Samstag kam und sollte laut Wettervorhersage der heißeste zweite September seit einem halben Jahrhundert werden. Während ich mit jeder Stunde nervöser wurde, aß ich nur ein Mini-Zitronenmohnmuffin und kritzelte für Politik einen vierseitigen Aufsatz über die Auswirkungen der letzten Wahlbeteiligung zusammen. Dann ging ich ins Fitness-Studio und zwang mich, auf dem Crosstrainer zu

Die Probe war von zwölf bis drei. Als die Trompeten das Ende von ‹Monster Mash› anstimmten, riss mein Rohrblatt. Ich suchte in meiner Tasche nach Ersatz und fragte mich, ob ich vor der Verabredung noch Zeit für Mani- und Pediküre hätte.

«Okay, Leute, jetzt October Sky. October Sky von Anfang an.» Juan Pablo zückte seinen Taktstock.

Eilig befeuchtete ich das neue Rohrblatt. Zum ersten Mal in dieser Probe war ich wirklich da und eifrig darauf bedacht, nichts zu verpassen. In das Stück aus October Sky hatte ich mich auf Anhieb verliebt. Seit vier Jahren spielte ich in Orchestern und hatte Hunderte Stücke in unterschiedlichen Stilen kennengelernt, aber nur wenige hatten mich so berührt wie dieses.

Wie zum Beispiel auch Bachs Suite Nummer 1 in G-Dur für Cello, die ich das erste Mal als Neunjährige bei der Hochzeit meiner Cousine hörte. Damals hatte ich noch keinerlei Trauma erlebt – bis zum Feuer waren es noch drei Jahre, und Bekanntschaft mit dem Tod hatte ich nur ein Mal gemacht, als meine Großmutter starb, wobei das Traurigste die Tränen meiner Mutter waren. Aber dieses Cellopräludium beschwor aus dem Nichts eine allumfassende Trauer in mir herauf, ein grundloses Gefühl der Melancholie. Nach der Zeremonie ging ich zum Organisten und fragte ihn nach dem Titel des Stücks. Wie war es möglich, dass Musik solche Gefühle erwecken konnte?

Wie sich herausstellte, waren viele Menschen von diesem Präludium berührt. In den nächsten zehn Jahren hörte ich es bei jeder Hochzeit und jeder Trauerfeier, neben Pachelbels Kanon in D-Dur und Bachs ‹Jesus bleibet meine Freude›.

Doch die erste Wirkung dieses Präludiums, dieses Gefühl, setzte meine Entwicklung zur Musikerin in Gang. Von da an war ich ständig auf der Suche nach Musik, die mich im tiefsten Inneren berührte, und fand sie doch nur selten – aber wenn, dann war es köstlich: das Nessun Dorma, ein paar von Max Richters Kompositionen. Das Stück aus October Sky.

Während ich nun Takt für Takt den Noten folgte, obwohl mein Rohrblatt nicht feucht genug war, ließ die Stimmung des Stücks in mir etwas Unerwartetes aufsteigen: Hoffnung. Ich spürte, wie sich in meinem Brustkorb etwas öffnete und neugierig herausspähte.

Voller Energie von der Probe und in prickelnder Vorfreude kam ich gegen zwanzig nach drei im Nagelstudio an, stellte dort aber fest, dass ich eine Dreiviertelstunde warten musste. Das Beauty Snail war der einzige Salon, den man vom Campus zu Fuß erreichen konnte, und daher immer voll, vor allem am Wochenende. Ich schrieb meinen Namen und ‹Mani-Pedi› ins Reservierungsbuch und entschied mich dann, weil der Tag überraschenderweise nicht unerträglich heiß, sondern einfach nur wunderschön geworden war, einen Spaziergang zu machen und dabei meine Mom anzurufen. Unser letztes Telefonat war schon drei Tage her, und da hatte sie mit einer Bronchitis zu kämpfen gehabt.

«Yo», meldete sich mein Bruder Cory, als ich ihre Handynummer wählte.

Ich war überrascht, seine Stimme zu hören.

«Hey! Hast du heute nicht Football?» Ich ging mit großen Schritten durch die Sonne und setzte meine Sonnenbrille auf.

«Mom hat’s mir verboten», knurrte er. «Sie hat eine Doku gesehen, in der gezeigt wurde, dass man davon Hirnschäden kriegen kann.»

«Oh nein», sagte ich und bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie zufrieden ich darüber war. Ich würde Cory nicht verraten, dass ich meiner Mutter die Doku empfohlen hatte. «Und wie geht’s dir damit?»

«Gut.» Ich fand es komisch, dass er sich wirklich gut anhörte, bis er hinzufügte: «Sie kauft mir dafür eine Xbox One.»

«Du darfst zocken, wenn du mit Football aufhörst?»

«Du hast es erfasst.»

Im Hintergrund hörte ich, wie meine Mutter ihm befahl, mir etwas auszurichten, verstand aber nicht, was.

«Und, was macht ihr gerade?», fragte ich.

«Wir sind auf dem Weg zu Target. Ja, mach ich doch! Gleich! Ich soll dich fragen, ob du deine neuen Shorts trägst.»

«Sag ihr: Ja.»

«Mom, ist das wirklich wichtig? Okay: welche?»

«Die Jeansshorts. Geht es ihr besser?» Die Leichtathleten sprinteten in Carter-Trikots an mir vorbei.

«Sie sagt ja und lässt fragen, ob du den Rock –»

«Gib sie mir mal!», hörte ich meine Mutter.

«Nein!», entgegnete Cory tadelnd. Dann sagte er zu mir: «Wenn ich nicht Football spielen darf, darf sie auch nicht beim Fahren telefonieren oder simsen!» Hin und wieder bewies mein Bruder überraschende Reife. «Mom, die Ampel! Verdammt!», rief er laut.

«Nicht fluchen», herrschte sie ihn an.

Dann murmelte sie etwas, worauf Cory sagte: «Mom will, dass du heute Abend bei deinem Date vorsichtig bist.»

«Sag ihr, ich geb mir alle Mühe, nicht vorsichtig zu sein.»

«Sie meint, sie hätte eine Sendung über Alkoholvergiftungen an Colleges gesehen, die du dir auch mal anschauen sollst. Außerdem sollst du nicht vergessen, dass du morgen arbeiten musst.»

Meine Mutter betrachtete meine Arbeit im Campusbuchladen als sakrosankt und tat so, als sei ich ständig kurz davor, gefeuert zu werden. Während meiner Schicht am Sonntagnachmittag schrieb sie mir jedes Mal: Wie läuft die Arbeit?, um zu prüfen, ob ich auch da war. Als würde ich jemals meinen Job schwänzen!

«Bye, Cory», sagte ich, obwohl ich hörte, dass meine Mutter im Hintergrund noch redete.

«Bis bald», erwiderte er.

Rückblickend betrachtet glaube ich, in meiner Familie versuchten wir alle krampfhaft, uns vor uns selbst zu schützen. Wir wollten größtmögliche Sicherheit.

 

Ich entschied mich, ein blaues Schlauchtop und meinen türkisfarbenen Lederrock anzuziehen. Aus Angst vor einem Blähbauch holte ich mir in der Mensa nur eine Misosuppe und eine kleine Tüte Diätcracker aus der Küche meines Wohnheims, bevor ich zur PiKa aufbrach.

Das Wohnhaus der Verbindung lag auf demselben Hof wie mein eigenes, aber auf der gegenüberliegenden Seite. Da kein direkter Weg zwischen den Gebäuden verlief, musste ich auf Zehenspitzen über den Rasen, damit meine Stilettos sich nicht in die Erde gruben. Als ich dort ankam, waren meine Schuhe zwar sauber, aber meine Waden brannten. Ich folgte

«Annie», sagte Tyler und stand auf. «Das sind Blake, Andrew, Sam und Ellen.»

«Hi», erwiderte ich auf ihren flüchtigen Gruß, während Tyler sich wieder aufs Sofa setzte, allerdings weiter rechts, was ich als Aufforderung betrachtete, neben ihm Platz zu nehmen. Ich zwängte mich an Blake vorbei und setzte mich, wobei ich darauf achtete, meine Knie geschlossen zu halten. Mein Rock kam mir plötzlich viel kürzer und enger vor als noch in meinem Zimmer. Ich war heilfroh über das trübe Licht, da mir meine Beine auf einmal mehr als bewusst waren.

«Hast du schon mal Kings gespielt?», fragte Tyler, öffnete eine Dose Bier und stellte sie vor mich.

Ich lächelte zurück.

«Ja, gerne, danke», sagte ich.

Tyler zog das Bier zu sich, als Ellen anmutig in eine Ecke des Zimmers ging, wo auf einem Holztisch eine Bowle mit gelblicher Flüssigkeit stand. Ich fragte mich, wie ihre Beine wohl nackt aussahen. In der Jeans fand ich sie, wie bei unglaublich vielen Mädchen auf dem Campus, einfach perfekt.

Als sie die Bowle einschenkte, fiel mir zum ersten Mal auf, dass es in dem Zimmer nur ein Doppelbett gab. Also hatte Tyler ein Einzelzimmer. Das war nicht selten bei Studenten im Abschlussjahr, die noch auf dem Campus wohnten.

«Ich hatte da so eine Ahnung», sagte Ellen, als sie mir einen roten Plastikbecher reichte, «dass du lieber Punsch als Bier trinkst.» Mit dieser Bemerkung zeigte sie, dass sie mich schlank fand. Sofort stieg mein Selbstvertrauen.

Sam oder Andrew – ich wusste schon nicht mehr, wer wer war – zückte ein Ass.

«Wasserfall!», brüllte er. Alle hoben die Becher und fingen an zu trinken. Ich folgte ihrem Beispiel, setzte meinen Becher an die Lippen wie sie und trank, aber nur in kleinen Schlucken. Am Ende zerdrückte der, der das Ass gehabt hatte, die Bierdose.

«Du bist erledigt, Annie!», sagte er und rülpste. Ich senkte den Becher. Genauso wie Tyler, Ellen und die anderen Jungen.

Wir spielten etwa eine Stunde. Die Regeln gingen so: Eine Zwei hieß, zwei Personen, die man aussuchen konnte, mussten was trinken; eine Drei hieß, man musste selber drei Becher trinken; eine Vier plus Dame hatte Variationen von

Als ich einen Kreuzkönig zog – den vierten und letzten –, enthielt der Becher auf dem Tisch eine Mischung aus Punsch, Bier und irgendeiner braunen Flüssigkeit, die Sam trank.

«Du musst nicht alles austrinken», bemerkte Tyler. «Leute, ist doch okay, wenn sie nicht alles trinkt, oder?» Und zu mir: «Annie, du musst nur dran nippen.»

Aber da riefen die anderen im Chor: «Ex! Ex! Ex!»

Also trank ich, so viel ich nur konnte, und reichte das ekelhafte Gesöff dann an Tyler weiter, der es in einem Akt studentischer Ritterlichkeit leerte. Als er den Becher abstellte, erschauerte er und sah mich an. Leicht angetrunken wischte ich zuerst mir und dann ihm den Mund ab. Wir lachten beide.

«Verdammt widerlich!», sagte er, und ich bestätigte: «Brutal», aber so laut, dass ich zusammenzuckte.

«Wann fängt die Band an?», fragte Ellen und sah auf ihrem Handy nach der Uhrzeit.

«Ohne mich geht gar nichts», antwortete Tyler und erklärte, auf unsere fragenden Mienen hin: «Ich kündige sie an.» Während er das sagte, hatte er sich zu Ellen gewandt, warf mir aber dabei einen kurzen Blick zu. Es rührte mich, dass er mich offenbar beeindrucken wollte.

«Okay, Leute, wollen wir los?», fragte Ellen.

Wir stimmten zu, standen auf und füllten noch mal unsere Becher, bevor wir das Zimmer verließen. Als wir den mittlerweile dicht bevölkerten Flur hinuntergingen, fiel mir auf, dass meine Sicht nicht mit meiner Bewegung

Tyler nahm meine Hand und führte mich durch die Menschenmenge. Seine Hand war warm und weder trocken noch feucht. Ich versuchte, seine Berührung zu genießen, da überkam mich Übelkeit. Ich schluckte und holte tief Luft, spitzte die Lippen und atmete langsam aus, wie mein Dad es mir beigebracht hatte, als ich noch klein war. Als ich es noch mal machte, merkte ich gar nicht, dass Tyler sich umgedreht hatte und mich ansah.

«Alles in Ordnung?», fragte er, mit dem Gesicht so dicht vor meinem, dass ich seinen Atem riechen konnte: Bier mit einem Hauch Pfefferminze. Er war high, seine Augen zuckten, und sein Körper verströmte wilde Energie. So als würde er jeden Moment lossprinten oder anfangen zu tanzen.

Ich nickte und schluckte die beißende Flüssigkeit, die in meiner Kehle aufstieg. Ich musste mich unbedingt hinsetzen und kniff die Augen zu. Aber das war eine schlechte Idee. Schwankend riss ich sie wieder auf.

«Oh Mann», sagte Tyler. «Komm.» Er führte mich zurück in sein Zimmer und half mir dort, mich aufs Sofa zu legen. «Atmen», befahl er. Ich gehorchte.

«Ich komm später zurück und guck, wie’s dir geht», sagte er. Dann füllte er einen neuen Plastikbecher mit gefiltertem Wasser aus seinem Minikühlschrank und stellte ihn neben mir auf den Boden.

Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist meine Scham darüber, dass ich schon blau war, bevor Tyler Something McGee auch nur angekündigt hatte – und bevor sie unseren Song gespielt hatten, von dem er noch nicht wusste, dass es unser Song war. Ich weiß noch, dass ich fand, Tyler ginge mit

Als ich wieder zu mir kam, war es dunkel, und ich wollte mich zum Kotzen bringen: Ich hatte mir die Finger in den Hals gesteckt wie damals, als wir es alle im Waschraum der Mittelschule versuchten.

Aber – das waren gar nicht meine Finger.

«Yeah, Baby – lutsch ihn, Süße.» Eine leise, heisere Stimme gab mir nuschelnd Befehle. Ich brauchte ein paar Sekunden, um sie zu identifizieren. Seine Hände hatten meinen Kopf gepackt und drückten so fest auf meine Ohren, dass sich die Ohrringe in meine Wangen bohrten.

«Gefällt dir das?», fragte er, wieder und wieder. «Hm, ja, das gefällt dir», antwortete er sich selbst.

Bei jedem Stoß musste ich würgen, doch gerade als ich spürte, wie mein Magen sich zusammenkrampfte, wurde ich losgelassen. Dann ergoss sich etwas Warmes auf mein Gesicht, in meine Augen. Dadurch wurde ich wacher, und meine Augen nahmen durch den Schleier der Flüssigkeit die Lage meines Körpers wahr. Meine Haut klebte an dem Leder des Sofas. Direkt vor mir zog Tyler sich schweigend Basketballshorts an. Er ging zu seinem Schrank, verschwand hinter der Tür, erschien mit einem T-Shirt und reichte es mir. Es war weiß und ordentlich gefaltet.

Mit seiner normalen Stimme fragte er: «Hast du was in die Augen gekriegt? Sorry.»

Ich tupfte meine Augen ab, ohne das T-Shirt aufzufalten, dann legte ich es neben mich aufs Sofa und zog meinen Rock wieder runter, der hochgerutscht war und meinen ganzen Unterkörper freigelegt hatte – mein Höschen war spurlos

«Das war geil», bemerkte er, verschränkte die Arme und gähnte. «Willst du hier pennen?»

Ich blickte noch blinzelnd auf meine Unterhose auf dem Boden und versuchte mit aller Kraft, mich an das Letzte zu erinnern, was ich bewusst wahrgenommen hatte.

Gefällt dir das? Hm, ja, das gefällt dir.

«Nein», sagte ich, schnappte mir mein Höschen und ballte die Faust.

«Okay.» Er nickte gleichgültig. «Dann komm gut nach Hause.»

Und dann, als ich mit hängenden Schultern da stand, mit dem Höschen in der Faust, küsste er mich auf den Mund. Nicht lang. Ohne Zunge. Aber sanft und nachdrücklich, als wollte er mir etwas Gutes mit auf den Weg geben. Und obwohl ich mich dafür hasste, obwohl ich innerlich vor der Vorstellung zurückzuckte, nahm mein Körper es erleichtert an.

 

Ich wachte mit starken Kopfschmerzen auf. Als ich auf dem Handy nach der Zeit sehen wollte, blieb das Display schwarz. Ausgedörrt, mit trockenen, brennenden Augen, schleppte ich mich zum Schreibtisch und fuhr meinen Computer hoch. 11:22 Uhr.

Ich hatte mich mit Matty für halb zwölf zum Brunch verabredet, bevor um zwei meine Schicht im Buchladen anfing. In meinem Posteingang blinkten fettgedruckt vier Nachrichten von ihm auf.

Treffen wo?

WO ESSEN WIR?

Dein Handy ist aus. Geht’s auch um elf? Bin am Verhungern

Jemand klopfte an der Tür und ruckelte an der Klinke.

«Ich bin’s», rief Matty genervt.

Also hatte ich es tatsächlich nach Hause geschafft und die Tür hinter mir abgeschlossen. Kleine Bläschen der Erkenntnis stiegen in mir auf.

Ich war am Leben.

Ich hatte es nicht geträumt.

Meine zusammengeknüllte Unterwäsche, das Würgen, das Sperma und das T-Shirt. Hatten wir Sex gehabt? Dann würde ich doch wohl was spüren: ein Kribbeln, ein wundes Gefühl. Andererseits hatte es bei meinem ersten und einzigen Mal weder weh getan, noch war ich nachher wund gewesen. Aber: Meine Unterhose hatte auf dem Boden gelegen.

«Ich wusste es», verkündete Matty, als ich die Tür öffnete. «Wie lang warst du weg? Wer bist du?» Normalerweise schlief ich höchstens bis acht. Er nahm mein totes Handy und blickte sich nach dem Ladekabel um.

«Hat der Converse-Typ was damit zu tun?»

Ich griff in meine Tasche, holte mein Ladekabel heraus und gab es ihm. Er stöpselte mein Handy ein, drehte sich zu mir um und stemmte die Hände in die Hüften.

«Was ist?», fragte ich.

«Musst du unbedingt vorher duschen, oder können wir direkt essen gehen? Na ja, vielleicht solltest du vorher duschen. Du stinkst wie ein Abflussrohr.»

Ich konnte mich zwar erinnern, dass ich mir das Gesicht gewaschen, aber nicht, dass ich geduscht hatte. Meine Kleider – Rock und Top – lagen zusammengeknüllt auf dem Schreibtisch. Ich nahm meine Tasche und sah Matty an. «Na schön, gehen wir.»

Er schnitt eine Grimasse.

Ich blickte an mir herunter. Ich trug das Carter-Shirt, das mein Dad mir zwei Jahre zuvor gekauft hatte, bevor ich überhaupt Studentin war, und das ich jetzt als Nachthemd benutzte. Außerdem hatte ich eine Yogahose und den halterlosen BH vom Abend zuvor an. Entweder hatte ich vergessen, ihn auszuziehen, oder nicht mehr die Kraft dazu gehabt.

«Ich hab einen an», sagte ich.

«Was ist denn mit deinem Gesicht …» Mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte er mich. «Hast du auf irgendwas geschlafen? Du hast da so komische Abdrücke.»

Da blickte ich zum ersten Mal an diesem Morgen in den Spiegel und sah die roten Schrammen, die meine Ohrringe auf den Wangen hinterlassen hatten. Dazu Eulenaugen von der Wimperntusche. Vielleicht hatte ich mir doch nicht das Gesicht gewaschen.

«Ich hab mit Ohrringen geschlafen», log ich.

«Dann wisch dir wenigstens die Smokey Eyes ab.»

«Verdammt, Matty!» Mir brach die Stimme. «Ich bin nicht deine Freundin, also brauchst du dich auch nicht für mich zu schämen.»

«Okay», wehrte er ab und hob die Hände. «Aber du siehst aus, als wärst du – du weißt schon.»

«Als wär ich was?», hakte ich nach, weil ich nicht glauben konnte, was da passierte, was er anscheinend glaubte.

«Als wärst du bei einem Casting für die Rolle eines Vergewaltigungsopfers oder so …»

Ich spürte, wie mir die Tränen kamen.

«War ein dummer Witz, tut mir leid. Ich bin nur gereizt, weil ich seit sieben auf bin und Mordshunger habe. Können wir jetzt bitte einfach essen gehen?»

«Ich hab keine Lust mehr», sagte ich.

«Nur weil ich einen blöden Witz gemacht habe? Bist du deshalb ernsthaft beleidigt?», fragte Matty. «Tut mir leid. Mit Vergewaltigung macht man keine Witze. Ich bin Feminist und so weiter und so fort. Blablabla. Aber jetzt lass uns was essen. Du siehst gut aus.»

«Ich bin nicht rund um die Uhr für dich verfügbar!», brüllte ich. «Gott! Kannst du nicht mal zwei Stunden überleben, ohne zu fressen?» Ich warf mich aufs Bett und drehte mich zur Wand. Kurz darauf hörte ich, wie die Tür sich schloss und seine Schritte sich entfernten.

Ich textete meinem Chef Frank, dass ich nicht arbeiten konnte, weil ich eine Lebensmittelvergiftung hatte. Dann döste ich ein und schlief, bis ich vom Signal meines aufgeladenen Handys geweckt wurde.

Hey. Wie geht’s dir heute?

Was zum –? Ich setzte mich auf, ergriff mit beiden Händen das Handy und merkte, dass sie zitterten. Ich wusste nicht, ob das am Kater oder am niedrigen Blutzucker lag oder ob ich Angst hatte.

Ging mir schon mal besser, schrieb ich. Doch kaum hatte ich es abgeschickt, fragte ich mich, ob ich nicht was anderes hätte schreiben sollen. Was Ehrliches. Mir geht’s ganz okay, abgesehen davon, dass ich gestern mit deinem Schwanz in meinem Mund aufgewacht bin und deswegen einiges in mir tobt, zum Beispiel Wut auf dich und Scham über mich und Schuldgefühle, weil ich gerade einen Streit mit meinem besten Freund vom Zaun gebrochen habe, nur um nicht vor die Tür zu müssen!

Er schrieb zurück: Können wir reden? Ich kann auch zu dir kommen.

Ich komm zu dir, schrieb ich. Aber zuerst musste ich duschen.

 

Seine Tür war nur angelehnt. Als ich sie aufstieß, sah ich Tyler barfuß am Schreibtisch sitzen, mit Jeans und einem langärmligen T-Shirt in Armeegrün. Vorne waren noch zwei Knicke vom Falten, und mit einem Mal fiel mir wieder das weiße T-Shirt ein, das er mir gegeben hatte. Offenbar gab er seine Wäsche in die Wäscherei. Manche der reicheren Studenten taten das. Seine Haare waren noch feucht, und im Zimmer roch es nach Männershampoo. Ich bemerkte, dass er aufgeräumt hatte – es gab keinerlei Spuren mehr von der Party oder von mir.

«Komm rein», sagte er, und da sah ich, dass er an einer PowerPoint-Präsentation arbeitete, was ich irgendwie komisch fand. Ich lachte.

«Was ist?» Seine Miene verfinsterte sich, als würde ich mich über ihn lustig machen.

«PowerPoint?», stöhnte ich und hielt mir die Hände vor die Augen.

«Wieso?»

Sollte ich ihm meine Wangen zeigen? Oder sollte er die Schrammen selber bemerken? Zwar hatte ich geduscht, mich aber gefragt, ob ich mich schminken sollte, und mich am Ende dagegen entschieden. Ich wollte mich nicht für Tyler

«Setz dich doch», sagte er förmlich.

«Nein danke», lehnte ich schroff ab, weil mir beim Anblick der Couch übel wurde. Ich staunte über meinen Ton – er klang schärfer, als ich mich je hatte sprechen hören. Tyler schien auch alarmiert davon, was mir leichte Befriedigung verschaffte.

«Na gut.» Er schob die Hände in die Taschen. Ich hatte den Eindruck, er sei verlegen, so als sei er kurz davor, mir sein unangenehmstes Geheimnis zu verraten.

Bitte, bitte entschuldige dich nicht, dachte ich.

«Ich hatte nur gehofft», setzte er an, «du könntest mir sagen, was letzte Nacht passiert ist.»

Mir stockte der Atem. Was passiert war? War das ein Trick? Hatte er Angst, ich würde ihn anzeigen, und tat deshalb so, als wüsste er von nichts? Forschend betrachtete ich sein Gesicht, konnte seine Miene aber nicht deuten.

«Was meinst du?», fragte ich vorsichtig. «Welchen … Teil?»

«Du warst ausgeknockt», sagte er und blickte kurz zum Sofa. Ich wappnete mich, als er fortfuhr: «Und ich hab ’ne Weile gefeiert und bin dann zurückgekommen. Aber ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist. Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich das Gefühl … ich meinte, mich zu erinnern … haben wir uns gestritten?» Als ich nicht antwortete, erklärte er: «Ich bin aufwacht mit dem Gefühl, du wärst sauer auf mich.»

«Du meintest, dich an was zu erinnern?», fragte ich mit zitternder Stimme.

«An einen Streit. Du bist gegangen, weil du wütend auf mich warst. Hatten wir Sex?»

«Dann hör mal gut zu, Tyler, wenn du dich nicht erinnern kannst. Folgendes ist passiert: Ich bin mit deinem Schwanz in meinem Mund aufgewacht», zischte ich. «Und meine Unterwäsche lag auf dem Boden, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich sie ausgezogen hätte. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass ich das nicht getan habe.» Ich hätte das Ich betonen sollen: ziemlich sicher, dass ich das nicht getan habe. Aber das war selbst für mich zu viel.

Das darauf folgende Schweigen waren die merkwürdigsten Sekunden meines ganzen Lebens. Tyler schien meine Worte auf sich wirken zu lassen, darüber nachzudenken und zu befinden, dass sie nicht schlüssig waren.

«Nein», sagte er kopfschüttelnd. «Unmöglich. Ich kam rein, und du bist aufgewacht, als ich das Licht anmachte. Du hast gefragt, wie die Band war, und dich immer wieder entschuldigt, dass du so betrunken warst. Wir haben uns unterhalten. Dann hab ich mir noch ein Bier geholt und dir Wasser, aber das wolltest du nicht.» Erneutes Schweigen. «Erinnerst du dich daran nicht?»

Ich schüttelte den Kopf und spürte fast körperlich, wie mich Zweifel beschlichen.

«Wir sind beide auf der Couch eingeschlafen», sagte er und schien sich mit einem Mal besser zu erinnern. «Und danach weiß ich nichts mehr, außer dass wir rumgemacht haben. Aber an das, was du gerade erzählt hast, kann ich mich nicht erinnern.»

«Tja, und ich kann mich nicht an das erinnern, was du gerade erzählt hast», gab ich zurück.

Wie war das möglich? Wir klangen wie streitende Schulkinder. War es denkbar, dass es so gewesen war, wie er es

«Okay, aber ich verspreche dir, dass es wahr ist», sagte er. «Ich schwöre es. Und ich schwöre, wenn wir Sex hatten, dann wolltest du es auch, oder ich dachte es zumindest. Ich würde doch nie … mit einem bewusstlosen Mädchen? Spinnst du? Das ist doch ekelhaft!»

«Haben wir denn miteinander geschlafen?», fragte ich. Ich zwang mich, die Frage zu stellen, die mich quälte.

«Ich glaube nicht.»

«Bist du sicher?»

«Äh, fragst du mich etwa, ob ich dich vergewaltigt habe? Nein!»

Ich kämpfte mich fassungslos durch einen Nebel aus Verwirrung, Scham und Wut. Es stimmte: Als ich zu mir gekommen war, hatte ich ihn nicht abgewehrt. Ich hatte sogar mitgemacht. Warum nur? Wenn es gegen meinen Willen geschehen war, warum hatte ich mich nicht gewehrt? Außerdem: Wenn ich ihm nur einen geblasen hatte, war das dann auch Vergewaltigung? Warum hatte meine Unterhose auf dem Boden gelegen? Mir schwirrte der Kopf vor lauter Fragen.

«Ich dachte, du hättest mich vergewaltigt», sagte ich leise und dachte: Ich denke immer noch, es könnte so gewesen sein.

«Ich wusste doch, dass irgendwas nicht in Ordnung ist», seufzte Tyler erleichtert auf, als wäre endlich alles geklärt. Er kam zu mir und umfasste sanft meine Ellbogen. «Annie, ich war vollkommen blau. Das waren wir beide. Wir waren zwei Stockbesoffene, die so was wie Sex hatten. Ich würde dich niemals vergewaltigen. Ich hab dich wirklich gern, weil du klug und wunderschön bist. Gestern Abend fand ich dich

Unwillkürlich lächelte ich. Wieso lächelte ich?

Und dann musste ich plötzlich weinen.

«Nein, nicht. Wein doch nicht.» Er zog mich in seine Arme, und ich ließ es zu. Sein Geruch war beruhigend, genau das, wonach mein geschundener Körper sich sehnte. Ich ließ mein Gesicht auf seine Brust sinken. «Können wir diese Woche mal ein echtes Date haben? Bei dem wir nichts trinken, jedenfalls nicht so viel? Wir könnten uns richtig kennenlernen, und ich behalte meine Hände bei mir. Vollkommen jugendfrei. Oder ab 16, falls wir ein bisschen kuscheln wollen.»

Rückblickend weiß ich nicht, was in diesem Moment mit mir los war. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte – nicht vor der Zukunft, sondern vor der Vergangenheit. Da war unglaublich heftige, fast schon schmerzhafte Hoffnung, die sich als Überzeugung tarnte. Zwar denke ich nicht, dass ich ihm wirklich glaubte, aber ich wollte es, und zwar mehr, als ich je etwas gewollt habe. Nie hatte ich etwas so unbedingt, so inbrünstig gehofft, wie dass Tyler Brand mich nicht vergewaltigt hatte.

«Ist gut», sagte ich und hob den Kopf, um ihn anzusehen.