Freitag, 25. August
«Er hat ein Sixpack. Im Ernst: richtige Bauchmuskeln, wie ein Model», erklärte Nicole auf ihrer morgendlichen Fahrt zur Arbeit. Sie schlief jetzt tatsächlich mit Chet-dem-Anwalt, der sie dafür kostenlos vertrat.
«Ist das so was wie ein Bonus im Austausch gegen sexuelle Gefälligkeiten?», fragte Stayja. Die Bemerkung klang gemeiner, als sie beabsichtigt hatte.
Mittlerweile schob Stayja freitags Doppelschichten. Frank, der alle Lokale und den Buchladen auf dem Campus managte, hatte das Mädchen, das die Frühschicht im Rooster hatte, ins Café am anderen Ende des Campus versetzt. Und an diesem Freitag hatte Nicole angeboten, für ihre Kollegin im QuikMart einzuspringen, weil die ein Date hatte. Es überraschte Stayja, dass Nicole sich zusätzliche Arbeit auflud, auch wenn es nur dieses eine Mal war. Sie unterstellte ihrer Cousine Hintergedanken: Vielleicht war es freitagabends, wenn Frank frei hatte, leichter, Zigaretten zu klauen oder so.
«Meinst du dich oder mich?», fragte Nicole.
«Ich erweise Tyler keine Gefälligkeiten, wir hatten keinen Sex.»
«Aber ihr seid jetzt zusammen?», fragte Nicole spöttisch. «Ist er dein Freund?»
Darauf antwortete Stayja nicht.
«Gehst du mit ihm zu Partys und triffst seine Freunde?»
«Ach, halt die Klappe.»
Stayja dachte an die eine Party, die Tyler erwähnt hatte – die plante er selbst. Eine Black-and-White-Party (so hatte er es bezeichnet), wo schwarze und weiße Studenten zusammenkommen sollten. Sie hatte gar nicht erst nachgefragt, weil sie wusste, sie würde sowieso nicht eingeladen werden. War ja auch verständlich, schließlich wurde die Party vom College finanziert; also war es eine Party für zahlende Studenten, und Tyler konnte nicht einfach so ganz Carterboro dazu einladen.
Nachdem sie geparkt hatten, gingen sie getrennte Wege: Nicole zum QuikMart und Stayja zum Rooster, wo sie entdeckte, dass nichts angeliefert worden war, kein Kaffee, kein Frühstück, kein Lunch, kein Gebäck. Abgesehen von den schwarzen Gummimatten auf dem Boden, die klebrig blieben, ganz gleich, wie oft oder gründlich sie sie wischte, war das Café leer.
«Verzeihung», ertönte eine Stimme hinter ihr, «habt ihr geöffnet? Oder erst ab sieben? Könnte ich vielleicht schon einen Kaffee kriegen?»
«Ich weiß nicht, ob welcher da ist …» Stayja spähte unter die Theke, um zu prüfen, ob sich dort noch eine Packung versteckte.
«Ihr habt keinen Kaffee? Aber das hier ist doch ein Café, oder?»
«Eine Sekunde», erwiderte Stayja und fing an, die Schränke zu öffnen, obwohl sie wusste, dass dort nur Vorräte lagerten, die nie benutzt wurden. Das Rooster hatte schon als alles Mögliche gedient: als Smoothie-Bar, dann als Sushi-Bar und dann noch mal als Smoothie-Bar. Die Spuren dieser Vergangenheit verstopften die Schränke, die Stayja jetzt vor allem wegen der ungeduldigen Studentin öffnete, die jede ihrer Bewegungen beobachtete. Nachdem sie alle Schränke durchsucht hatte, holte sie ihr Handy aus der Tasche. Das Mädchen seufzte übertrieben auf. Stayja tat so, als würde sie das überhören, während sie Frank textete: kein Kaffee da und sonst auch nichts … wo ist die Lieferung? Sie legte das Handy auf die Theke und öffnete eine Tür hinter ihr, wo ihre Schürze hing. Während sie sie umband und sich wieder umdrehte, leuchtete ihr Handy auf. Das Mädchen starrte sie immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Mist ok. Kümmere mich, schrieb Frank zurück.
«Es gibt noch keinen Kaffee. Tut mir leid», sagte sie zu dem Mädchen, das schnaubend abzog.
Da betrat Tyler das Café.
«Hi!», sagte Stayja.
«Hey», erwiderte er. «Hast du ’ne Minute?»
«Tja, wir haben keinen Kaffee, also gibt’s für mich nichts zu tun, bis die Lieferung kommt.»
«Wie praktisch», sagte er.
«Stimmt.»
Sie folgte ihm durch die Hintertür. Er drehte sich um, schob die Hände in die Hosentaschen und lächelte.
«Ich hab ’ne Idee», verkündete er. «Wieso versuchst du nicht einfach, Medizin zu studieren?»
Sie bedachte ihn mit ihrem besten Bist du verrückt?-Blick.
«Wieso Krankenschwester sein, wenn du auch Ärztin werden kannst?», erklärte er.
«Äh … dafür gibt’s tausend Gründe», gab sie zurück.
«Zum Beispiel?»
«Zum Beispiel bin ich schon dreiundzwanzig. Und hab nicht mal genug Zeit und Geld, eine normale Ausbildung zu machen. Zum Beispiel kostet ein Medizinstudium zigtausend Dollar, und man braucht dafür einen Bachelor.»
Er holte sein Handy aus der Hosentasche.
«Und wenn ich dir sagen würde», er tippte einmal aufs Display und zeigte es ihr, «dass all das egal ist?»
Auf dem Display stand «Gibson College Linkage Program». Von einem Gibson College hatte Stayja noch nie gehört.
Sie sah ihn an. «Was soll das heißen?»
«Wenn du da oder in einer ähnlichen Uni angenommen wirst, fängst du mit dem Bachelor an und studierst direkt im Anschluss Medizin. Es geht schneller. Und ich wette, dafür musst du nicht viel mehr zahlen als das, was du jetzt schon blechen musst. Ich wette auch, du wirst angenommen, weil du gute Noten hast. Klar, du müsstest umziehen. Das hier ist an der Küste, aber wer will nicht am Strand leben?»
Sie überflog die Webseite.
«Wie bist du denn darauf gekommen?»
Er zuckte mit den Schultern. «Ich wusste von solchen Colleges, weil mein Cousin so eins besucht hat. Also hab ich einfach welche in North Carolina gegoogelt.»
Sie scrollte durch die Webseite und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.
Tylers Kommentar über die Armen beschäftigte sie schon seit ein paar Tagen. Seitdem fragte sie sich, ob sie Entscheidungen traf, die nur arme Leute trafen, reiche aber nicht. Zum Beispiel: Hätte sie doch versuchen sollen, einen Studienkredit aufzunehmen, um aufs College zu gehen? Hätte sie sich am Carter bewerben sollen? Sollte sie ihre Mutter ermutigen schwarzzuarbeiten? Sollte sie sich einen anderen Job suchen, bei dem sie krankenversichert wäre? Die Armen, hatte er gesagt, und sie hatte sich aufgeregt. Doch seitdem ertappte sie sich immer wieder bei der Frage, ob sie irgendwie grundsätzlich anders dachte als Leute wie Tyler.
«Phase eins macht überhaupt keine Arbeit. Du musst nur …» Er nahm ihr das Handy ab. «Einen Aufsatz schreiben. Einen einzigen Aufsatz. Den schreibst du und füllst dann das Bewerbungsformular aus. Wenn du zum Vorstellungsgespräch eingeladen wirst, schaffst du den Rest auch.»
Ihr Handy summte.
«Wirst du darüber nachdenken?», fragte er.
Bin hier mit Kaffee. Wo bist du?, hatte Frank geschrieben.
«Danke. Ja, ich denke drüber nach», sagte sie und drehte sich zur Tür.
«Hast du Lust, heute Abend nach der Arbeit bei mir vorbeizukommen?», fragte er.
Wie sollte Nicole dann nach Hause kommen? Stayja zögerte. Sie konnte ja den Bus nehmen. Auch wenn sie sauer wäre, sie würde es überleben.
«Gern», sagte Stayja.
Den ganzen Tag über ertappte sie sich dabei, wie sie bei dem Gedanken an Tyler und den vor ihr liegenden Abend lächelte. Sie würden nicht mehr am Bordstein oder auf dem Parkplatz sitzen, sondern auf sein Zimmer gehen. Selbst als sie fünf, sechs, neun Stunden auf den Beinen war und ihre Füße und ihr Rücken schmerzten, tat das ihrer guten Laune keinen Abbruch. Als es langsam dunkel wurde und sie gerade die Milchkännchen nachfüllte, betrat Eric Gourdazi, gepflegt, aufrecht und wie immer mit gebügeltem Hemd, das Café zusammen mit einem Mädchen, das in der einen Hand seinen Studentenausweis hielt und mit der anderen etwas in sein Handy eingab.
«Thunfischsalat, bitte», sagte sie, ohne aufzublicken.
Mit hämmerndem Herzen nahm Stayja ihren Ausweis entgegen, zog ihn durch die Kasse und holte einen Thunfischsalat aus dem Kühlschrank. Sie reichte ihn dem Mädchen, das stirnrunzelnd daran schnüffelte, ohne auch nur den Deckel zu lüften.
«Ich glaube, der ist schon schlecht», sagte sie. «Dazu muss ich ihn nicht mal aufmachen.»
Sie hielt ihn Stayja hin, damit sie auch daran riechen konnte. Stayja nahm den Deckel ab, schnupperte und fand, dass der Thunfisch roch, wie er immer roch: schlecht. Donna freute sich jedes Mal, wenn Stayja abgelaufenen Thunfischsalat mit nach Hause brachte. Das war mittlerweile eine ihrer Standardmahlzeiten geworden. Aber Stayja hatte sich nie mit dem stinkenden Dosenfisch anfreunden können.
Die eingeschweißten Tabletts kamen immer tiefgekühlt, aber am Tag zuvor hatte sie bei der Lieferung gerade Pause gehabt, daher hatte sie sie einfach zur Seite gestellt, und danach war so viel los gewesen, dass sie sie vergessen hatte. Als sie sie schließlich in die Kühlung räumte, hatten die Tabletts schon Zimmertemperatur. Aber das konnte ja wohl kaum einen Unterschied machen. Thunfisch war Thunfisch.
«Ich finde, der riecht normal», erklärte Stayja.
Aber das Mädchen verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. «Nein, der ist schlecht. Eindeutig», befand sie, wandte sich zu Eric Gourdazi und hielt ihm das Tablett vor die Nase. «Hier, sag du mal!»
Als er den Kopf schüttelte, anstatt daran zu riechen, fuhr das Mädchen fort: «Den solltest du nicht mehr anbieten. Ist zu gefährlich.»
Sie schob das geöffnete Behältnis über die Theke zurück, und Eric Gourdazi machte eine Bemerkung, die Stayjas Blick auf ihn veränderte. Diese Bemerkung war demütigender als alles, was je irgendjemand am Carter zu ihr gesagt hatte – und sie hatte sich im Laufe der Jahre wirklich einige gemeine, unfassbar herabwürdigende Kommentare anhören müssen. Der nette Eric Gourdazi, der einmal mit einem Mädchen im Rollstuhl ins Café gekommen war – eine Verwandte? Ein Schützling? – und mit ihm eine ganze Stunde lang Schach gespielt hatte, flüsterte der Studentin zu, als hätte Stayja keine Ohren: Das weißt du wahrscheinlich besser als sie.
Was meinte er damit? Bloß weil Stayja nicht reich war, konnte sie nicht erkennen, wann Essen verdorben war? Sie konnte nicht wissen, wie der verdammte Thunfischsalat riechen sollte?
Sie warf das Tablett in den Müll und ging zur Kasse, um dem Mädchen sein Geld zurückzugeben.
Noch nie zuvor war Stayja in einem Wohnheim am Carter oder einem anderen College gewesen. Sie hatte sich immer breite Flure mit Teppich und Mahagonimöbeln vorgestellt, wie in den Bibliotheken auf dem Campus oder in Kunstmuseen. Aber nachdem Tyler seine Schlüsselkarte benutzt und sie ins Gebäude geführt hatte, staunte sie über einen nüchternen Gang mit Fliesen und Neonlicht.
Der Erste, dem sie auf ihrem Weg begegneten, war Stayja unbekannt, obwohl er aussah wie jeder andere Verbindungsstudent auf dem Campus. Er nickte Tyler schweigend zu. Aber den Nächsten kannte Stayja aus dem Café. Luke? Loren? Als sie an ihm vorbeigingen, raunte er scherzend: «Ist das eine gute Idee, Shaggy?»
Tyler winkte nur ab, und Stayja wusste, dass er lächelte, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Weil sie annahm, mit ‹das› hätte er sie gemeint, machte sie sich im Hinterkopf eine Notiz, beim nächsten Mal in Lukes/Lorens Kaffee zu spucken (was sie zu Nicoles Enttäuschung überhaupt noch nie getan hatte).
Schließlich landeten sie vor seiner Tür, die er für sie aufhielt.
«Wieso ‹Shaggy›?», fragte sie und warf einen Blick ins Zimmer.
Er war ordentlich. Alles lag an seinem Platz: Die Bücher standen aufrecht auf dem Schreibtisch, eine Tasche hing an einem einzelnen Haken an der Schranktür. Das Bett war gemacht, und eine grüne Kapuzenjacke hing ordentlich über der Rückenlehne des Schreibtischstuhls. Auf dem Fenstersims standen drei Gläser mit Teelichten, die schon gebrannt hatten.
«Wegen meiner Haare. Die sind nur neidisch», erklärte er, warf den Schlüssel auf den Sofatisch, setzte sich an den Schreibtisch und beugte sich vor, um sich die Schuhe aufzubinden. «Mach’s dir gemütlich», sagte er. «Ich zieh mich kurz um.»
Nachdem er sich die Schuhe ausgezogen hatte, verschwand er in einem begehbaren Kleiderschrank, während Stayja auf dem braunen Ledersofa Platz nahm. Die Rückenlehne war stark geneigt, und die Polster sanken unter ihrem Gewicht so tief ein, dass ihre Schenkel in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zu ihrem Oberkörper hochgeschoben wurden. Tyler kam in Shorts und T-Shirt zurück und schloss die Schranktür hinter sich, worauf das Bild der amerikanischen Flagge an der Wand dahinter sichtbar wurde.
«Die Fahne gefällt mir. Woher hast du die?», fragte sie.
«Hab ich selbst gemalt», antwortete er und ließ sich neben ihr auf die Couch sinken. Als sie darauf nichts erwiderte – sie war mit den Gedanken wieder bei Eric Gourdazi und grübelte, wieso er den Kopf geschüttelt hatte –, fragte Tyler: «Alles in Ordnung? Was ist los?»
Daraufhin erzählte sie ihm die Geschichte mit dem Mädchen und dem Thunfischsalat und Gourdazis Schlussfolgerung, Stayja würde verdorbenes Essen nicht erkennen.
Tyler hörte mit leicht zusammengekniffenen Augen zu und drückte ihr Knie, als sie geendet hatte.
«Scheiß doch auf die. Du wirst eine großartige Ärztin werden», sagte er und zwinkerte ihr zu. Dann legte er zu ihrer Verblüffung seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie berührte mit der Hand seine wilde Mähne und streichelte sie sanft. Er schloss die Augen.
«Was bereust du am allermeisten?», fragte er, ohne die Augen zu öffnen.
Sie dachte darüber nach.
«Irgendwie wünschte ich jetzt, ich hätte mich bei einem echten College beworben und einen Studienkredit beantragt. Vielleicht hätte ich ja sogar ein Stipendium bekommen. Wer weiß.»
«Das könntest du doch immer noch», sagte er.
«Und du? Was bereust du am meisten?», fragte sie.
Darauf antwortete er nicht, sondern stellte eine neue Frage: «Und was ist das Schlimmste, das du je getan hast?»
«Ich hab die Bong meiner Cousine zertrümmert», gestand sie. «Auf dem Fliesenboden.»
«Das ist alles? Eine Tat aus Sorge um deine Cousine?»
«Ich hab es nicht aus Sorge um sie gemacht», gab Stayja zurück, den Blick immer noch auf die Fahne gerichtet. «Sondern weil sie die Bong mochte und ich sauer auf sie war.»
Daraufhin öffnete er kurz ein Auge, um ihr einen verschmitzten Blick zuzuwerfen.
«Und du?», fragte sie.
Eine ganze Weile sagte er nichts. Dann setzte er sich auf und zog sein T-Shirt aus.
«Was viel Schlimmeres, als eine Bong zu zertrümmern», sagte er, den Kopf im blauen T-Shirt. «Komm mal her, Miss Stayja.» Er warf sein Shirt beiseite und neigte sich zu ihr, um ihr Kinn zu umfassen. Als er mit der anderen Hand unter den Träger ihres BHs glitt, dachte sie nur yes, yes, yes.