Mittwoch, 27. September
«Seit wann ist Victoria’s Secret so brav geworden?», fragte Nicole. Sie verbrachten den Vormittag vor ihrer Schicht in der Mall und suchten nach Dessous, weil Nicole was ‹Nuttiges› kaufen wollte, um es für Chet zu tragen.
«Seit wann trägst du Stripperklamotten?», gab Stayja zurück.
«Seit ich mehr Geld verdiene als du», zischte Nicole und rieb es Stayja zum tausendsten Mal unter die Nase, dass sie befördert worden war. Soweit Stayja sah, war das nur ein glücklicher Zufall gewesen: Ein Jugendlicher hatte im QuikMart versucht, etwas mit einem gestohlenen Ausweis zu kaufen. Nicole hatte ihn gemeldet, woraufhin Frank sie für besonders ehrenhaft oder tüchtig hielt. Prompt hatte er sie in den Buchladen versetzt, wo sie nun fünfzig Cent mehr pro Stunde verdiente als ihre Cousine.
«Wenn das noch zu konservativ ist, was suchst du denn dann genau?», fragte Stayja.
«Da bin ich ganz offen. Wenn ich es sehe, werde ich es wissen.»
Nicole führte sie zurück in den Hauptgang der Mall.
«Zu welcher Gelegenheit denn?», fragte Stayja grinsend.
«Wir haben uns unsere Liebe gestanden», erklärte Nicole.
Stayja schnaubte.
Nicole schlug ihr auf den Arm. Ihre Miene wurde ganz kurz weich und dann wieder hart. «Wir lieben uns! Ob’s dir passt oder nicht!»
«Woher weißt du das?», fragte Stayja.
«Man weiß es eben.»
«Das nennt man Oxytocin. Das überflutet das Hirn, wenn man Sex hat, sodass man vor lauter Verwirrung denkt, man wäre verliebt.»
«Wieso verliebe ich mich dann nicht in jeden, mit dem ich vögle?», konterte Nicole.
«Genau das meine ich ja», nickte Stayja. «Was ist diesmal anders?»
Sie betraten Dillard’s und gingen zur Rolltreppe. Dessous waren im ersten Stock.
«Weiß ich doch nicht, verdammt noch mal! Zum Beispiel will ich ihn glücklich machen, mehr, als ich selbst glücklich sein will, kapierst du?» Schweigend fuhren sie mit der Rolltreppe hinauf. «Außerdem will ich …»
«Was?»
«Besser werden, für ihn. Also, du weißt schon.»
«Was?»
Nicole verdrehte die Augen.
«Was willst du werden?»
«Ehrlich und so weiter. Vernünftig.»
Darauf sagte Stayja nichts. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.
«Und bei dir?», erkundigte sich Nicole. «Wie läuft’s mit diesem Typen?»
«Gut», antwortete Stayja und versuchte, entspannt zu klingen. Zwei Tage zuvor hatte Tyler die Entscheidung in seinem Fall bekommen. Es war nicht gut gelaufen für ihn. Er war auf ‹akademischer Bewährung› und wegen ‹sexueller Respektlosigkeit› verurteilt worden und war völlig fertig – er hatte ihr erklärt, dass er damit praktisch kein Jura mehr studieren dürfe.
Als sie sich der Dessousabteilung näherten, entfernte sich Stayja ein Stück von Nicole, die geradewegs auf die Verkäuferin an der Ladentheke zumarschierte.
«Wo haben Sie Ihr nuttigstes Zeug?», fragte sie.
«Da drüben», sagte die Frau, ohne die Miene zu verziehen.
Stayja blieb, wo sie war, fingerte an einem Nachthemd aus Satin herum und dachte über Liebe nach.
Sie und Tyler trafen sich jetzt schon seit Wochen jeden Abend. Nach Feierabend fuhr Stayja Nicole nach Hause und kehrte dann zum Campus zurück, um mit ihm zusammen zu sein. Das Mädchen, das ihn wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, hatte ihm das Genick gebrochen. Er war so geschockt und niedergeschmettert, dass er nichts mehr essen wollte. Sie saßen nur auf seiner Couch, er mit dem Kopf auf ihrem Schoß, und sahen fern oder redeten. Seine Eltern waren fuchsteufelswild und bestraften ihn mit Schweigen. Er hatte ihr erklärt, die meisten seiner Freunde wüssten nichts von der Sache, weil er sich zu sehr schämte, davon zu erzählen. Er fühlte sich einsam und im Stich gelassen.
«Was würde ich nur ohne dich machen, Stayja?», fragte er eines Abends, schlang die Arme um ihre Taille und drückte sie so fest an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Oft kam sie erst nach Mitternacht nach Hause. Sie schlief bis neun oder zehn, dann räumte sie auf oder kaufte ein, bevor sie zu ihrer Spätschicht aufbrach.
Die Abende mit ihm wurden zu ihrer täglichen Lieblingszeit. Sie fühlte sich gebraucht, und zwar aus anderen Gründen als sonst: Er war weder an ihrem Geld noch an einer Fahrgelegenheit, noch an ihrem Verantwortungsgefühl interessiert. Diese Bedürfnisse von Nicole und ihrer Mutter laugten sie aus und bewirkten in ihr Schuldgefühle, Groll und Lethargie.
Aber Tyler wollte nur ihre Zuneigung und Aufmerksamkeit, und Stayja schenkte sie ihm gern und großzügig. In seiner Gegenwart hatte sie das Gefühl, aus einer unerschöpflichen Quelle Fürsorge ziehen zu können, wenn er nur bei ihr war. Und sie konnte ihm übers Haar streichen und ihn trösten, dass alles wieder gut würde. Wenn sie in jenen Nächten nach Hause fuhr, fühlte sie sich erfüllt, und sie wusste, was das bedeutete.
«Hey!», brüllte Nicole vor der Umkleide. «Kommst du?»
Stayja wartete vor der Kabine, während Nicole auf der anderen Seite der Tür davon erzählte, dass sie die Studentin mit dem gestohlenen Ausweis getroffen hatte. Man könnte fast denken, sie hätte ihr das Leben gerettet, dachte Stayja.
«… also habe ich ihr einen Schokoriegel spendiert. So nach dem Motto: Ich weiß Bescheid, weil ich den Typen geschnappt habe, der dich beklaut hat … du hast es verdient.»
«Nicole, zum tausendsten Mal, du kannst nicht einfach verschenken, was du verkaufen sollst», sagte Stayja.
«Ach komm schon. Nur Annie und ich waren da, und Annie ist es egal.»
«Wer?», fragte Stayja mit einem Knoten im Magen.
«Annie. Die ist echt okay.»
Das war sicher nur ein Zufall.
«Also», sagte Stayja, «wenn du nicht vorsichtiger bist, wird diese Annie dich bei Frank verpetzen, und dann bist du arbeitslos. Wieder einmal.»
«Annie hat echt andere Probleme. Du hast ja keine Ahnung! Sie wurde vor kurzem vergewaltigt. Und der Kerl ist damit einfach so davongekommen!»
«Das ist übel», sagte Stayja, mit einem Gefühl, als wäre sie seekrank. Sie drückte ihre Hände gegen ihren Bauch und war heilfroh, dass ihre Cousine sie jetzt nicht sehen konnte.
Als Tyler ihr von der Anklage wegen sexueller Übergriffe erzählt hatte, war Stayja nicht gerade davon ausgegangen, dass das Mädchen log. Sie glaubte nur genau wie er, dass die ganze Situation ziemlich verworren gewesen war. Sie hatte ihn schon betrunken erlebt und wusste, wie viel die Studentinnen am Carter tranken. Möglicherweise hatte das Mädchen keinen Sex gewollt, aber sicher hatte sie Gelegenheit gehabt, sich zu wehren oder zu gehen – was sie nicht getan hatte.
«Ja, aber echt», bestätigte Nicole.
Dann schwiegen sie beide eine ganze Weile.
«Was dauert das so lang?», fragte Stayja schließlich. Als Nicole nicht antwortete, setzte sie nach: «Nicole! So schwer kann die Entscheidung nicht sein, ob du einen Stringtanga kaufen willst oder nicht.» Sie bückte sich und spähte unter der Kabinentür hindurch. Nicole stand stocksteif da und starrte auf ihr Handy.
«Wie heißt dein Freund noch mal?», fragte sie von der anderen Seite der Tür.
«Er ist nicht mein Freund», gab Stayja zurück.
«Wie ist sein Name!»
Als Stayja nicht sofort antwortete, flog die Kabinentür auf. Nicole drückte einen schwarzen Body an die Brust, dessen rechter Träger ihr von der Schulter gerutscht war. In der anderen Hand hielt sie ihr Handy.
«Ich finde, du solltest dich nicht mehr mit ihm treffen», sagte sie plötzlich sehr ernst. «Ich glaube, das ist kein anständiger Kerl.»
«Ach, bitte», erwiderte Stayja. «Zieh dich wieder an.»
«Er ist ein Vergewaltiger.»
«Das hat sie dir erzählt. Aber ich hab was anderes gehört.»
Da klappte Nicole der Mund auf.
«Gott, ich hätte geschworen, wenn eine da zweifelsfrei auf der Seite der Frau wäre, dann du!», sagte sie.
Stayja schwieg und überlegte, ob sie auch nur versuchen sollte, ihrer Cousine zu erklären, was sie darüber dachte. Ihrer Meinung nach hatte der Körper des Mannes einen eigenen, nicht zu zähmenden Willen. Das war rein biologisch. Wissenschaftlich nachgewiesen. Männer konnten nicht mal kontrollieren, wann sie eine Erektion bekamen; es floss so viel Testosteron durch ihre Adern, dass von Kontrolle keine Rede sein konnte. Wenn dieses Mädchen also zu allem ja gesagt hatte – zum Küssen, zum Ausziehen – und dann plötzlich nein – da brauchte sie sich echt nicht wundern, wenn Tylers Körper – wie jeder männliche Körper – Probleme hatte, die Spur zu wechseln.
«Ich glaube, es war ein Missverständnis», sagte Stayja. «Für mich hört es sich so an, als hätte sie zu spät einen Rückzieher gemacht. Was nicht heißen soll, dass sie gelogen hat.»
Geschockt heulte Nicole auf. «Was für ein Scheiß!»
Stayja war froh, dass sich sonst niemand in der Umkleide aufhielt.
«Ist mir doch egal, wenn er schon drinnen ist, wenn ich sag, er soll raus, dann geht er besser ganz schnell raus!», rief Nicole.
«Bist du fertig? Oder könntest du jetzt zum Ende kommen?», fragte Stayja und schaute gewohnheitsmäßig auf ihr Handy – wie viel Uhr es war, ob er geschrieben hatte.
«Ich mein’s ernst. Du musst mit ihm Schluss machen», beharrte Nicole.
«Ach ja?», gab Stayja zurück und wurde unwillkürlich lauter. «Wäre Chet, der verheiratete Verkehrsanwalt, die Art aufrechter Bürger, den du lieber mit mir sehen würdest?»
«Zumindest ist Chet kein Vergewaltiger», konterte Nicole.
«Weißt du was? Du kannst heute mit dem Bus nach Hause fahren», sagte Stayja und stürmte aus der Umkleide.
Als sie in die Einfahrt bog und langsam Schuldgefühle bekam, weil sie Nicole einfach so in der Mall zurückgelassen hatte (obwohl Chet, die angebliche Liebe ihres Lebens, sie ja abholen konnte, wenn sie nicht den Bus nehmen wollte), sah Stayja, dass LA den Rasen zwischen ihren Häusern überquerte und auf sie zukam. Er entdeckte sie im gleichen Moment und hielt einen Brief vor sein Gesicht, sodass seine Augen davon verdeckt wurden. Es war ein weißer Umschlag in normaler Größe.
Sie parkte und stieg aus dem Wagen.
«Guck mal, was aus Versehen bei uns gelandet ist», sagte er und gab ihr das Schreiben.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass ihre Post falsch zugestellt wurde. Da vor etlichen Jahren das Haus von LA und das von Stayja auf ein und demselben Grundstück gestanden hatten, unterschied sich ihre Adresse nur durch einen Buchstaben: 319A und 319B.
Sie warf einen Blick auf den Absender und schluckte: die Bundessteuerbehörde.
«Vielleicht kriegst du eine Riesenerstattung», mutmaßte LA.
«Scheiße», murmelte Stayja. Was auch immer das sein mochte, das jedenfalls war es ganz sicher nicht. Post von der Regierung war nie gut.
Sie öffnete den Umschlag und faltete das Schreiben auf.
Es war eine Zahlungsaufforderung. Über 6292 Dollar, fällig bis zum 30. Oktober.
«Verdammte Scheiße, fuck!», zischte Stayja und faltete das Schreiben wieder zusammen.
«Was ist es? Zeig mal», forderte LA sie auf.
«Nein», sagte sie und stieg in den Wagen.
«Wohin willst du?», fragte er. «Kann ich mitkommen?»
Ohne ihn zu beachten, zog sie die Wagentür zu und zündete den Motor.
Zwanzig Minuten später saß Stayja vor einer Sachbearbeiterin des Finanzamts, irritiert von dem korallenroten Lippenstiftfleck auf deren linkem Schneidezahn, und nahm deshalb leicht abgelenkt die schlimmste aller Nachrichten in sich auf: Es gab keinerlei Grundlage für einen Einspruch gegen die Zahlungsaufforderung. Stayja war sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte, aber die Frau behauptete, als Stayja angefangen hatte, am Carter College zu arbeiten, hätte sie sich der falschen Steuerklasse zugeordnet. Zur Demonstration holte die Sachbearbeiterin ein Formular heraus und tippte darauf herum, als wäre Stayja eine Idiotin.
«Sehen Sie? Das haben Sie ausgefüllt. Und hier unten bei Steuerklasse hätten Sie eine ‹1› eintragen müssen», erklärte die Frau, «aber wahrscheinlich haben Sie eine ‹3› gewählt.»
«Es hieß, man müsste eine 1 für sich selbst eintragen, noch eine 1, wenn man Single ist, und eine weitere, wenn man der Haushaltsvorstand ist. Das ergibt eine 3.»
«Ich weiß, was das ergibt», entgegnete die Frau, «aber dieser Eintrag war bei Ihnen nicht zulässig.» Ihr Ton war höflich, aber herablassend, als wäre das, was sie Stayja mitteilte, Allgemeinwissen und nicht irgendein aberwitziger, bürokratischer Unsinn. «Sie müssen es folgendermaßen sehen», fuhr die Beamtin fort. «Sie haben überhaupt keine Steuern gezahlt. Aber auch, wenn Ihr Einkommen minimal ist, meine Liebe, jedermann muss Steuern zahlen.»
«Sie behaupten also, dass ich nicht arm genug bin, weil meine behinderte Mutter nicht so viel Kosten verursacht wie fünf Kinder?», fragte Stayja mit erhobener Stimme.
Die Frau warf einen Blick zu dem Pärchen am Nebentisch und lächelte entschuldigend.
Stayja schob ihre Gehaltsabrechnung über den Schreibtisch und zeigte auf die Abzüge. «Noch einmal: Erklären Sie mir bitte, wieso ich Ihrer Meinung nach keine Steuern bezahlt habe, wenn ich hier für eine Woche vierzig Dollar abgezogen bekommen habe», forderte sie.
«Das sind keine Steuern, sondern Sozialabgaben.»
«Seit wann sind das keine Steuern?»
«Bitte nicht so laut, Ma’am. Wir haben noch andere Kunden hier.»
«Ich will keine Szene machen», sagte Stayja, «sondern nur verstehen, was da passiert ist. Ich habe die Zahlen addiert, genau, wie Sie mir gesagt haben. Diese Zahl hier und diese Zahl da. Und jetzt wollen Sie mir sagen, die Zahlen bedeuten gar nicht, was sie laut Formular bedeuten sollen, und als Folge muss ich der Regierung sechstausend Dollar zahlen, die ich gar nicht habe?!»
Die Frau seufzte. «Sie haben es eben nicht korrekt zusammengezählt. Und seit fünf Jahren keine Steuern gezahlt. Deshalb haben Sie diese Zahlungsaufforderung bekommen. Ein Teil davon sind Bearbeitungs- und Versäumnisgebühren. Aber das meiste sind Ihre Steuern.»
«Und warum ausgerechnet jetzt?», fragte Stayja. «Wenn das schon seit fünf Jahren falsch war?»
Bedächtig schüttelte die Frau den Kopf. «Die Regierung ist in diesen Dingen manchmal etwas langsam …»
«Habe ich schon gesagt, dass ich eine Ausbildung mache?», fragte Stayja. «Ich studiere. Da habe ich doch sicher Anspruch auf irgendein Darlehen.»
Die Sachbearbeiterin zog eine Augenbraue hoch. «Bei welcher Institution?»
«Am Wake Community College. Ausbildung zur Krankenschwester.»
«Mindestens in Teilzeit?»
«Was heißt das?»
«Zwei oder mehr Kurse pro Semester.»
Stayja schloss die Augen. «Nein.»
Als sie sie wieder öffnete, schüttelte die Frau langsam und mitleidig den Kopf. «Tut mir leid», sagte sie.
«Schön. Ich hätte also die richtige Zahl angeben müssen. Kann ich denn jetzt nichts mehr tun? Besteht denn gar keine Möglichkeit, diese Summe zu reduzieren?»
«Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, meine Liebe. Aber wenn man arbeitet, muss man das korrekt angeben und Steuern zahlen. Jeder muss das. Und ich bin nur ungern der Überbringer schlechter Nachrichten, aber diese Zahlungsaufforderung ist vom Bund. Wenn unser Bundesstaat irgendwann auch noch darauf aufmerksam wird, bekommen Sie eine weitere Zahlungsaufforderung.»
Stayja knallte das Espressokännchen in die Spüle und warf die Milchkanne direkt hinterher, ohne den Studenten zu beachten, der wegen des Krachs erschrocken von seinem Buch auffuhr und zu ihr herüberblickte. Sie verspürte den Drang, irgendwas kaputt zu machen, zum Beispiel den schweren Eisportionierer durch das Fenster des Cafés zu schleudern. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und barg das Gesicht in ihren Händen.
Also war es ausgeschlossen, dass sie im Frühjahr ihre Ausbildung wieder aufnahm. Oder im Sommer oder im Herbst. Diese Zahlungsaufforderung warf sie um Jahre zurück.
Stayja war kein spiritueller Mensch, war es nie gewesen: Donnas Dogma war ihr immer vernünftig vorgekommen: «Traue niemandem, der irgendwas mit deiner Seele anstellen will!»
Aber als sie jetzt im Café stand und immer wieder an das bedrohliche Schreiben in ihrer Tasche im Schrank denken musste, ertappte sie sich dabei, wie sie im Stillen um Hilfe bat: irgendjemanden, einen, der vielleicht zuhörte.
Ich schaffe es nicht mehr. Bitte.
Auf einmal ploppte ein Wort in ihrem Kopf auf, als hätte es jemand laut ausgesprochen.
Gibson.
Nach Tylers Vorschlag, sich für die verkürzte medizinische Ausbildung zu bewerben, hatte sie mehrere Tage über der Idee gegrübelt. Der Vorschlag hatte ihr geschmeichelt, schien ihr aber in vielerlei Hinsicht einfach nicht machbar: Allein die Bewerbungsgebühr von 75 Dollar war schon ein Hindernis, ganz zu schweigen von den Studiengebühren. Und dann würde sie umziehen müssen.
Umziehen. Sie konnte ihre Mutter nicht allein lassen, wenn sie also angenommen und vielleicht sogar irgendwie die Studiengebühren aufbringen würde, müsste Donna mitkommen. Zwar liebte Donna den Strand, und Gibson lag an der Küste … aber Donna würde sich niemals von Adrienne trennen. Wobei die beiden Schwestern im Augenblick nicht miteinander redeten …
Auf jeden Grund, sich nicht zu bewerben, fiel Stayja sofort ein Gegenargument ein. Natürlich konnte sie es sich nicht leisten – jetzt noch weniger als sonst. Aber wenn sie Ärztin würde, konnte sie ihren Studienkredit zurückzahlen.
Wenn du wirklich einen Kredit aufnehmen willst, dann für die Schwesternschule.
Aber irgendwas nagte und zupfte immer weiter in ihr.
Hatte sie überhaupt eine Chance, zugelassen zu werden? Eigentlich nicht, andererseits hatte sie bislang in allen naturwissenschaftlichen Kursen Bestnoten erzielt, und das Programm warb damit, auch Teilnehmer aus zweijährigen Ausbildungen aufzunehmen. Wie Tyler erklärt hatte, brauchte man für die erste Phase des Bewerbungsprozesses nur einen Aufsatz und ein Zwischenzeugnis.
Und außerdem hatte sie nie ihre Unterhaltung vergessen, die sie an einem der ersten Abende mit ihm führte: als er ihr unbeabsichtigt vermittelte, sie wäre arm, weil sie Entscheidungen träfe, die typisch für Arme wären.
So hatte er es nicht ausgedrückt, aber: War da vielleicht etwas Wahres dran?