Bea

Ende Oktober bis Anfang November

«Was für eine phantastische Gelegenheit, zu beobachten und zu reflektieren, welche Sprache Menschen verwenden, wenn sie über Gerechtigkeit reden. Vor allem angesichts Ihrer anfänglichen Bedenken wegen des Falls.»

Dr. Friedman saß Bea mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenüber. Sie befanden sich im Wohnbereich einer Suite im Carter Boathouse, dem einzigen Hotel auf dem Campus, wo er einmal wöchentlich Einzelsprechstunden mit den Justice-Program-Studierenden abhielt. Gerade diskutierten sie den Vorfall mit der Brücke. Da Tylers Fall abgeschlossen war, fungierte Bea nicht mehr als sein studentischer Beistand, aber Dr. Friedman drängte auf etwas, das er «radikale Reflexion der realen Welt» nannte. Er glaubte, dies würde dann auch zu radikaler Gerechtigkeit führen.

«Gehen Sie raus in die Welt und lernen Sie von dem, was Sie hören und sehen. Verlassen Sie sich nicht nur auf das, was Dozenten oder Bücher Ihnen sagen. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse! Wenn nötig, schreiben Sie keinen Kommentaraufsatz über Ihre Lektüre, sondern darüber.»

«Okay …», sagte sie.

«Es ist nur so, dass die Bewerbung fürs Praktikum in zwei Wochen fällig ist, und ich muss eine Hausarbeit beilegen. Aber meine Arbeit über Verteilungsgerechtigkeit gefällt mir nicht, genauso wenig wie die über Deals bei Strafverfahren … meinen Sie, ich könnte hierüber eine schreiben, die … wissenschaftlich genug ist?»

Er lächelte. «Bea, Sie sind eindeutig für dieses Praktikum qualifiziert. Keine Sorge.» Er zwinkerte ihr zu. «Aber jetzt raus mit Ihnen. Hören Sie zu. Stellen Sie sich selbst unbequeme Fragen. Gehen Sie an Ihre Grenzen.»

 

Bea las noch einmal die Gastartikel, die Leserbriefe und die unzähligen Onlinekommentare, die im Carter Chronicle veröffentlicht wurden. Sie folgte verschiedenen Diskussionen darüber und dachte über die Argumente nach. Die Gründe, warum man einen Vergewaltiger auf diese Weise ‹outen› mochte, wurden diskutiert. Heuchelei und Zensur am College. Im ganzen Land verbreitete sich der Hashtag #MeToo, und das Phänomen erreichte auch den Carter-Campus. Jemand machte Buttons, und viele Mädchen trugen sie an ihren Shirts: #MeToo. Aber über eines schienen sich alle einig zu sein: Es war nicht in Ordnung, auf die Brücke zu schreiben: TYLER BRAND = VERGEWALTIGER!!

In den sozialen Medien begannen Mädchen von überall her – die Nachricht hatte sich über das Carter hinaus verbreitet –, das unbekannte Opfer zu verteidigen.

Insgeheim hatte Annie sie beeindruckt. Bea hätte nicht gedacht, dass sie genug Mut dazu hatte.

Allgemein war man der Ansicht, die Betreffende hätte es in einem Wutanfall getan, davon zeugte das doppelte Ausrufezeichen. Konnte man #mysterygirl wirklich vorwerfen, die

Daraus entstand ein weiterer Thread namens #Weareallmysterygirl.

«So läuft es doch immer. Wir Frauen müssen ständig einstecken, einstecken und wieder einstecken, und wenn wir irgendwann ausrasten, fallen WIR aus der Rolle. Stichwort: Alles nur Einbildung», hieß es in einem Tweet.

«Wieder einmal zeigt sich, dass der Ruf eines Mannes wichtiger ist als der Wahrheitsgehalt einer Beschuldigung», twitterte eine andere.

Und schließlich: «Wir dürfen nicht vergessen: Wer auch immer sie ist, sie wurde wahrscheinlich vergewaltigt. Das sollten wir berücksichtigen, bevor wir vorschnell über sie urteilen.»

An einem kalten Montagabend im November, als die Busse nur noch vorsichtig über den Campus fuhren, weil die Straßen vereist waren, machte sich Bea auf den Weg zu einem Konferenzraum im Studentenzentrum. An der Tür hing ein Schild: «Panel zum Thema sexuelle Übergriffe». Bea trat ein und suchte sich einen Platz. Der Raum war kühl und funktional: grauer Teppich, symmetrische Reihen aus Metallstühlen, Neonlicht.

Sie zuckte zusammen, weil ihr Handy klingelte. Eigentlich hatte sie immer den Vibrationsmodus eingestellt. Sie holte das Handy aus der Tasche. Eine Nachricht von ihrem Laborpartner.

Wann holst du die Laborarbeit nach?

Dann stellte er die Diskussionsteilnehmer vor: eine Professorin für Gender Studies, einen Beamten der Campuspolizei, den Präsidenten von Sigma Chi und Annie. Bea merkte, dass auf dem Schild vor ihr der Nachname falsch geschrieben war: Annie Stodard, mit nur einem d.

«Ich möchte jetzt an Sie übergeben, Linda», sagte der Moderator.

«Danke, Kai», erwiderte die Professorin und überflog mit dem Blick die Zuhörer. «In diesem Herbst haben wir in meinem Genderseminar und in meinem Tutorium über Collegeerfahrungen, wo auch Kai ist» – sie lächelten sich zu –, «über Macht gesprochen. Institutionelle Reaktionen auf sexuelle Übergriffe werfen Fragen nach Macht auf. Ich freue mich, hier zu sein und an einer hoffentlich fortdauernden Diskussion mit der erweiterten Campusgemeinschaft teilzunehmen. Eine Diskussion, die nicht nur hier stattfindet –» Sie hob die Hände und drehte die Handflächen nach unten. «Sondern auch da draußen.» Sie drehte die Hände so, dass sie nach außen zeigten.

«Rory, du siehst aus, als wolltest du was sagen?», bemerkte Kai.

Bislang, so dachte Bea, wurde viel geklatscht, aber nicht viel gesagt. Sie konnte sich vorstellen, dass Dr. Friedman angesichts der Substanzlosigkeit, die von Beginn an geherrscht hatte, ziemlich ungeduldig geworden wäre.

«Annie», sagte Kai. «Möchtest du vielleicht den Anfang machen? Wir würden gern von dir hören, welche Erfahrungen du mit der Campusverwaltung gemacht hast. Wenn es dir nicht zu unangenehm ist, erzähl uns bitte davon.»

«Tja, also, ich glaube …», setzte Annie an und hielt dann inne. Sie erschien Bea sehr nervös. «Ich glaube, dieses Panel ist ein Beispiel dafür, was hier schiefläuft.»

Wieder hielt sie inne. Im Raum war es still, außer ein paar murmelnden Stimmen hier und da.

«Mit wem reden wir?» Annie wies auf das Publikum. «Diese Menschen hier sind nicht das Problem. Nein, es sind die Verbindungsstudenten, mit denen wir dringend über Vergewaltigung reden müssen. Ich glaube, die müssen zur Verantwortung gezogen werden.»

Als sie das Wort ‹Vergewaltigung› aussprach, spürte Bea, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte.

«Annie», sagte Linda in gekünstelt sanftem Tonfall. «Du hast recht, es ist wichtig, ein breites Spektrum von Menschen in diese Diskussion miteinzubeziehen. Genau das meinte ich eben. Dennoch möchte ich, dass wir vorsichtig mit Aussagen darüber sind, wer was tut oder braucht. Die Sprache, die wir

Der Präsident von Sigma Chi lehnte sich vor, um etwas zu sagen; dabei stützte er sich mit den Ellbogen auf den Tisch, der unter dem Druck knackte. «Ich möchte nicht missverstanden werden, aber ich glaube, in diesem Panel geht es um Ehrlichkeit. Daher muss ich ehrlich sagen, ich glaube, das Problem ist komplexer.»

«Inwiefern?», fragte Kai aufmunternd.

«Also gut: Wenn dir dein Kumpel was beichtet, was ihm irgendwie unangenehm ist, an das er sich aber nicht mehr richtig erinnert, weil er was getrunken hat und so weiter. Wenn er dir davon erzählt, ist es deine Aufgabe, ihm Rat zu geben und so weiter, aber ich weiß nicht, ob es deine Aufgabe ist, ihn zu melden. Das wäre unrealistisch. Und ich glaube, wir werden erst was ändern können, wenn wir anerkennen, dass man als Freund oft in einer schwierigen Lage ist.»

Die Zuschauer blieben ruhig, aber einige nickten nachdenklich.

«Danke, Rory», sagte Kai. Zwei Reihen vor Bea schoss eine Hand in die Höhe.

«Ich habe eine Frage an Linda. Meinen Sie, dass auch Jungs Opfer sein können? Oder meinen Sie, wir sollten bei sexuellen Übergriffen auf geschlechterspezifische Sprache verzichten? Das wären dann zwei verschiedene Dinge.»

«Ich meine eigentlich beides …» Die Professorin wechselte in den Vorlesungsmodus, und Bea dachte über das nach, was der Präsident der Studentenverbindung gesagt hatte. Darauf war nicht besonders eingegangen worden, aber ihr kam das ziemlich wichtig vor. Er hatte gesagt, dass niemand seinen Freund anzeigen würde. Aber wenn die Menschen keine Verantwortung für ihre Freunde übernahmen und alle der

«Officer Hal», sagte Kai, als die Professorin mit ihrem Redebeitrag fertig war. «Von Ihnen haben wir noch gar nichts gehört.»

Officer Hal räusperte sich. «Alles in Ordnung, Miss?», fragte er leise und blickte zu Annie. Zwar flüsterte er fast, aber wegen des kleinen Mikrofons vor seinem Gesicht konnten es alle hören.

«Eigentlich nicht», antwortete sie leise, aber durch das Mikrofon konnten auch sie alle hören. Und dann, als würde sie alle Kraft zusammennehmen, erklärte sie: «Wissen Sie, das Schlimmste an dem Ganzen waren so Dinge wie die hier. Als ich die Fallentscheidung bekam, stand darin, ich sei vielleicht verwirrt gewesen, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben selbstbewusst wegen meines Aussehens gewesen wäre. Das stand in dem Bericht! Als wäre es in Ordnung, das überhaupt zu erwähnen! Und hier, wie soll ich mich hier fühlen? Man behandelt mich wie eine Verrückte, bloß weil ich sage, was ich denke!»

Bea stockte der Atem.

«Sie sind nicht verrückt», versicherte Linda eilig. «Das sind Sie nicht.»

«Wir glauben dir, Annie», bekräftigte Kai. «Du bist hier, weil wir dir glauben. Wir respektieren dich und möchten deine Erfahrungen hören.»

Der nun folgende Applaus war anders: Diesmal steckte Herzblut dahinter. Einige Zuschauer riefen: «Wir glauben dir!» Bea klatschte nur ein-, zweimal, weil sie ein hohles Gefühl im Bauch spürte.

«Danke», sagte Annie leise.

Dann meldete sich Officer Hal: «Also, jetzt bin ich wohl

Während er sprach, stand Bea leise auf und eilte hinaus.

 

Auf dem Weg zur Bushaltestelle wurde ihr plötzlich klar, was sie brauchte: Alkohol. Wen kannte sie, der Alkohol besorgen konnte?

Chris.

Hast du Zeit?, schrieb sie ihm. Kurz darauf stand sie vor seinem Minikühlschrank und hatte zwei Schnapsgläser in der Hand, die sie darauf entdeckt hatte.

«Bist du sicher? Shots an einem Donnerstag um …» Er warf einen Blick auf die Uhr. «… halb neun?»

«Ja, ganz sicher. Wieso auch nicht?», erwiderte sie.

Er schenkte Wodka aus, sie zählte herunter, und beide kippten erst einen Shot und dann noch einen.

Zu ihrer Erleichterung nahm Chris ihr die Entscheidung ab, was als Nächstes kam. Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa, und er zeigte ihr seine Lieblingssketche auf YouTube. Nach etwa einer Stunde fühlte sie sich so beschwipst, dass sie sich an seine Schulter lehnte.

Er hielt sie mit seiner Hand auf Abstand.

«Was ist los?», fragte er. «Alles in Ordnung?»

Sie nickte.

Ihr Blick fiel auf eine Zimmerecke, wo ein paar Staubmäuse vom Gebläse der Heizung zitterten.

«Willst du darüber reden?», fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

«Darf ich raten?»

Sie zuckte die Achseln.

«Ist jemand gestorben?»

Sie holte tief Luft. «Kennst du das Gefühl, jemand, den du schätzt, wäre von dir enttäuscht, wenn er wüsste, was du tust?»

«Na klar», sagte er.

Derart ermutigt, fuhr sie fort: «Ich war der studentische Beistand für diesen Jungen, der wegen Vergewaltigung angeklagt worden ist, und hab ihm, also, ich hab ihm Vorschläge gemacht, wie man den Charakter des Mädchens in zweifelhaftem Licht dastehen lassen konnte. Die hat er umgesetzt. Und das Mädchen hat diese Sachen gelesen, weil sie im Fallbericht waren. Eben hat sie bei einer Veranstaltung darüber geredet, welche Gefühle das in ihr ausgelöst hat. Und jetzt … jetzt fühle ich mich wie ein Riesenarschloch.»

«Warum hast du es denn getan?», fragte er.

Sie zuckte die Achseln. «Weil ich sein studentischer Beistand war und ihm so gut wie möglich helfen sollte.»

Chris dachte darüber nach. «Dann wäre derjenige, von dem du eben gesprochen hast, vielleicht gar nicht enttäuscht von dir. Schließlich hast du nur deine Aufgabe erfüllt.»

«Können wir einfach weitergucken?», fragte sie und zog die Knie zur Brust.

«Klar», antwortete er und machte lauter.

 

Als ein neuer Song begann, blieb Bea abrupt stehen und suchte in ihrer Tasche hektisch nach dem Handy. ‹Run to You› ging jetzt einfach gar nicht. Ihre Finger ertasteten die Brieftasche, die Schlüsselkarte, einen Tampon, einen Labello, aber nicht ihr Handy, während Whitney die ersten Verse ihres Lieds sang. Als sich Beas Hand endlich um das Telefon schloss, war es zu spät. Sie ließ sich auf den Bordstein sinken und spürte, wie ihr die Tränen kamen.

2009, als Bea zehn Jahre alt war, hatte Whitney gerade ein neues Album herausgebracht und warb dafür in Good Morning America. Bea und ihre Mutter gingen die zwei langen und sechs kurzen Blocks von ihrer Wohnung zum Central Park, um mitzukriegen, wie die Legende ihr neues Album vorstellte. Kurz bevor sie den Titelsong ‹Run to You› anstimmte, widmete Whitney ihn ihrer Mutter, die unter den Zuschauern war.

«Das ist meine Mutter, Leute!», rief sie laut, und alle jubelten. Dann sagte sie heiser: «Ich versuch’s mal.» Bea erinnerte sich, dass sie gedacht hatte: Wieso versuchen, natürlich kann sie es. Sie ist doch Whitney Houston.

Dann sang sie, und während sie zuhörten, blickte Bea zu ihrer Mutter auf und sah, dass sie weinte. Das war das erste und das letzte Mal, dass sie Phaedra weinen sah. Nach dem

«Weil sie innerlich zerbrochen ist», erklärte ihre Mutter. «Ihre Stimme ist zerstört.»

Bea wusste noch, dass sie das verwirrt hatte, weil ihr das ganz und gar nicht so vorgekommen war.

Drei Jahre später starb Whitney Houston, und Bea und ihre Mom sahen sich die Beerdigung im Fernsehen an. Da weinte ihre Mutter nicht. Und vier Jahre danach, nach Phaedras Beerdigung, entdeckte Bea das Video dieses Konzerts, das sie gemeinsam im Park gesehen hatten, auf YouTube.

Als sie es in der Trauer um ihre Mutter hörte, war ihr mehr als deutlich, was Phaedra gemeint hatte. Als Kind hatte sie es nicht begreifen können, aber irgendwo zwischen neun und sechzehn, irgendwo in der Spanne, als sie noch eine Mutter hatte und dann verlor, hatte Bea zu hören gelernt, wann jemand innerlich zerbrochen war.

Mit der Tasche auf dem Schoß saß sie in der Dunkelheit auf dem Bordstein und lauschte der makellosen Aufnahme des Songs, den sie und ihre Mutter live, brüchig und rau gehört hatten.

Mache ich einen Fehler, Mom?, flüsterte Bea. Bin ich ein schlechter Mensch?